Zeitschrift-Artikel: Unterschiede unter Geschwistern... wie soll man damit umgehen? (Folge 1 )

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Titel: Unterschiede unter Geschwistern... wie soll man damit umgehen? (Folge 1 )
Typ: Artikel
Autor: J.G. Fijnvandraat
Autor (Anmerkung): aus: Bode van het Heil in Christus, Jg. 1994, S. 60ff., Übersetzung: Ralf Müller

online gelesen: 1991

Titel

Unterschiede unter Geschwistern... wie soll man damit umgehen? (Folge 1 )

Vortext

Text

Über dieses Thema wurde schon öfter geschrieben. Dennoch möchte ich diese Frage noch einmal beleuchten, weil dazu Fragen gestellt wurden. Zu diesem Zweck möchte ich darauf etwas ausführlicher und tiefgehender eingehen. Ich denke dabei an die folgenden Aspekte:

-        Unterschiede gibt es, sie müssen aber nicht immer "beseitigt" werden;

-        Unterschiede können zur Gruppenbildung führen, das ist aus dem Bösen;

-        Arten von Unterschieden, die die Bibel erwähnt;

-        Unterschiede im persönlichen Bereich, Unterschiede im gemeinsamen Bereich.

Es darf sie nicht geben ...

Obwohl die Überschrift nicht über "Differenzen", sondern über "Unterschiede" unter Geschwistern spricht, kann ich mir vorstellen, daß einige Geschwister beim Lesen der Überschrift eine Reaktion im Sinne von "es dürfen aber unter Geschwistern überhaupt keine Unterschiede bestehen!" bei sich bemerken. Ehrlich gesagt, ich merke auch bei mir so etwas. Unterschiede ... das klingt so negativ, fast feindselig. Außerdem steht doch in Philipper 2, daß Gläubige einerlei gesinnt sein müssen, einmütig sein müssen, usw. Also: fort mit den Unterschieden; so lange sprechen, bis alle über alles genau gleich denken ...? Ich glaube, daß wir alle zögern werden, diese Konsequenz zu ziehen. Wäre es wohl so fruchtbar für unser Gemeindeleben, wenn wir über alles gleich dächten? Das setzt nicht beiseite, daß wir die Schrift wohl gebrauchen dürfen, um zu belehren und zu verbessern. Aber 2Tim 3, 16b würde jeden Sinn verlieren, wenn es per Definition keine Unterschiede geben dürfte.

Unterschiede, die nicht annehmbar sind, und solche, die es wohl sind.

Doch wir müssen schon hier einen Unterschied machen. In der Bibel macht Gott uns mit Seinen Gedanken vertraut. Er gibt bestimmte moralische Vorschriften. Er stellt uns wichtige Grundsätze vor. In diesem Bereich sind Meinungsunterschiede nicht tragbar. Die Bibel sagt, daß wir einander lieben sollen. Nun, kein einziger Christ darf sich die Freiheit vorbehalten, anders darüber zu denken und zu sagen: "Aber das gilt nicht im Blick auf Bruder 'Mürrisch¸". Für den kann ich kein bißchen Liebe aufbringen." Es gibt andererseits aber auch Dinge, bei denen Gott es unserem persönlichen Gewissen und unserer persönlichen Überzeugung überläßt, wie wir handeln. Dabei kann es geschehen, daß der eine Bruder so handelt, und der andere anders. Mit diesen Unterschieden müssen wir leben können. Aber gerade damit haben wir manchmal sehr große Mühe. Das kommt daher, daß wir es nicht haben können, daß jemand in einem bestimmten Fall eine andere Entscheidung trifft als wir. Ich werde das noch an der Frage des Essens von Fleisch deutlich machen. Für den Augenblick sage ich nur, daß es Unterschiede in Auffassungen gibt, die vor Gott annehmbar sind. Dann müssen sie es auch für uns sein. Und wenn wir Mühe damit haben, diese Tatsache anzunehmen, dann müssen wir uns eine dreifache Lektion zu Herzen nehmen.

Wäre es fruchtbar für unser Gemeindeleben, wenn wir über alles gleich dächten?

Drei Lektionen

Laßt uns zuerst eine Lektion aus der Natur lernen. Die Natur ist unwahrscheinlich artenreich. Keine zwei Planzen, Tiere oder Menschen sind genau gleich.. An einem Baum sind keine zwei exakt gleichen Blätter. Genau betrachtet weisen sie bestimmte Unterschiede auf. Selbst das Gesicht eines Menschen besteht nicht aus zwei "gleichen" Hälften, es ist niemals vollständig symetrisch. Gott hat die Dinge, Tiere und Menschen unterschiedlich gemacht Nun kann man sagen, daß es diese Variation ist, die bereichernd wirkt, aber untereinander sind sie doch unterschiedlich. Die Unterschiede bestehen nicht allein in der äußeren Form, sondern auch in der Handlungsweise.

Die zweite Lektion ziehen wir aus der Praxis der menschlichen Gesellschaft. Wir sehen, daß die Menschen sich in ihrer Erlebniswelt unterscheiden. Musik, die der eine schön findet, sagt dem anderen nichts. Was Hans zur eigenen Freude tut, empfindet Peter als eine öde Beschäftigung. Einer findet stricken schön, ein anderer stickt lieber. Nun sind das unschuldige und tatsächliche Unterschiede. Dennoch sind es Unterschiede, mit denen wir normal leben (so gehört es sich).

Die dritte Lektion entnehmen wir der Schrift. Wir lesen im Brief an die Römer, daß Paulus zwischen "schwachen" und "starken" Gläubigen unterscheidet. Wir bemerken, daß Gläubigen aus den Nationen nicht dieselben Verhaltensmaßstäbe gegeben wurden wie die, an die die jüdischen Christen sich hielten (Apg 15). Offenkundig hatte Paulus mit Apollos eine Meinungsverschiedenheit über dessen Abreise nach Korinth (1Ko 16,12). Solche Unterschiede werden in der Schrift nicht verurteilt. Wohl können sie, wenn damit nicht richtig umgegangen wird, zum Wirken des Fleisches Anlaß geben. Wir sehen das in der Beziehung zwischen Paulus und Barnabas. Es gibt zwischen ihnen eine Meinungsverschiedenheit über die Mitnahme von Markus auf der zweiten Missionsreise. Leider führte das zur Verbitterung, und das ist verkehrt, wobei ich offen lasse, wer hieran die Schuld trägt. Zusammenfassend können wir sagen: Es gibt Unterschiede unter Gläubigen, sie müssen nicht sündig sein und wir werden nicht aufgerufen, alle Unterschiede auszumerzen. Aber wir müssen gut damit umgehen, damit nicht Zwist und Spaltung entsteht.

Aber was ist dann mit Philipper 2, 2?

Wie sieht es dann mit Philipper 2,2 aus, wo Paulus uns vorschreibt, einerlei gesinnt zu sein? Ich gehe gerne darauf ein, denn hieran wird deutlich, wie einfach Unterschiede in der Auslegung eines Verses entstehen können. Unterschiede, mit denen wir manchmal so furchtbar schwer leben können.

Unterschiede in der Auslegung entstehen u. a. dadurch, daß wir etwas lesen und unmittelbar zu wissen meinen, was die Absicht des Schreibers ist. So ergeben sich Auslegungen "vom Gefühl her" ohne daß dem Zusammenhang ausreichend Rechnung getragen wurde. In Philipper 2, 2 steht nach "einerlei gesinnt zu sein" der Ausdruck "dieselbe Liebe habend". Darauf folgt "einmütig, eines Sinnes". Es geht also nicht darum, daß wir bezüglich aller Dinge dieselbe Meinung haben, sondern daß wir einmütig in Liebe dem "einen" Ziel nachstreben. Vers 3 unterstützt diese Auslegung, denn dort steht das Entgegengesetzte, nämlich: Handeln aus Parteisucht oder eitlem Ruhm ... auf das eigene sehend.

Aufgrund von Philipper 2, 2 können wir also nicht sagen, daß Unterschiede im Denken für sich genommen böse und Auswirkungen des Fleisches sind. Die Frage ist lediglich, wie wir mit diesen Unterschieden umgehen. Und es ist ein klar fleischliches Handeln, wenn die Unterschiede zur Parteibildungführen. Dannbildet sich eine "linke" und eine "rechte" Partei; eine "konservati-ve" und eine "progressive" Partei, die sich voneinander abheben. Wenn wir so handeln, dann ist ganz kräftig das Fleisch am Werk Parteibildung ist im Widerstreit mit der Unterweisung der Schrift (Gal 5, 20).

In der Bibel wird von Gläubigen als von Kinder Gottes gesprochen, die einen großen Familienkreis bilden. Wir sind alle eins in Christus, alle auf dieselbe Weise mit Ihm und dadurch miteinander verbunden. Parteibildung steht dazu im Widerstreit Wo sie auftritt ist man nicht mehr einerlei gesinnt.

Es gibt Unterschiede unter Gläubigen, sie müssen nicht sündig sein und wir werden  nicht aufgerufen, alle Unterschiede auszumerzen.
Aber wir müssen gut damit umgehen, damit nicht Zwist und Spaltung entsteht Keine Einheitlichkeit.

Das Obenstehende bedeutet also keinesfalls, daß keine Unterschiede unter den Kindern, den Schafen, den Priestern, den Gliedern des Leibes und den Angehörigen des Volkes bestehen. Wie langweilig wäre es ja auch sonst! Man stelle sich vor: alles eineiige Zwillinge, alle dasselbe Modell von Schafen, alle Priester mit derselben geistlichen Gestalt, alle kleine Finger, Daumen oder Gedär-me des Leibes, alle dieselben "Marsmännchen". Alle Gläubigen mit demselben Äußeren, demselben Gang, denselben Lauten und dergleichen mehr. Nein, so ist es glücklicherweise nicht. Wenn man sie hört, ist es kein eintöniger Einheitsgesang . Wohl aber eine Einheit, eine Harmonie bei allen bestehenden Unterschieden. Das ist auch ein Ausgangspunkt, den wir niemals aufgeben dürfen. Unser gesamtes geistliches Leben und unser Umgang miteinander hat damit zu tun.

Unterschiede anderer Art

Die Schrift erwähnt auch andersartige Unterschiede, wie den zwischen einem "starken" und einem "schwachen" Gläubigen. In Rö 14, 1 - 15, 7 tritt der Unterschied zwischen beiden dadurch hervor, daß der Starke alles ißt, der Schwache aber nur Gemüse. In 1Ko 8, 1 - 13 geht es um das Essen oder Nichtessen von Opferfleisch.

Dieser Unterschied zwischen "schwachen" und "starken" Gläubigen ist nicht natürlicherweise einer der Darstellungsversuche der Gemeinde zuzurechnen. Um das zu sehen, müssen wir dem nachgehen, was die Schrift in diesem Zusammenhang mit "schwach" und "stark" meint. Der "schwache" Gläubige ist schwach im Glauben. Während der Starke meint, alles essen zu dürfen, wagt der Schwache es gerade, Gemüse zu sich zu nehmen (Rö 14, 1). Dieser Unterschied in der Glaubensüberzeugung hängt eng zusammen mit einem Unterschied in Einsicht oder Erkenntnis. Das wird in 1Ko. 8 deutlich. Dort handelt es sich um einen Unterschied der Einsicht in das, was eigentlich hinter dem Opferfleisch steckt. Der Apostel läßt durchscheinen, daß der "Starke" im Glauben die rechte Einsicht hat (1Ko 8, 7).

Darum kann der starke Gläubige mit einem freien Gemüt, mit einem unbelasteten Gewissen Opferfleisch essen. Dem "Schwachen" im Glauben fehlt diese Sicht auf die Frage und er würde sein Gewissen belasten, wenn er Opferfleisch äße.

Das Gewissen eines schwachen Gläubigen wurde auch als "schwach" bezeichnet (s. V. 7, 10, 12). Das beinhaltet, daß ein solcher Gläubiger meint, daß das Essen von Opferfleisch sündig ist, davon aber nicht absolut überzeugt ist. Dadurch ist er nicht in der Lage, einen starken Willensentschluß zu fassen, niemals mehr Opferfleisch zu essen. Wenn er einen "starken" Bruder Opferfleisch essen sieht, ist er leicht geneigt, das auch zu tun (V. 10). In diesen Sachen ist er also auch schwach in bezug auf seinen Willen. Er läßt sich sehr leicht in bezug auf sein Gewissen überrumpeln.

Paulus spricht auch darüber

Paulus argumentiert den Unterschied nicht dadurch weg, daß er dem "Schwachen" im Glauben seine Überzeugung nicht gönnt und ihn mit aller Überzeugungskraft zu einem Starken umformen möchte. Nein, er läßt den Unterschied weiterbestehen, gibt aber einen wichtigen Hinweis. Er warnt den "Starken" davor, den "Schwachen" etwa gering zu schätzen. Den "Schwachen" warnt er seinerseits davor, den Starken zu (ver)urteilen. Noch einmal: Er rät nicht, daß der eine den anderen mit Macht und Gewalt zu seinem eigenen Standpunkt herüber-zieht. Sie müssen einander in liebe annehmen und den jeweiligen Unterschied in der Auffassung ertragen.

Nun haben wir es mit derselben Art von Fragen zu tun, wenn auch in folgender Form: Darf man eine Versicherung abschließen? Darf man homöopatische Mittel gebrauchen? Darf man . . usw.? Wie leicht verurteilen oder verachten wir einander in derartigen Dingen. Konkretes Beispiel: Ein Bruder und eine Schwester sind dagegen, daß ihre Töchter eine Hose anstelle eines Rocks tragen. Sie bekommen mit, wie jemand seine "Geringschätzung" darüber zeigt. Ein anderes Beispiel zum Kontrast: Ein Bruder kündigt an, daß Schwestern, die anders darüber denken, zu ihm kommen müßten, damit er ihnen dann aus der Schrift aufzeige, wie sündig sie handeln, wenn sie eine Hose anstelle eines Rocks tragen. Sein Ton und sein Verhalten sind "verurteilend". Darf man über derartige Dinge dann nicht mehr sprechen? Natürlich darf man das, aber dann in Liebe. Und laßt uns dann zunächst einmal fragen, welchen Grund der andere für sein Verhalten hat. Laßt uns dann auch offen sein für die Frage, ob wir unsere Argu-mente sorgfältig der Bibel entnommen haben. Und wenn der andere ehrlich entsprechend seiner Gewissensüberzeugung handelt, dann müssen wir ihn darin ertragen.

(wird fortgesetzt)

Einheit unter Gläubigen ist eine Harmonie bei allen bestehenden Unterschieden. Das ist auch ein Ausgangspunkt, den wir niemals aufgeben dürfen.

Paulus rät nicht, daß der eine dem anderen mit Macht und Gewalt zu seinem eigenen Standpunkt herüberzieht Sie müssen einander in Liebe annehmen und den jeweiligen Unterschied in der Auffassung ertragen.

Nachtext

Quellenangaben