Zeitschrift-Artikel: Man hielt mich für einen Verräter

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Titel: Man hielt mich für einen Verräter
Typ: Artikel
Autor: Nurlan Tuleuow
Autor (Anmerkung):

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Titel

Man hielt mich für einen Verräter

Vortext

Text

1963 erblickte ich in Aralsk am Aral-See das Licht der Welt. Meine frühe Kindheit verbrachte ich in einer Umgebung, die durch bekannte ökologische Probleme geprägt war. Alle meine Verwandten hatten mit der Fischerei zu tun, aber wegen der nun wachsenden Armut zogen wir bald nach Tschimkent, wo ich später auch studierte und Ingenieur für Klimatechnik wurde. Als Kasache bin ich erwartungsgemäß in einer moslemischen Familie aufgewachsen. Meine Mutter gehörte einer Gruppe Moslems an, die besonders streng war und aus der eine Anzahl moslemischer Geistlicher hervorgegangen ist. Während meiner Kindheit, als der Kommunismus noch das Land beherrschte, wurden zu Hause die Fenster verhängt und fünfmal am Tag gebetet. Vater nahm es nicht so ernst mit der Religion. Er bekannte sich als Kommunist und so begann auch ich meine Laufbahn als „Enkel Lenins“, dann als Pionier und schließlich als Komsomol. 1982 musste ich eine Arbeit über Lenin schreiben und so vertiefte ich mich in die Briefe Lenins, was in mir aber nur eine Ablehnung seiner Person und seiner Ideologie auslöste. Daher war ich als junger Student weder überzeugter Moslem noch eifriger Kommunist und fragte mich mehr und mehr, worin der Sinn meines Lebens liegen könnte. Obwohl ich eine Menge Freunde hatte und sportlich aktiv war – Boxen war mein Lieblingssport – plagten mich ein Jahr lang Selbstmordgedanken. Im Sommer lag ich vier Wochen apathisch fast nur im Bett – es war eine schreckliche Zeit! Dann lernte ich Aischan kennen, die meine Frau wurde und mit der neuer Lebensmut in mein Leben trat. Sie hatte Musik studiert und arbeitete nach unserer Hochzeit als Pianistin an der Hochschule; während ich als Lehrer in einer Schule unseren Lebensunterhalt zu verdienen suchte. Doch das war damals Anfang der 90er Jahre nicht so leicht. Mit der Perestroika kehrte auch die Arbeitslosigkeit in Kasachstan ein, die Löhne sanken und oft wurden sie nicht bezahlt. So begannen wir einen Handel mit Wodka, Fleischwaren und später Textilien und vor allem mit Gold und Silber. Eine Zeit lang flog meine Frau regelmäßig in die Türkei, um dort Gold, Silber und Schmuck zu kaufen und dann diese Waren den kasachischen Frauen anzubieten. Das war für uns ein gutes Geschäft, denn Schmuck spielt im Leben der kasachischen Frauen eine wichtige Rolle.

Kasache und Christ?

In dieser Zeit lernte ich zum ersten Mal einen Kasachen kennen, der Christ geworden war. Ich war inzwischen in meiner Umgebung manchen Christen begegnet, aber das waren Russen, die in einem „Bethaus“ zusammen kamen. Und solche Christen hatten für diesen Kasachen gebetet, als er sehr krank war. Tatsächlich wurde er gesund und bekehrte sich zu Jesus Christus. Er war noch ziemlich abgemagert von seiner Krankheit, als ich ihn besuchte und mit Fragen löcherte: „Wirst du unter den Kasachen als Christ leben? Wirst Du deine Söhne beschneiden?“ und schließlich: „Wo wird man dich beerdigen – zwischen den Russen (Christen) oder den Kasachen (Moslems)?“ Er konnte mir keine Antworten auf meine Fragen geben und er war auch nicht in der Lage, mir das Evangelium zu erklären. Er wusste damals nur, dass Gott einen Sohn hat und das dieser auf Golgatha für unsere Sünden gestorben ist. Ich spottete: „Wenn Gott einen Sohn hat, dann zeige ihn mir!“ Seine Antwort: „Ich weiß nicht viel, aber ich weiß, dass Jesus mich gerettet hat und das ich jetzt lebe!“ Die Jahre vergingen und bald hatte ich diese Begegnung vergessen. Doch dann kam meine Frau durch ihre eigene Schwester zum Glauben an Jesus Christus. Aus Angst vor meiner Reaktion hatte sie mir das verschwiegen und ich erfuhr davon erst zu einem Zeitpunkt, an dem es mir nicht gut ging.

Aischan geht eigene Wege

Ich stand vor einer schweren Operation in Astana, der jetzigen Hauptstadt Kasachstans. Ich wusste, dass es sich hier um eine sehr ernste Sache handelte und wollte vorher mit Allah ins Reine kommen. Allerdings hatte ich kein Verlangen in die Moschee zu gehen, weil ich wusste, dass der Mullah mir nur gegen Geld den Segen Gottes zusprechen würde. Zu diesem Zeitpunkt machten sich gerade Aischan und ihre Schwester fertig, um in die Stadt zu gehen. Ich fragte sie: „Wohin geht ihr?“ Ihre Antwort: „In ein Bethaus. Jemand hat Geburtstag und wir sind eingeladen worden mitzufeiern.“ Sie baten mich um Erlaubnis und ich entschied mich spontan, sie zu begleiten – von Neugierde und Sorge getrieben. Bis dahin wusste ich noch nichts von ihrer Bekehrung. Das Gebetshaus sah von außen ziemlich schäbig aus und es waren nur wenige Leute da – meist ältere Frauen. Doch obwohl sie mir völlig unbekannt waren, nahmen sie mich sehr herzlich auf. Sie strahlten eine Freude und Freundlichkeit aus, die ich bisher nicht kannte und als sie ihre schlichten Lieder sangen und Gott lobten, musste ich plötzlich weinen. Ich schämte mich, verließ den Raum und fragte mich: „Was sind das für Leute? Warum habe ich solche Menschen bisher noch nicht getroffen? Auf dem Tisch haben sie nur Tee und ein kleines Stück Kuchen. Trotzdem sind sie glücklich. Was ist das Geheimnis ihrer Zufriedenheit, die mir fehlt?“ Ich ging wieder hinein und wurde wieder von Tränen überwältigt, als Nikolaj auf mich zu kam und mir einige Dinge über den Glauben an Christus erklärte. „Ich glaube, du solltest beten!“, meinte er abschließend. Als ich ihn fragte, wozu das gut sein solle und wie das geht, meinte er: „Deine Seele schreit nach Gott und du darfst ihm dein Herz ausschütten!“ „Ich kann nicht beten. Betest du für mich?“, war meine Antwort. Das tat er und ich schloss mich in meinem Herzen seinem Gebet an.

Am Rand des Todes

Wenige Tage später lag ich im Krankenhaus und wurde operiert. Danach ging es mir sehr schlecht, ich konnte weder essen noch trinken und hing an vielen Schläuchen. Am fünften Tag kam der Professor und fragte mich: „Glauben Sie an Allah?“ Als ich bejahte, meint er: „Waren Sie in der Moschee und haben Sie ein Opfer gebracht? Sie müssen jetzt an Allah glauben, nur er kann Sie retten!“ Mir wurde klar, dass es schlecht um mich stand. Am siebten Tag hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen und war nicht mehr in der Lage, meinen Kopf zu heben. Nur die Hände konnte ich bewegen und mit der einen Hand hing ich am Tropf und in der anderen Hand hielt ich ein Neues Testament, das man mir geschenkt hatte. Ich versuchte darin zu lesen, aber ich war zu schwach. Als man meiner Frau sagte, sie solle nach Hause gehen, weil man mir wohl nicht mehr helfen könne, verließ sie weinend das Krankenzimmer. Ich war sicher, dass ich sterben würde und überlegte, bei wem ich vor meinem Tod noch um Vergebung bitten sollte. Mir wurde klar, dass ich vor allem Gott um Vergebung bitten sollte. Der Drang zu Gott zu beten wurde so groß, dass ich mich mit letzter Kraft aus dem Bett wälzte, um mich zum Gebet niederzuknieen. Dabei rissen alle Schläuche ab, aber das war mir egal. Doch dort auf den Knien brachte ich es nicht fertig, Gott meine Sünden zu bekennen und fiel in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, überfiel mich erneut die Angst, sterben zu müssen. Ich dachte an meine Frau und an unsere beiden Kinder und betete: „Gott, vergib mir meine Schuld und wenn du willst, dann rette mich!“ Nach diesem kurzen Gebet spürte ich die Gegenwart Jesu und mir wurde plötzlich überwältigend klar, dass er nicht nur ein Prophet ist, wie es im Koran steht, sondern dass er der Sohn Gottes ist und das er lebt. Als ich Gott in meiner Not anrief, offenbarte er mir nicht Mohammed, sondern Jesus Christus! In meinem Inneren betete ich: „Ja, ich glaube, dass du der Sohn Gottes bist“ – und in diesem Moment nahm ich seinen Opfertod am Kreuz für mich an. Das geschah am 14. September im Jahr 1997. Nachdem ich gebetet hatte wurden meine Schmerzen zunächst noch unerträglicher, aber dann verschwanden sie plötzlich und ich fühlte mich so erleichtert und gestärkt, dass ich aufstand, einige Schritte umherging, mich wieder hinlegte und einschlief. Am nächsten Morgen standen die Ärzte an meinem Bett, riefen noch weitere herzu und fragten: „Wie ist das möglich? Was ist in dieser Nacht passiert?“ Als ich den Ärzten erzählte, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, meinten sie: „Es ist ein Wunder geschehen. Diese Besserung ist medizinisch nicht zu erklären!“

Ausgestoßen

Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, besuchten mich meine Verwandten. Sie waren sehr erfreut das ich noch lebte. Als ich ihnen dann meine Bekehrung zu Jesus Christus bezeugte, akzeptierten sie das zunächst. Als sie aber erfuhren, dass ich in eine christliche Gemeinde ging, war es mit der Toleranz vorbei. „Glaube doch zu Hause und schweige davon in der Öffentlichkeit!“ „Das kann ich nicht. Der Sohn Gottes hat mich gerettet und ich möchte ihm jetzt dienen. Ich kann Gott und Euch nicht betrügen. Ich werde weiter in die Versammlungen der Christen gehen.“ „Wenn Du Dich nicht von Jesus lossagst, dann wirst Du kein Haus, keine Frau, keine Kinder mehr haben. Wir lassen nicht zu, dass du in dieser Stadt bleibst!“ Ich blieb standhaft, sie aber auch – sie machten ihre Drohung wahr und warfen mich buchstäblich aus dem Haus. Da stand ich nun im Dezember in bitterer Kälte auf der Straße – ohne eine Jacke. Ich dachte an den Vers in der Bibel, in dem wir aufgefordert werden uns zu freuen, allezeit zu beten und dankbar zu sein. „Wo ist hier ein Grund zur Freude?“, dachte ich, „hier stehe ich ausgestoßen und friere!“ Aber dann kamen mir die Worte Jesu ins Gedächtnis: „So wie sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“ Ich fiel auf die Knie und betete: „Herr, du hast vor 2000 Jahren vorausgesagt, dass deine Jünger um deines Namens willen gehasst werden. Du weißt, sie haben mich rausgeworfen und alles genommen. Hilf mir, Herr!“ Danach machte ich mich zu Fuß auf den langen Weg zu Nikolaj. Am nächsten Morgen kamen mir große Zweifel. Vor einigen Tagen noch hatte ich Frau und Kinder, war wohlhabend und bei Freunden und Verwandten angesehen. Heute saß ich in einer fremden Wohnung und weinte. Auf dem Tisch lag eine große Bibel. Ich schlug sie auf und mein Blick fiel auf Jesaja 41, wo ich die Worte las: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir. Schaue nicht ängstlich umher, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir, ja, ich halte dich mit der Rechten meiner Gerechtigkeit.“ Von diesen Worten überwältigt fiel ich auf die Knie und betete: „Herr, vergib mir, dass ich in dieser Stunde der Prüfung schwach und unzufrieden geworden bin!“

„Man kann ihn nur noch steinigen!“

Durch das Wort Gottes ermutigt und gestärkt fuhr ich nach Tschimkent zu meinen Eltern. Die Nachricht, das ich mich verändert hatte, war schon bis hierher durchgedrungen. Die Verwandten, die bei meinen Eltern bereits auf mich warteten, fürchteten eine Familienschande und schlugen mich bei meiner Ankunft, um mich einzuschüchtern. In ihren Augen war ich ein Verräter ihres Volkes und ihrer Religion geworden. Am nächsten Tag brachten sie mich in die Moschee. Vor mir saßen fünf Mullahs, neben mir meine Eltern. Ich sollte ihnen alles erzählen und als ich mit dem Bericht meiner Bekehrung zu Jesus Christus fertig war, sagte einer der Mullahs: „Ja, Jesus ist lebendig, das steht auch im Koran.“ Ermutigt durch seine Worte fragte ich ihn: „Mein Vater hier flucht Jesus mit schrecklichen Worten, ist das richtig?“ Da griff der Mullah zum Koran und sagte: „Mose, Jesus und Mohammed sind Propheten für Moslems.“ Und dann fügte er hinzu: „Jesus ist der größte unter ihnen und Moslems dürfen kein schlechtes Wort über ihn reden.“ Ich fragte weiter: „Was steht noch im Koran über Jesus?“ Der Mullah las weiter: „Am Tag des schrecklichen Gerichts kommt Jesus und wird alle Menschen mit seinem gerechten Gericht richten.“ Ich freute mich über diese Worte und rief: „Seht ihr, dann ist mein Glaube nicht falsch!“ Als der Mullah mir zustimmte, sprangen meine Eltern empört auf: „Was soll denn das? Sie sollen uns helfen und ihn zurechtbringen. Stattdessen unterstützen sie ihn noch?“ Darauf erschrak der Mullah und meinte: „Gleich kommt noch ein höherer Mullah, der kennt sich besser aus und wird uns alles erklären.“ Wir warteten auf diesen Mann, der tatsächlich auch bald eintraf. Als ich ihm meine Erlebnisse geschildert hatte, fragte er: „In welche Gemeinde gehst du?“ „Sie nennen sich Evangeliums-Christen.“ Als er das hörte, wandte er sich an meine Eltern und meinte: „Dann ist das ein verlorener Mensch für uns. Solche Leute bleiben fest. Man kann ihn nur noch steinigen.“ Nach diesen Worten machte ich mich auf und verließ so schnell wie möglich diesen Ort. Die Worte meiner Eltern hallten mir nach: „Du bist nicht mehr unser Sohn!“

Befreit um zu dienen

Einen Monat lang durfte ich meine Frau nicht sehen. Man hatte sie mit unseren Kindern in ein Zimmer eingesperrt wie in ein Gefängnis. Dort wurde sie von Wächtern bewacht, die mich bei den ersten Versuchen sie zu befreien verspotteten und sagten: „Wenn du mit Mohammed kommen würdest, dann würden wir dir helfen.“ Die Verwandten verprügelten mich und beschuldigten mich bei der Polizei, die mich einige Male festnahm und verhörte. Während ich vergeblich alles Mögliche versuchte, um meine Frau zu befreien, ging es ihr sehr schlecht. Sie berichtete später: „Jeden Tag spuckten sie mir ins Gesicht und beschimpften mich. Sie haben meine Bibel zerrissen und die Blätter auf die Erde geworfen, um darauf herumzutreten. Den psychischen Druck konnte ich kaum standhalten, ich war verzweifelt und Gedanken an Selbstmord gingen durch meinen Kopf. Doch meine Kinder ließen mich Tag und Nacht nicht allein und bewahrten mich davor.“ Während meine Frau seelische und körperliche Qualen durchmachte und meine verschiedenen Rettungsversuche scheiterten, beteten die Christen für uns und stärken mich durch ihre Liebe und Anteilnahme. Schließlich erhörte Gott unsere Gebete. Völlig unerwartet half mir die Polizei, zu meiner Frau durchzudringen und sie und unsere Kinder zu befreien und mitzunehmen.

In den folgenden Jahren konnten wir in der Gemeinschaft mit Christen im Glauben wachsen, Gott loben und anderen Menschen von der Liebe Gottes weitersagen. Inzwischen haben wir vier Kinder und wohnen in Astana, wo sich einige kleine Haus-Gemeinden von Kasachen gebildet haben, die alle Jesus Christus als ihren Erlöser und Herrn angenommen haben. Einige von ihnen haben ähnliche Erfahrungen machen müssen wie wir und sind von ihren Familien getrennt oder ausgestoßen worden. Aber wir beten für unsere Verwandten und hoffen, dass sich ihre Haltung zu uns ändert und sie Gott als den erkennen, der sie liebt, ihre Sünden vergeben und sie vor dem ewigen Verderben erretten möchte.

Nachtext

Quellenangaben