Zeitschrift-Artikel: Eintreten für einen Bruder

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Titel: Eintreten für einen Bruder
Typ: Artikel
Autor: Henk P. Medema
Autor (Anmerkung): aus: Bode van het heil in Christus, Jg. 1993, S. 121ff; Übersetzung: Frank Schönbach

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Titel

Eintreten für einen Bruder

Vortext

Text

Wie oft erleben wir es, daß ein Bruder für seinen Bruder eintritt? Und daß diese mutige Haltung zu einem Durchbruch in den Beziehungen zwischen Brüdern führt, zu einer Versöhnung unter Tränen? Wenn wir so etwas vielleicht auch niemals erlebt haben, in der Bibel steht eine Geschichte, in der so etwas geschieht. Es ist das Plädoyer Judas für seinen Bruder Benjamin - Josef gegenüber.

Die überaus bekannte Geschichte Josefs steht in 1.Mose 44 kurz vor ihrem Höhepunkt. Die Spannung ist auf die Spitze getrieben, und die Auflösung erfolgt gleich in 1.Mose 45, wo wir lesen, wie Josef sich seinen Brüdern offenbart. Wir können in der Geschichte Josefs sicher auch in prophetischem Sinn etwas von den Bemühungen Gottes um den Überrest Israels sehen, der in der Zukunft, nach langdauernden Irrwegen und unter dem Druck tiefer Not, den anschauen wird, den sie verworfen haben. Aber wir versuchen jetzt, zuallererst zu begreifen, was hier buchstäblich geschehen ist, und dann suchen wir darin nach einer viel allgemeineren Bedeutung, die auch für Gottes Volk in diesem Heilszeitalter gilt. Diese Bedeutung nämlich, daß der Unterrichts- und der Prüfungsstoff in der Schule Gottes aus einem Thema besteht: Bruderliebe! Es ist das Gebot, das der Herr Jesus seinen Jüngern gegeben hat. Es ist das eine Gebot, das der alle Apostel Johannes nicht müde wurde, zu wiederholen; das alte Gebot, das doch jedesmal wieder neu ist.

Zuerst zur Geschichte selbst. Eine kurze Inhaltsangabe des Vorausgegangenen ist kaum nötig, es ist wohl ausreichend bekannt. Wir treffen hier die Söhne Jakobs an, mit gesenkten Köpfen, voller Reue. Die Brüder waren sofort, nachdem man den Becher gefunden hatte, mit zerrissenen Kleidern umgekehrt und mit gesenkten Köpfen zu dem Unterkönig hineingegangen, der völlig verdutzte Benjamin in ihrer Mitte. Und da ergreift Juda das Wort, um sich in einem ergreifenden Plädoyer für den "Schuldigen" einzusetzen.

Familienverhältnisse

Es hat sich ziemlich viel verändert bei Juda. In Kapitel 37 hatte er keine andere Frage im Sinn als "Was für einen Vorteil bringt es uns?" (V.26). Und bevor die Geschichte Josefs weitergeht, richtet der Heilige Geist in Kapitel 38 noch einmal sehr ausführlich seinen Scheinwerfer auf die Weise, wie Juda und seine Söhne mit Familienverhältnissen umspringen, wodurch im Lauf der Jahre Judas eigene Familie völlig zugrunde gerichtet wurde. Aber mit welcher Empfindsamkeit hören wir Juda jetzt die Familienverhältnisse beschreiben! Es wäre durchaus nicht schwierig gewesen, einiges sehr Negatives über Jakobs Familie vorzubringen, aber das tut Juda überhaupt nicht. Mit liebevollem Respekt spricht er über die Beziehungen innerhalb der Familie. Er beginnt mit Jakob und Benjamin (V.19), und er endet mit Benjamin und Jakob (V.34). Zuerst geht es um Jakob, dann um Benjamin, dann um den "toten" Josef, dann von neuem um Benjamin. Judas Worte sind durchdrungen vom Bewußtsein der Liebe des Vaters für ihren Bruder (V.19.30). Er beschreibt Benjamin in Vers 20 als einen "Sohn seines Alters", genau derselbe Ausdruck, der in Kapitel 37,3 für Josef gebraucht wird. Ergreifend ist sein Einfühlungsvermögen in die Zuneigung Jakobs zu Rahel, die er derart in Worte faßt (V.27), als ob sie Jakobs einzige Frau wäre. Taktvoll spielt er auch auf das Wohlgefallen des fremden Herrschers an Benjamin an mit dem Ausdruck, den er in V.21 in dessen Mund legt "daß ich mein Auge auf ihn richte" (vgl. z.B. Jer 40,4; Ps 33,18; 34,16). Immer inniger wird seine Wortwahl, bis er in V.30 sagt "und seine [Jakobs] Seele hängt an dessen [Benjamins] Seele", ein Ausdruck, mit dem auch die Anhänglichkeit von David und Jonathan angedeutet wird (1Sam 18,1).

Jakob hat seinen Sohn lieb, darum geht es. Juda hat seinen Bruder lieb, und den Grund für diese Liebe findet er vor allem in den Gefühlen der Liebe, die ihr Vater für Benjamin hat. Und das bringt ihn dazu, sich für seinen Bruder einzusetzen unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit. Vielleicht nicht buchstäblich, aber doch im übertragenen Sinn hat er seine Arme um seinen Bruder gelegt: Wenn ihr ihn angreift, trefft ihr das Herz meines Vaters; daher, wenn ihr ihn angreift, greift ihr auch mich an!

Der Test der Bruderliebe

Es ist hier eine schwere Prüfungsaufgabe, vor der die Brüder stehen. Ohne daß sie hinter die Kulissen schauen konnten hatte Josef die Dinge so geführt, daß sie gezwungen waren, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Klar und scharf formuliert der fremde Herrscher die Frage, um die es geht. Wie würde ihre Reaktion sein, wenn die Umstände eine Trennung zwischen die Brüder zu bringen drohten? Oder eigentlich ist die Frage noch schwieriger: Was würde geschehen, wenn einer von ihnen schuldig zu sein schien? Würden sie ihn fallen lassen? Würde ihnen ihr gemeinschaftliches Auftreten als Brüder etwas wert sein (V.17)? Würden sie wählen, ihr Gewissen totzuschlagen und "in Frieden" zu ihrem Vater zu ziehen, oder wäre ihnen der Schmerz über den Verlust eines Bruders unerträglich?

Wir können diese Fragen beinahe nicht formulieren, ohne daß wir beginnen, über uns selbst nachzudenken. Wenn wir nun in diese Prüfung kämen, in der Familie der Kinder Gottes, in unserer örtlichen Glaubensgemeinschaft, in unserem brüderlichen Umgang miteinander? Wenn nun bei uns einmal die Gefahr entsteht, daß wir auseinander getrieben werden, wie reagieren wir dann? Würden wir "in Frieden weitergehen", indem wir den einen Bruder zurücklassen ("Sehr schade, aber wir haben getan, was wir konnten")? Oder sind wir so tief durchdrungen von den Bindungen, die uns in der Familie Gottes aneinander binden, daß wir das nicht geschehen lassen? Werden wir noch bewegt von der Liebe, die der Vater für seine Kinder hat? Berührt uns noch das Vaterherz dessen, für den selbst der Kleinste unter uns in Seiner Liebe so angenommen ist wie der Sohn zu Seiner Rechten? Und wer von uns ist dann derjenige, der standhaft auftritt, um ein Wort für seinen Bruder einzulegen?

Zu Juda wurde gesagt: Das "Volk" mag hinziehen, ein Mann (nämlich Benjamin) muß zurückbleiben. Viele Jahre später wurde Moses mit einer gleichartigen Prüfungsaufgabe konfrontiert. Als Israel gesündigt hatte in der Abgötterei mit dem goldenen Kalb, sprach Jahwe zu Moses: Ein Mann (nämlich Moses) mag weiterziehen, das Volk muß zum Gericht zurückbleiben. Wir erinnern uns an die resolute Weigerung Moses: "Lösche mich doch aus deinem Buche!" (2Mo 32,32). Und wieder viele Jahrhunderte später, in einem dunklen Olivenhain, hat einer, der größer ist als Moses und Juda, gesagt: "Wenn ihr nun mich sucht, so laßt diese gehen!" (Joh 18,8). So stellte Er sich als Bürge vor Seine ängstlichen, kleinmütigen Jünger. Das ist die Gesinnung des Christus. Und die Übereinstimmung mit dieser Gesinnung ist das Beeindruckende im Auftreten von Juda. Er hält eine prächtige Rede, aber das ist nicht alles. Es gibt genügend Leute, die glanzvolle Reden abziehen können. Das Besondere ist, daß Juda sich selbst hundertprozentig dafür einsetzt. Er tritt als Bürge für Benjamin auf, er läßt ihn nicht los. Sein Plädoyer endet mit einem Schluchzen, und er ist bereit, seine eigene Seele für die Seele Benjamins zu geben. Das ist doch etwas ganz anderes als die halbherzige Haltung von Ruben (Kap 37,21f), der zwar genug Mut faßte, seinen Bruder vor dem Tod zu retten, aber viel zu wenig Mut hatte, seinen Brüdern mit Ernst das Unrecht vor Augen zu stellen, das sie taten.

Jahrhunderte später sehen wir, wie Paulus als ein echter geistlicher Vater in die Bresche springt für sein geliebtes Kind, Onesimus. Dieser konnte überhaupt nicht von Schuld freigesprochen werden, und das tut der Apostel auch nicht. Aber dennoch legt er seinen Arm um ihn, und er sagt: "Wenn er dir, Philemon, etwas schuldig ist, ich werde es bezahlen!" (Phim 18,19)

Solche geistlichen Väter haben wir auch nötig in der Gemeinde Gottes. Juda nimmt hier den Platz eines Vaters ein. Der arme, alte Jakob! Er war inmitten aller Widerwärtigkeiten nicht weiter gekommen als bis zur Wehklage: "Dies alles kommt über mich (oder: ist gegen mich)!" (Kap 42,36). Tränen, Kummer, Demütigung, das kann für sich genommen, wenn es dabei bleibt, niemals eine Lösung bringen, wenn eine solche tiefe Krise unter Brüdern entstanden ist. So wie das innigste Gebet der Demütigung nicht an die Stelle des Wegschaffens des Bösen treten kann, wenn die Heiligkeit Gottes entehrt wurde (los 7,10ff), so können auch die heißesten Tränen keine Rettung bringen, wenn das Band der Bruderliebe zerbrochen ist. Die Veränderung zum Guten kommt erst, wenn jemand, wie Juda, bereit ist, in die Bresche zu springen, indem er sich sowohl voller Liebe als auch in aller Deutlichkeit für seinen Bruder einsetzt. Wir können wohl klagen über den Mangel an geistlichem Mut und Tatkraft bei Älteren, die Väter in Christus sein sollten, aber besser ist es, wie Juda zu tun, was getan werden muß, mit dem Einsatz der ganzen eigenen Person.

Jahrhunderte später müssen wir unsere Prüfung ablegen. Wie wird sie ausgehen? Lassen wir unseren Bruder einfach fallen, um des lieben Friedens willen? Oder wird die langersehnte Veränderung zum Guten endlich kommen? Sollten wir uns nicht auch sehnen nach Lösungen der Krisen in brüderlichen Verhältnissen? Sollten wir nicht das Verlangen haben nach einer ergreifenden Offenbarung dessen, der noch viel mehr als Josef der Auserwählte unter Seinen Brüdern ist? Wer von uns hat den geistlichen Mut, wie einst Juda, den Arm um seinen Bruder zu legen und sich entschlossen zu weigern, in Frieden ohne ihn weiterzuziehen? Juda, dich werden deine Brüder preisen! (Kap 49,8).

Nachtext

Quellenangaben