Zeitschrift-Artikel: Der schwierige Ballance-Akt zwischen Gnade und Wahrheit

Zeitschrift: 117 (zur Zeitschrift)
Titel: Der schwierige Ballance-Akt zwischen Gnade und Wahrheit
Typ: Artikel
Autor: Randy Alcorn
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 2662

Titel

Der schwierige Ballance-Akt zwischen Gnade und Wahrheit

Vortext

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes 1,14

Text

1989 und 1990 habe ich im Namen ungeborener Kinder friedlich und gewaltlos an Abtreibungskliniken demonstriert. Wegen dieser Aktionen wurde ich einige Male verhaftet und musste für ein paar Tage ins Gefängnis. Ich bedauere keineswegs, was ich damals getan habe; denn ich glaube noch immer, dass ungeborene Kinder ausnehmend wertvoll für ihren Schöpfer sind. Diese Wahrheit zwang mich dazu, Dinge zu sagen und zu tun, die – bei Nichtchristen und auch bei Christen – unpopulär waren. Was mich in Schwierigkeiten brachte, war der Versuch, sowohl der Wahrheit als auch der Gnade Genüge zu tun. Ich fragte mich: Wenn dies wirklich Kinder sind (nicht einfach nur potenzielle Kinder), muss es dann nicht Menschen geben, die für jene sprechen, die nicht sprechen können, und welche die Rechte des Elenden und Armen vertreten. Zumindest fordert uns Gottes Wort deutlich dazu auf:

»Tu deinen Mund auf für den Stummen, für die Rechtssache aller Unglücklichen. Tu deinen Mund auf, richte gerecht, und schaffe Recht dem Elenden und dem Bedürftigen.« Sprüche 31,8-9

Ich war mir meiner Verantwortung den Ungläubigen gegenüber bewusst, die Gnade Christi auszudrücken: Ich habe zu keiner Zeit geschrieen, andere lächerlich gemacht oder jemanden erniedrigt. Ich bin nie ausfällig geworden, habe niemanden tätlich angegriffen bzw. irgendetwas Unfreundliches oder Niederträchtiges gesagt. Zusammen mit anderen Christen versuchte ich lediglich, an Abtreibungskliniken die Gnade Christi zu zeigen. (Und dort, außerhalb der Kliniktüren, fand eine Person zu Christus.) Vor ein paar Jahren wurde die Gemeinde, in der ich Pastor war (und die ich noch immer besuche), von dreißig Demonstranten blockiert. Was war der Grund dafür? Einige unserer Gemeindeglieder gehen zu Abtreibungskliniken, bieten Alternativen an und geben das Evangelium weiter, wo immer sich eine Möglichkeit dazu bietet. Manchmal halten sie Plakate in die Höhe, auf denen zum Beispiel steht: Erwägen Sie eine Adoption! – Lassen Sie Ihr Kind leben! oder Wir werden finanziell weiterhelfen! Drei Gruppen von Abtreibungs-Befürwortern entschlossen sich dazu, ihre Kräfte zu bündeln und uns als Gemeinde »eine Dosis unserer eigenen Medizin zu verabreichen«. Und so wurde an einem regnerischen Sonntagmorgen unser Gemeindeparkplatz von den Gruppen Rad ical Women for Choice (»Radikale Frauen für Selbstbestimmung «), Rock for Choice (»Rock für Selbstbestimmung «) und Lesbian Avengers (»Lesbische Rächer«) heimgesucht. Nachdem wir gehört hatten, dass sie die Absicht hatten, uns einen Besuch abzustatten, besorgten wir Berliner und Kaffee. Ich verbrachte zum Beispiel anderthalb Stunden mit einem Demonstranten namens Charles. Er hatte ein Plakat, auf dem es hieß: »Abtreibung muss legal bleiben.« Wir sprachen ein wenig über Abtreibung und viel über Christus. Ich erklärte ihm das Evangelium, und er gab mir seine Adresse. Später sandte ich ihm dann einige meiner Bücher und andere christliche Literatur zu. Ich mochte Charles. Wenn man jedoch der festen Überzeugung ist – wie ich das bin –, dass Abtreibung nichts anderes als die Tötung von Kindern bedeutet, so erscheint es etwas problematisch, einem Menschen, der ein Pro-Abtreibungsplakat in die Höhe streckt, Kaffee einzuschütten und ihm außerdem noch einen Regenschirm zu halten. Sollten Sie das nicht so ganz verstehen, dann stellen Sie sich einmal vor, Sie würden jemanden mit einem Plakat, auf dem Legalisiert Vergewaltigung! oder Tötet Ausländer! zu lesen wäre, auf diese Art und Weise behandeln. Und doch erschien es uns aufgrund der Gelegenheit, Menschen etwas von der Gnade Christi zu zeigen, angebracht. Aber es ist nicht allein die Wahrheit, die uns in unangenehme Situationen bringen kann. Das kann auch die Gnade. An jenem Morgen, als uns die Demonstranten blockierten, erschienen auch einige Straßenprediger mit Plakaten, die sich der Abtreibungs-Aktivisten annahmen, indem sie diese lauthals verdammten. Ihre Botschaft enthielt zwar Wahrheit, aber ihrer Vorgehensweise mangelte es an Gnade. Einer der Straßenprediger schob sich zwischen meine Tochter und mich und einige von den Lesbian Avengers – und das gerade in dem Augenblick, als sich uns endlich die Gelegenheit zu einem Gespräch bot. Die Tür zum Zeugnis wurde buchstäblich in unsere Gesichter geschlagen … und das von Christen. Wir versuchten auf vernünftige Art und Weise mit den Straßenpredigern zu reden. Immerhin war dies nicht ihre Gemeinde, und wir wollten auch nicht, dass sie unsere „Gäste“ anschrien – selbst dann nicht, wenn es die Wahrheit war, die sie herausbrüllten. Die meisten sahen dies ein, für einige bedeutete diese ganze Angelegenheit jedoch ein Aufweichen der Wahrheit, und es kam ihnen einer Schandtat gleich, solchen Menschen, die unsere Zurechtweisung hätten bekommen müssen, auch noch Berliner anzubieten. Am Sonntag darauf blockierten dann zwei von diesen Straßenpredigern die Gemeinde und tadelten uns wegen unseres „erbärmlichen“ Versuchs der „Berliner-und-Kaffee-Evangelisation“. Und so wurde unsere Gemeinde, nach 21 demonstrationsfreien Jahren, zwei Wochen nacheinander durch Demonstrierende blockiert! Zuerst durch extrem liberale Ungläubige – weil wir für die Wahrheit eintraten. Und dann von extrem konservativen Gläubigen – weil wir Gnade zeigten. So ist das bei dem Drahtseilakt zwischen Wahrheit und Gnade. Wenn man sich für die Wahrheit einsetzt, wird man dafür von einigen Nichtchristen (ja sogar von einigen Christen) gehasst werden. Und wenn man versucht, Gnade zu zeigen, wird man dafür von einigen Christen (ja sogar von einigen Nichtchristen) verachtet werden. Wenn man den Versuch unternimmt, der Gnade und der Wahrheit gemäß zu leben, wird man in den Augen einiger zu extrem und in den Augen anderer nicht extrem genug sein. Einige Menschen hassen die Wahrheit. Wieder andere hassen die Gnade. JESUS LIEBT BEIDES. Wir können keines von beidem falsch darstellen, ohne zugleich auch Ihn falsch darzustellen. Und so haben wir die Wahl. Wollen wir unser Leben damit verbringen, den Gnadenhassern bzw. den Wahrheitshassern zu gefallen? Oder wollen wir den Versuch unternehmen, in den Augen des Einen wohlgefällig zu sein, vor dessen Richterstuhl wir stehen werden: Jesus, der voller Gnade und Wahrheit ist?

Nachtext

Am Kreuz von Golgatha vereinigen sich Gnade und Wahrheit. Man sieht nur dann Jesus an uns, wenn wir GnadeWahrheit in unserem Leben zeigen. UND

Das Gesetzt kam durch Mose; Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden.
Johannes 1,17

Durch Gnade und Wahrheit wird Schuld gesühnt.
Sprüche 16,6

Quellenangaben