Zeitschrift-Artikel: Selfmade-Götter am Ende des 20. Jahrhunderts

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Titel: Selfmade-Götter am Ende des 20. Jahrhunderts
Typ: Artikel
Autor: Gerrit Alberts
Autor (Anmerkung):

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Titel

Selfmade-Götter am Ende des 20. Jahrhunderts

Vortext

Text

Der zusammengeklebte Gott

"Philistratus, gehe mal eben in den Götzen-Baumarkt und hole eine Flasche Holzleim, damit wir unserem Gott den Kopf und die Hände wieder ankleben können!" So oder ähnlich mag es im Dagon-Tempel der Philister vor ungefähr 3000 Jahren geklungen haben. Der hochverehrte Gott war - wie in 1Sam 5 beschrieben wird - der Länge nach vor der Lade Jahwes auf die Nase gefallen und hatte dabei die besagten Körperteile eingebüßt. Nachdem Philistratus und Goliath in bewährter Heimwerkermanier Kopf und Hände wieder angeleimt und mit einigen Holzschrauben verstärkt hatten, wurde der Koloß aus Fischrumpf und Menschenkopf und -händen mit vereinten Kräften wieder in eine Position instabilen Gleichgewichts gehievt, vielleicht mit den Worten: "Paßt auf, daß wir Dagon nicht den frisch geleimten Kopf abreißen." Nach getaner Arbeit verbeugten sich möglicherweise die ansonsten ziemlich intelligenten Philister hingegeben vor dem gerade reparierten, an ein genmanipuliertes Wesen erinnernden Monstrum, indem sie murmelten: "Dagon, du bist der allergrößte, allerstärkste und unverwüstliche Gott!"

Wir aufgeklärten Menschen am Ende des 2. Jahrtausend n. Chr. schütteln verständnislos den Kopf über die beschränkten religiösen Vorstellungen dieser Menschen aus der Bronzezeit. Aber unterscheiden wir uns wirklich grundlegend von ihnen?

Was Menschen heute glauben

Auch in unserer heutigen Zeit werden Trendgötter zusammengebastelt. Um welche Götter handelt es sich? Und wie entwickeln sich religiöse Vorstellungen in der postmodernen Gesellschaft?

Ein auffälliger Trend ist der Rückgang der traditionellen Kirchenzugehörigkeit. Waren im Jahre 1900 noch 97,8% der Bevölkerung Mitglied einer kirchlichen Vereinigung, so ist heute ca. ein Drittel der deutschen Staatsbürger keiner Kirche zugehörig. Bezogen auf den Kirchenbesuch sagt die Statistik, daß 24 % nie, 39 % nur bei Taufe, Hochzeit und Beerdigung und 16 % nur an Feiertagen zur Kirche gehen. Etwa 20 % der Deutschen besuchen mindestens einmal im Monat einen kirchlichen Gottesdienst (idea-Spektrum, 29/1997).

Auf die Frage: "Glauben Sie an einen persönlichen Gott?" antworten 38 % mit "Ja" und 15 % mit "Vielleicht" (Jörns, S. 39).

Insgesamt ergibt sich folgendes Bild im Hinblick auf den Glauben an übernatürliche Wesen (Jörns, S. 56 ff.):

Gottgläubige        38 %

Transzendenzgläubige        15 %

Unentschiedene        20 %

Atheisten        27 %

Transzendenzgläubige im Sinne dieser Statistik sind solche, die zwar an jenseitige Wesen, Kräfte und Mächte, aber nicht an einen persönlichen Gott glauben.

Erwartet man allerdings, daß angesichts des relativ hohen Anteils der Gottgläubigen zentrale biblische Aussagen über Gott und den in der Heiligen Schrift geoffenbarten Heilsweg auf breite Zustimmung stoßen, sieht man sich gehörig getäuscht.

Was die Gottesvorstellung betrifft, gehen nur 21 % der Bevölkerung davon aus, daß Gott direkt in das Weltgeschehen eingreift (idea-Spektrum 27/1997). Die Hälfte aller Gottgläubigen sagen, daß Muslime und Christen denselben bzw. teilweise denselben Gott haben (Jörns, S. 174).

Die Abkehr von der biblischen Lehre der Sündhaftigkeit und des Heils

Hinsichtlich der Erlösungsvorstellungen der Gottgläubigen ist auffällig, daß Erlösung primär nicht mehr das Verhältnis der Menschen zu Gott und den Eintritt in den Himmel der Erlösten betrifft, sondern sich mehr auf diesseitige Probleme, Leiden und Ängste bezieht. In der Gruppe der Gottgläubigen wird die Auffassung vertreten, daß wir Erlösung brauchen von Unfriede und Hunger in der Welt (48 %), von menschlicher Unzulänglichkeit (39 %), vom Machtstreben (39 %),von unheilbarer Krankheit (34 %), vom sündigen Wesen (31 %) und von Süchten (30 % ). Daß die Sünde nach der Heiligen Schrift das zentrale Problem in der Beziehung der Menschen zu Gott und auch untereinander und zur restlichen Schöpfung darstellt, wird nur noch von einer Minderheit der Gottgläubigen so gesehen. Bei der Frage, ob eine Erlösungstat Gottes für die Erlösung vom sündigen Wesen notwendig ist, sinkt die Zustimmungsrate bei insgesamt 1.133 Befragten auf knapp 5 %! Jörns führt dazu weiter aus: "Auch bei den Theologinnen und Theologen ist der Anteil derer, die Gott ausdrücklich für nötig halten, damit es zu einer Erlösung von unserem sündigen Wesen kommt, eher marginal (ca. 25 %, Anm. d. Verf.), - jedenfalls wenn man bedenkt, daß es bei der Erlösungslehre bislang um das Zentrum der Theologie geht" (Jörns, S. 180).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß nur 15 % der Gottgläubigen davon ausgehen, daß die Sterblichkeit des Menschen durch den Sündenfall bedingt ist (Jörns, S. 136) und lediglich 28 % derselben Gruppe meinen, das Böse sei Zeichen unseres sündigen Wesens. Jörns kommentiert dies wie folgt:

"Das aber heißt, daß es an einem zentralen Punkt der biblisch-theologischen Anthropologie zu einem totalen Bruch mit der Tradition gekommen ist."

Der Verlust der Ewigkeitsdimension

Ginge es nach demokratischen Mehrheitsbeschlüssen, würde das Jüngste Gericht ausfallen. Ganze 24 % aller Gottgläubigen verbinden mit Gott die Vorstellung, daß wir uns nach dem Tod vor seinem Richterstuhl verantworten müssen (Jörns, S. 71). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist dies bei 11 % der Fall. Die Theologinnen und Theologen votierten hier mit 34 %, die Theologiestudierenden nur noch mit 23 %. Die Auffassung, daß der Himmel ein Bereich ist, in den wir erst nach unserem Tod kommen können, vertraten 28 % der Gottgläubigen. Es besteht die Tendenz, den Begriff "Himmel" als eine Chiffre für diesseitige Glücksvorstellungen zu verwenden, etwa als einen gleichnishaften Ausdruck für etwas Wunderbares im Leben (29 %) oder die Fülle des Lebens, so etwas wie Paradies (26 %).

Noch geringer ist die Akzeptanz der Lehre, daß die Hölle ein Strafort nach dem irdischen Leben darstellt. Dies wird noch von 19 % der Gottgläubigen angenommen. Bei den Theologen beträgt die Zustimmungsrate lediglich 12 % (Jörns, S. 84 ff, S. 238). Jörns faßt die Entwicklung in diesem Bereich zusammen:

"Die klassische Eschatologie, repräsentiert durch die Bereiche Himmel und Hölle, ist offenbar kurz vor dem Verschwinden - auch bei den Theologengruppen" (Jörns, S. 208).

Die Synode der anglikanischen Kirche in England zog aus diesem Trend Mitte Juli 1996 folgende Konsequenz: Sie stimmte mehrheitlich für die Abschaffung der Lehre von der Hölle und der ewigen Bestrafung der Sünder, da diese nicht mehr zeitgemäß sei!

Der Einfluß auf die Evangelikalen

Der Trend des Zeitgeistes wird nicht ohne Einfluß auf unser Denken und Handeln bleiben, wenn unsere Sicht nicht konsequent vom Heiligen Geist und vom Wort Gottes geprägt ist. Wenn wir unser Reden und Handeln mit dem der Christen vergangener Zeiten vergleichen, läßt sich kaum verleugnen, daß wir unseren Focus eher auf das Diesseits als auf das Jenseits eingestellt haben: In zahlreichen Liedern der vergangenen Jahrhunderte kommt die Flüchtigkeit des jetzigen Lebens und die Notwendigkeit, auf das Jenseits hinzuleben, zum Ausdruck. Denken wir an Paul Gerhardts Lied >0 Haupt voll Blut und Wunden, in dem er im Finale auf sein eigenes Sterben zu sprechen kommt:

"Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir;

wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür;

wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein,

so reiß mich aus den Ängsten

kraft deiner Angst und Pein."

Mir fallen nur wenige moderne Songs ein, die das Thema Sterben und Ewigkeit als Inhalt haben. Lieder wie "Diese Welt ist eine Wüste" oder "Wo nichts ich seh' als eine Wüste" von J. N. Darby sind heute nur noch schwer vorstellbar, ganz zu schweigen von dem Lied "0 Ewigkeit, du Donnerwort" aus dem 17. Jahrhundert, das heute im christlichen Milieu wahrscheinlich weithin eher peinliche Gefühle provozieren würde:

"0 Ewigkeit, du Donnerwort,

du Schwert, das durch die Seele bohrt, o Anfang sonder Ende!

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

vielleicht schon morgen oder heut fall ich in deine Hände.

Mein ganz erschrock'nes Herze bebt, daß mir die Zung' am Gaumen klebt! Schon hier erfaßt mich deine Faust, daß es mich würgt, daß es mich graust in meinem tiefsten Herzen,

Die Zähne klappern mir vor Pein;

wie muß es erst da drüben sein!"

Bei einer Umfrage in einem evangelikalen Seminar gaben fast die Hälfte - 46- der Studenten an, den Ungläubigen von der Hölle zu predigen, sei "geschmacklos" (Hunter, S. 40, zitiert in MacArthur, S. 68). Schlimmer noch, drei von zehn der befragten und nach eigenen Angaben "wiedergeborenen" Leute glaubten, daß "gute" Menschen in den Himmel kommen, auch wenn sie ihr Vertrauen zu keiner Zeit auf Christus gesetzt hatten. 10 % dieser Evangelikalen meinten, das Konzept von der Sünde sei ein Auslaufmodell (MacArthur, S. 68).

Die Abneigung, von der Sünde als unserem zentralen Problem zu reden, sickert, wenn auch gebremst, in das Lager der >Bibelgläubigen< ein. Robert Schuller, ein wichtiger Ideengeber der "vielleicht weltweit einflußreichsten Gemeinde" in Willow Creek, sieht die Notwendigkeit einer neuen Reformation, um von einer theozentrischen zu einem von den menschlichen Bedürfnissen ausgehenden Ansatz zu gelangen, der sich auf die Nöte und Verletzungen der >Kirchenfernen< konzentriert. Von Sünde zu reden, ist dabei natürlich kontraproduktiv. Der Begriff wird elegant umdefiniert:

"Sünde ist jeder Akt oder jeder Gedanke, der mich oder ein anderes menschliches Wesen der Selbstachtung beraubt" (Schuller, 5. 14 -15, zitiert in Pritchard, 5. 51).

In einem >Drive-in-Gottesdienst< äußerte einer der populärsten Prediger und Schreiber Amerikas, N. V. Peale, folgende Auffassung: "Was hätte Jesus euch zu sagen gehabt, wenn er statt meiner hier zu euch spräche? Hätte er euch gesagt, was für elende Sünder ihr seid? Nein, das glaube ich nicht ... Ich glaube, er würde gleich anfangen, euch zu erzählen, welche großartigen Leute ihr werden könnt, wenn ihr nur den Heiligen Geist des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe jede Faser eures Seins erfüllen ließet!" (Zitiert in Pritchard, S. 50).

Vergängliche Götter und der ewige Gott

Zu Jeremia sagte Gott: "Ich lege meine Worte in deinen Mund" (Jer. 1, 9). Wird Gott damit einverstanden sein, wenn wir unsere Worte und unsere Heilsvorstellungen in seinen Mund legen? Wir befinden uns in Unkenntnis über ihn, wenn wir dies glauben.

Von dem israelischen König Ahab wird berichtet, daß er ganz abscheulich handelte, indem er den Götzen (wörtlich: Mistkugeln) nachlief (1Kö 21, 26). Durch den Ausdruck >Mistkugeln< soll möglicherweise ausgedrückt werden, daß alle selbstgezimmerten Götter mehr oder weniger schnell auf dem Komposthaufen der Geschichte landen. Ein Gott, der unserer Phantasie entspringt, ist genauso wenig Gott, wie jene Gebilde, die auf das handwerkliche Geschick der Menschen zu Ahabs Zeiten angewiesen waren. Gott ist der, der er ist, und nicht der, den wir uns ausdenken. Wenn wir zuverlässige Informationen über ihn haben möchten, sind wir auf seine Selbst-Offenbarung und nicht auf unsere Vermutungen angewiesen. Deswegen sind wir gut beraten, häufiger in die Bibel zu schauen. Das bildet ungemein, gerade im Hinblick auf die Frage, wer Gott ist und welchen Heilsweg er bestimmt hat.

 

Nachtext

Quellenangaben

Literatur

"        Barz, Heiner: Meine Religion mach ich mir selbst! in: Psychologie heute, Nr. 7/ 1995

"        idea-Spektrum - Nachrichten und Meinungen aus der evangelischen Welt, Nr. 27/1997 und 29/1997

"        Hunter, James Davison: Evangelicalism: The Coming Generation, Chicago 1987

"        Jörns, Klaus-Peter: Die neuen Gesichter Gottes - Was Menschen heute wirklich glauben, München 1997

"        MacArthur, John F.: Wenn das Salz kraftlos wird - Die Evangelikalen im Zeitalter juckender Ohren, Bielefeld 1996

"        Pritchard, G. A.: Willow Creek - die Kirche der Zukunft? Bielefeld 1997

"        Saum-Aldehoff, Thomas: Der Heilige Zeitgeist, in: Psychologie heute, Nr. 7/ 1995

"        Schuller, Robert: Self Esteem: The New Reformation, Waco, Texas 1982