Zeitschrift-Artikel: Was wir brauchen

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Titel: Was wir brauchen
Typ: Artikel
Autor: Stephan Holthaus
Autor (Anmerkung):

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Titel

Was wir brauchen

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Text

Was der moderne Mensch besonders braucht und schätzt, sind echte Vorbilder.' Wir benötigen mehr Menschen, nach denen wir uns ausrichten können. Helmut Kohl sagt zurecht: "Ein Land ohne Eliten, ohne Vorbilder, hat keine Zukunft."2 Wir haben keine Gesinnungstäter mehr. Uns fehlen Menschen mit tiefen Überzeugungen, die auch andere für ihre Überzeugungen begeistern können. Die Moderne kreiert Meinungen, aber keine Überzeugungen. Was uns fehlt, sind Menschen mit Charakter, die fest und unerschrocken für ihre Ziele einstehen.Wir brauchen wieder Persönlichkeiten, nach denen sich andere ausrichten können. Charakter formt sich aus festen Prinzipien, die durch eine Weltanschauung gebildet werden. Dazu gehören Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Ordnung, Gehorsam und Selbstdisziplin. Die postmoderne Bodenlosigkeit hat uns den Charakter gestohlen. Wir wägen alles ab, bleiben in unserer Antwort schwammig, wechseln dauernd unsere Meinung, haben keine Standpunkte mehr.

Was uns fehlt, sind geistliche Persönlichkeiten, Männer und Frauen Gottes, die ihr Fähnchen nicht nach dem Wind drehen, sondern die unerschrocken dem Zeitgeist und der Mehrheitsmeinung entgegenstehen, weil sie von ihren persönlichen Tugenden und Werten überzeugt sind. Wir brauchen Persönlichkeiten mit Rückgrat, auf die man sich verlassen kann und die berechenbar sind, weil sie eine feste Basis für ihr Leben gefunden haben. Christen sollten eigentlich solche Menschen sein, weil sie die Konstante des Glaubens in Christus haben. Der Wunsch nach Tiefgang und ganzheitlichen Konzepten sollte uns Christen anspornen, durch die praktische Tat der Nächstenliebe und durch sichtbare Beispiele in Familie und Beruf auf den Glauben an Christus hinzuweisen. Eine ruhige, ausgeglichene Art in der Hektik und im Streß des Alltags kann mehr bewirken als jedes Traktat. Ein bewußter Verzicht auf unnötige Konsumgüter, ein rechter Umgang mit Medien, ein gesundes Familienleben, eine stabile Ehe oder ein mutiges Nein zu Homosexualität und Abtreibung sind auffallende Positionen, die für sich selbst sprechen. Der moderne Mensch wird hellhörig, wenn er Leute mit einem festen Standpunkt trifft. Wir brauchen Persönlichkeiten, die sich von Gott gebrauchen lassen und bereit sind, anzupacken.

Auch in evangelikalen Kreisen interessiert sich heute kaum noch jemand für Theologie und Dogmatik. Schon die Nennung dieser Stichworte ruft bei vielen Gemeindegliedern Horrorvisionen und Proteste hervor. Man denkt an langweilige Orthodoxie, lehrmäßige Streitereien und gesetzliche Enge. Was reicht, sind ein paar Jüngerschaftskurse. Für Anspruchsvolleres hat man keine Zeit. Slogans ersetzen die Theologie. Schnellmethoden verdrängen die Bibelstudien. Für manche ist es einfach zu anstrengend, sich intellektuell mit z.T. abstrakten Wahrheiten auseinanderzusetzen. Man ist der Reflektion müde, die Praxis siegt über die Theorie, das Denken wird abgeschaltet. Peter Berger sah diese Entwicklung schon Anfang der 60er Jahre voraus und warnte:

"Wenn Kirchen die Theologie aufgeben oder mißachten, dann geben sie die intellektuellen Werkzeuge preis, mit denen der christliche Glaube ausgedrückt und verteidigt werden kann."; Der freundliche, nette Evangelikale hat ein fröhliches Herz, aber einen leeren Verstand.4

Was wir brauchen, ist eine bibeltreue, evangelikale Theologie, die auch von der Kultur des Westens wahrgenommen und ernstgenommen wird. Die Beachtung von elementaren dogmatischen Wahrheiten war Jahrhunderte die Mitte des christlichen Glaubens. Der christliche Glaube ist nicht Glaube an irgendetwas, sondern Glaube an bestimmte Wahrheiten. Es gibt keine Erneuerung der Gemeinde Jesu ohne eine Erneuerung der Theologie. Es ist ein verhängnisvoller Trugschluß zu glauben, wir könnten langfristig Gemeinde Jesu bauen ohne ein theologisches Fundament. In den Stürmen der Zeit wird sich keine Kirche längerfristig halten können,die kein theologisches Profil hat. Pastoren, Predigern und Laien steht die große Aufgabe bevor, der Gemeinde die biblische Lehre ansprechend und interessant in ihrer ganzen Fülle darzulegen. Die Predigt muß wieder Predigt des Wortes Gottes werden, sonst verliert sie ihre Vollmacht. Mehrfach fordert uns das Neue Testament auf, zu lehren und in der Lehre zu bleiben (Mt 28,20; Apg 5,28; Kol 3,16; Tit 2,1; 2Jo 9). Schon in der ersten Gemeinde stand die "gesunde" Lehre an vorderster Stelle und war eng mit der Schriftauslegung verbunden. Von den ersten Christen hieß es: "Und sie hörten nicht auf, jeden Tag im Tempel und in den Häusern zu lehren und Jesus als den Christus zu verkündigen" (Apg. 5,42). Bei den Gottesdiensten hatte jeder "eine Lehre" (1Kor 14,26). Timotheus sollte achthaben auf die Lehre (1Tinn 4,16) usw.

Was wir zudem wieder lernen müssen, ist das Denken. Wir haben es verlernt nachzudenken. In einer Medien- und Informationsgesellschaft lassen wir andere für uns denken. Wir werden gelebt, statt selbst zu leben. Wann nehmen wir uns endlich eine Stunde Zeit, um über unser Leben nachzudenken? Wann benutzen wir endlich unseren von Gott gegebenen und erneuerten Verstand, um Entscheidungen zu treffen? Paulus spricht davon, daß wir durch die Hinwendung zu Gott einen "erneuerten Sinn" bekommen haben (Röm 12,2). Aber er liegt bei vielen Christen völlig brach. Den Verstand haben Christen tatsächlich manchmal an der Garderobe abgegeben, aber nicht zwangsweise, sondern unnötigerweise und freiwillig. Denken ist anstrengend, aber notwendig. Unser Denken muß sich in einem ständigen Prozeß von den Vorgaben der säkularisierten Kultur lösen und zu den Prinzipien Gottes zurückfinden. Deshalb ist der Kampf um die Moderne auch ein intellektueller Kampf. In einer Zeit, wo die Maßstäbe des Denkens verschwinden, der Irrtum zur Wahrheit und die Wahrheit zum Irrtum umfunktioniert werden, brauchen wir wieder Menschen, die richtig denken. Richtig denken heißt, alle Gedanken "unter den Gehorsam Christi zu stellen" (2Kor 10,5). Es wäre zu wünschen, daß mehr Christen sich an diesem Punkt der Auseinandersetzung einsetzen würden.

 

Nachtext

Quellenangaben

ENTNOMMEN AUS: "TRENDS 2000 - DER ZEITGEIST UND DIE CHRISTEN", BRUNNENVERLAG BASEL UND GIESSEN 1998, S. 247F.

Nach der EMN1D-Umfrage geben 44 Prozent der Jugendlichen an, daß sie keine Vorbilder hätten.

= Kai Diekmann/Ralf Georg Reuth. Helmut Kohl: Ich wollte, Deutschlands Einheit, Berlin: Ullstein, 1996, S. 179.

3 Peter Berger, The Noise of Solema Asseinblies, Garden City: Doubleday, 1961, S. 124. Übersetzung vom Verfasser.

Vgl. die harte Anklage von Os Guinness, Fit

Bodies, Fat Minds: Why Evangelicals Don't Think and What to Do About lt, London: Hodder & Stoughton, 1995.