Zeitschrift-Artikel: Die Hängekanzel - Wilhelm Busch berichtet aus der Gestapo-Haft

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Titel: Die Hängekanzel - Wilhelm Busch berichtet aus der Gestapo-Haft
Typ: Artikel
Autor: Wilhelm Busch
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Titel

Die Hängekanzel - Wilhelm Busch berichtet aus der Gestapo-Haft

Vortext

Text

Gestern habe ich mit dem Architekten über meine Kanzel gesprochen. Unser Kirchenraum soll umgebaut werden. Und da fragte der Architekt, wie man denn nun die Kanzel aufstellen solle. Wie die Gedanken so wandern ... Auf dem Heimweg zogen auf einmal all die vielen Kanzeln an meinem Geist vorbei, auf denen ich das herrliche Evangelium verkündigen durfte. Da fiel mir auch meine wunderliche Hänge-Kanzel ein.

Ich war damals – wohl im Winter 1940 – wieder einmal Gefangener der „Geheimen Staatspolizei“ wegen einer Festpredigt, die ich in einer großen Industriestadt gehalten hatte. Und nun saß ich so trübselig in meiner eiskalten Zelle. Ach was! Zelle! Man hatte einfach in dem großen Keller des Polizeipräsidiums einige Räume hergerichtet für besondere Fälle. Es war schrecklich da unten. Es war die Hölle! Die schmierigen Wände! Die trübselige Dunkelheit! Und vor allem – der dort herrschende Ungeist! Man hörte nur ab und zu das Knallen von Eisentüren, das Schimpfen der Beamten oder das Fluchen aus den Nachbarzellen. Aber dann – gleich am ersten Abend – kam das Schöne. Wir hatten unser Essen bekommen, die Beamten hatten nochmals alle Zellen revidiert. Dann hatte man gehört, wie sie mit ihren harten Nagelschuhtritten den langen Gang hinunter weggegangen waren. Man hatte gehört, wie die große Gittertür vor unserem Kellertrakt zugeschlossen wurde – dann war es still. Nun lag eine lange, lange, schlaflose Nacht auf der kalten, harten Holzpritsche vor uns. Da, was war das? Da sprach doch jemand? Ich fuhr auf. Aber – ich war ja allein! Was war das? Wieder hörte ich eine Männerstimme. Sie sprach flüsternd, aber so deutlich war sie zu hören, als sei ein Mann in meiner Zelle. „Neuer! He! Neuer!“, rief die Stimme. Anscheinend war ich gemeint. Denn ich war ein „Neuer“ hier. „Ja!“, antwortete ich unwillkürlich. Aber das hörte der Fremde offenbar nicht. Denn er rief immer wieder: „He! Neuer!“, und schließlich: „Klettere am Fenster hoch und flüstere zum Fenster raus! Dann können wir uns unterhalten!“ Ich schob das kleine Tischchen unter das Fenster, stieg auf den Hocker, dann auf den Tisch. Wenn ich nun die Arme in die Höhe reckte, konnte ich das hoch gelegene Fenstergitter erreichen. Ich zog mich hoch! Ja, das ist alles sehr einfach gesagt. Aber ich bin nun mal kein großer Turner. So machte die Sache schon einige Mühe. Aber es gelang. Und so kam ich hinter das lustige Geheimnis dieses trüben Gefängnisses: Die Fenster lagen in der Höhe des Erdbodens. Und in ganz geringer Entfernung vor unseren Fenstern erhob sich eine hohe Mauer. Wenn man nun gegen diese Mauer sprach, wurde das in allen Zellen gut vernommen. Es gibt ja so seltsame akustische Erscheinungen. Irgendein Gefangener hatte das irgendwann einmal entdeckt. Und nun wurde das Geheimnis von einem zum anderen Insassen weitergegeben. Da hing ich also nun mit baumelnden Beinen und lernte meine Leidensgenossen kennen. Was war das für eine bunte Gesellschaft! Schieber und Betrüger, Zigeuner und Juden, politisch Verdächtige und sogar eine Prostituierte, Schuldige und Unschuldige, Alte und Junge. Ich war erschüttert über diesen Blick hinter die Kulissen des Lebens. Schon bald wurde offenbar: Es gab eins, was uns alle verband und einte. Das war die ganz große Angst und Verzweiflung. Wir waren alle „in der Menschen Hände“ gefallen. Und sogar die Bibel sagt, dass dies das Schlimmste ist. Unsere Unterhaltung ging natürlich sehr trocken vor sich. Denn lange konnte man sich so frei schwebend nicht halten. Man musste immer wieder loslassen und neue Kräfte sammeln. So stand ich wieder einmal auf meinem Tischchen – atemlos und schnaufend. Ein alter Mann erzählte gerade mit klagender Stimme, dass er nun schon zwei Jahre in diesem Keller saß! Das freche Weib machte lästerliche Bemerkungen dazwischen; da – ja, da ging mir auf einmal ein ganz großes Licht auf: Dies hier sind die Mühseligen und Beladenen, die Zöllner und Sünder, von denen der Herr Jesus immer gesprochen hat! Du bist darum hierher geführt worden, um diesen Elenden das Evangelium zu sagen! Aber – was würde geschehen, wenn ich davon anfinge? Würde nicht ein Hohngelächter der Hölle anfangen? Und dann – ich konnte ja keine langen Erklärungen abgeben. Nach knapp einer Minute musste man die Gitter loslassen, weil die Hände wie Feuer brannten. Es war auf einmal, als wenn alle hier anwesenden Dämonen – und hier war ja der Vorhof der Hölle – mir abrieten. Aber – Gott rief. So zog ich mich wieder hoch und sagte in eine Gesprächspause hinein: „Jetzt werde ich euch ein herrliches Wort Gottes sagen. Hört zu!“ Und dann flüsterte ich gegen die Mauer: „Also hat Gott die Welt geliebt – diese Welt!, dass...“ Kaum hatte ich „Gott“ gesagt, da fegte das freche Weib mit einem lästerlichen Fluch dazwischen. Aber schon fuhren die anderen ihr über den Mund: “Bist du wohl ruhig, Frieda!“ Und dann hieß es: „Mach nur weiter!“ So sagte ich das Evangelium: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Ich fügte noch ein paar Worte hinzu vom brennenden Erbarmen Jesu – dann ließ ich mich fallen. Eine große Stille folgte. Keiner sagte mehr etwas. Sie saßen in ihren dunklen Zellen und – Jesus war zu ihnen gekommen – in ihre Verzweiflung, in ihre Schuld, in ihre Gottlosigkeit, in ihre Nacht. Nun hatte ich meine „Hänge-Kanzel“. Jeden Abend, wenn das allgemeine Gespräch zu Ende ging, hielt ich meine „Mehr-als-kurz-Predigt“. Da hing ich – selber ein Ausgestoßener – lächerlich wie ein Kletteraffe am Gitter. Aber mein Herz war fröhlich. Ich sah keinen meiner Hörer. Ich sah nur dunkel die schreckliche Mauer. Aber man spürte förmlich das gespannte Zuhören. Auch Frieda sagte kein Wort mehr.

Wisst ihr, was mich selbst am meisten bewegte bei dieser seltsamen Verkündigung? Je tiefer man mit dem Evangelium hinuntersteigt in die Abgründe der Menschen, desto heller strahlt die Botschaft von dem Erbarmen des Herrn Jesus.

Nachtext

Quellenangaben

Aus: W. Busch, Kleine Erzählungen, CLV