Zeitschrift-Artikel: Den Lebenden zur Mahnung

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Titel: Den Lebenden zur Mahnung
Typ: Artikel
Autor: Andreas Fett
Autor (Anmerkung):

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Titel

Den Lebenden zur Mahnung

Vortext

»Was ist Krieg? Ein perverser Mangel an Vorstellungskraft – an Erinnerung.« Eli Wiesel

Text

Auch 2014 – im Gedenkjahr des 1. Weltkriegs – werden weiterhin weltweit blutigste Schlachten ausgetragen. Gaza, Syrien, Ukraine, Mali, Irak – es reißt nicht ab. Kriege und Kriegsgeschrei – das apokalyptische „rote Pferd“ reitet unaufhaltsam weiter. Trotz Weltkriegs-Gedenkprojekten, Kon ikt-Forschungsinsti- tuten und UN-Friedensmissionen. Wenn es einen „roten Faden“ durch die Menschheitsgeschichte gibt – dann doch diesen: eine Blutspur. Unser Herr weist in seiner Endzeitrede darauf hin: „Ihr werdet von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Gebt Acht, erschreckt nicht; denn dies muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende“ (Mt 24,6). Gewalt und Bedrohung werden ein Grundmerkmal der Menschheit bleiben, bis ER – der Friedensbringer – wiederkommt. Anlässlich des wiederum schockierenden Völkermordens auch in unserer Zeit nahm ich mir ein vergilbtes Buch hervor: „Kriegsbriefe gefallener Studenten von 1928“. Es enthält eine Sammlung von Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg. Herausgeber: Philipp Witkop, Professor für Germanistik an der Universität Freiburg. Kaum etwas kann tiefer erschüttern. Diese Briefe verschaffen auch heute noch unmittelbare Betroffenheit. Intelligente, aussichtsreiche Jungendliche schreiben in unverhohlener Verzweiflung nach Hause – im ersten Weltkrieg noch ohne Zensur. Hitler ließ 20 Jahre später diese Korrespondenzen stutzen – um alles Kriegskritische gekürzt. Diese Kriegsbriefe gefallener Studenten sind ein Vermächtnis an uns. Sie helfen unserer blassen Vorstellungskraft auf und lassen lebhaft vor uns auferstehen, was in Kriegsgräbern verscharrt liegt. Hier eine kleine Auswahl aus den bewegenden Zeitzeugnissen: › Deutliche Todesahnung „Ich habe wieder einmal einen Tag trüber Ahnungen. Immer wieder kommt dieser Zustand. Ist das bloß der Selbsterhaltungstrieb? Eigentlich ist ja Angst weiter nichts als die Voraussicht nahenden Unheils, dem man durch Vorsicht kaum zu entgehen hofft. Ich sehe meine gesunden Glieder, höre das Krachen der Schrapnells, das Surren der Sprengstücke und komme unwillkürlich zu der Vorstellung, dass auch mich so ein Ding zerreißen kann. Ich habe die Verwundungen gesehen, die solche Geschosse beibringen können. Eisen gegen Menschenfleisch. Süß-gruseliges Todesahnen. Ich will doch noch leben! Wenn‘s nicht allzu vermessen klingt.“ Adolf Witte, Philosophiestudent aus Berlin, mit 25 zwei Tage später gefallen. › Verspätete Wertschätzung „125 Mann unseres Bataillons sind bereits dahin! Oh, über alles geliebte Eltern! In der letzten Nacht, als ich während des heftigen Gefechts keinen Schlaf nden konnte, da eilten meine Gedanken zu Euch in die Heimat. Wer weiß, es kann sein, dass ich euch alle nicht wiedersehe. Da will ich Euch doch noch aus tiefstem Herzen danken für alle eure Liebe und Treue, die Ihr während meines Lebens an mich gewendet habt. Es kommt mir immer mehr zu Bewusstsein, welche herrliche Jugend ich in meinem Elternhaus verleben durfte, dass ich so liebe Eltern habe wie sonst keiner mehr.“ Ulrich Timm, Theologiestudent aus Rostock, mit 18 in Galizien gefallen. › Industrielle Schlachtung „Das ist überhaupt das Scheußliche an diesem Krieg: alles wird maschinenmäßig. Man könnte den Krieg eine Industrie gewerbsmäßigen Menschenschlachtens nennen. Die kürzlich eingeführten Minenwerfer sind das Abscheulichste. Sie werden lautlos abgeworfen und schlagen oft dreißig Mann zugleich kaputt. Man steht im Graben – und jede Sekunde kann so ein Ding krepieren.“ Hans Martens, Technikstudent aus Charlottenburg, mit 23 gefallen. › Entsetzliche Läuterung „Was erlebt man nicht in diesen Feuertaufen! Man reift um Jahre. Der Tod saust. Jeden Augenblick glaubt man getroffen zu werden. Man ist dessen sicher. Vollkommen klar funktioniert das Gedächtnis. Man gedenkt der Eltern. Ein Notschrei ist im Menschen. Gedanken mit Trotz und schließlichem Ingrimm. Weg mit dem Krieg, der scheußlichsten Missgeburt der Menschenlaster! Menschen schlachten sich in Massen ab, ohne sich zu kennen, zu hassen, zu lieben. Fluch den wenigen, die ihn heraufbeschwören. Vernichtung ihnen allen! Denn es sind Bestien, Raubtiere. Krieg dem Krieg! Mit allen Mitteln gegen ihn ankämpfen. Das wird meine eifrigste Aufgabe sein, falls der gütige Weltenlenker mir ein frohes, gesundes Wiederkehren vergönnt. Man wird ein anderer Mensch. Meinen Eltern werde ich als Neugeborener geschenkt, gereifter, einsichtiger; und insofern mögen diese Schrecknisse ihre Berechtigung haben: eine abgrundtiefe, verwerfliche Ausgeburt der Hölle, aber ein entsetzlicher, gründlicher Erzieher der Menschenseele. Großer Gott! Wie kost man mit der Sonne nach so einer Schlachtennacht.“ Knut Peterson, Philosophiestudent aus Berlin, mit 21 in Polen gefallen. › Nibelungentreue Pflichterfüllung „Was das Ganze hier ist? Unverstand dieses Morden und Pflichttreue. Das haben wir Deutschen, glaube ich, allen anderen voraus: das strenge Pflichtbewusstsein. Das bewährt sich in diesem grauenhaften Krieg. Dieses Pflichtbewusstsein miterzogen und gestärkt zu haben, gibt dem Militarismus seine Existenzberechtigung. Natürlich gibt es auch Drückeberger. Aber die Pflichttreue fragt nicht: Ist es gefährlich? Nein, man schießt, man wacht, man buddelt bis 12 oder 1 Uhr, weil es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist. Und das wird dann getan als etwas Selbstverständliches – nicht gern, nicht ungern – natürlich. Wie aus einem inneren, notwendigen Zwang.“ An seinem Sterbetag: „Meine lieben, guten Eltern. Hier ist Krieg, Krieg in seiner allerschrecklichsten Form – und Gottesnähe in höchster Spannung. Es wird nun Ernst. Aber innerlich bin ich frei und froh. Ich liege auf dem Schlachtfeld mit Bauchschuss. Ich glaube, ich muss sterben. Bin froh noch einige Zeit zu haben, mich auf meine himmlische Heimkehr vorzubereiten. Dank Euch, Ihr lieben Eltern! Gott befohlen. Hans“ Johannes Haas, Theologiestudent aus Leipzig, mit 24 vor Verdun verblutet. › Grauenhafte Aufopferung „Eine wütendere Schlacht kann es nicht geben. Soldat gegen Soldat, hass- und wutenbrannte Gegner. Tagelang wird um ein und denselben Quadratmeter Landes erbittert gerungen, bis das ganze Gelände buchstäblich ein Blut- und Leichenacker ist. Ein großes Morden mit Patronen, Äxten, Handgranaten. Auf einer Strecke von 200 Metern 909 Mann Verluste, der Feind Tausende. Das blaue französische Tuch mischte sich am Boden mit dem grauen deutschen. Die Toten lagen stellenweise so hoch, dass man hinter ihnen Deckung vor Artillerie nehmen konnte. Ein Donnern, Krachen, Brüllen, Schreien, als ob die Welt untergehen sollte. Befehle mussten von Ohr zu Ohr weitergebrüllt werden. Und wenn einmal in dem Schlachtenlärm und Stöhnen der Verwundeten eine kleine Pause eintrat, hörte man hoch in der blauen Luft die Vögel jubeln und zwitschern. Der Gesang der Frühlingsvögel! Man hätte sich das Herz aus dem Leib reißen können. Fragt mich nicht nach dem Schicksal der Verwundeten. Wer nicht auf eigenen Beinen zum Arzt laufen kann, muss elendig sterben. Manche haben Stunden, manche Tage, manche eine Woche lang gelitten, bis sie starben. Und die Kämpfenden stürmten in einem fort achtlos über sie hinweg. »Kann dir die Hand nicht geben – bleib du im ewigen Leben – mein guter Kamerad!« Wie glücklich ist dagegen jeder Hund zu preisen, der in heimatlicher Hütte verreckt. Es gibt Augenblicke, in denen es der tapferste Soldat zum Heulen satt hat. Als ich vorhin das Jubeln der Vögel hörte – ich hätte die Welt vor Widersinn und Wut zermalmen können.“ Richard Schmieder, Philosophiestudent aus Leipzig, mit 28 gefallen. › Allertragischste Überwindung „Heute ist Sonntag »Jubilate«. Wer kann aber in diesem Krieg diese Mahnung beherzigen? Gestern Abend ist Ewald auf Patrouille gefallen. Er war erst 18, der einzige Sohn seiner Eltern. Ich kann nicht in Worte fassen, wie mich sein Tod bewegt. In diesen Tagen noch sollte er auf Urlaub fahren, auf den er sich seit Wochen freute. Danach sollte er zum Leutnant befördert werden. Seine Leiche fiel in Feindeshand. Ihr wisst, wie innig wir beide in den letzten Wochen verwachsen waren, in unvergesslichen Stunden, im Gespräch über manch ernster Frage. Wie oft fanden wir uns im gegenseitigen Verständnis und in der gleichen Begeisterung für ideale Ziele. Diese Tragik, die über allem Menschenleben liegt, die einem so oft die Zuversicht rauben möchte! Man kann ihr nur durch die christliche Religion entkommen, deren trostreichen Inhalt ich jetzt erleben darf. In diesem Glauben allein können wir, wenn auch nicht die Lösung all der schweren Schicksalsfragen, so doch ihre innere Überwindung erleben. Ich habe mit Ewald oft über diese Dinge gesprochen. Wir haben oft nachts zusammen zum Sternenhimmel emporgeschaut. Es ist so schwer, urplötzlich einen Freund zu verlieren. Ihn, diesen lebensfrischen, überschäumenden jungen Mann mit seinen leuchtenden großen Augen. Ich werde seinen Blick nie vergessen können. R.i.p.“ Karl Thomas, Theologiestudent aus Dresden, mit 24 an der Somme gefallen. › ... wie ein Kind weinen „Wie hässlich ist die Welt, wie abstoßend, wie schmutzig. Während meines Militärjahres habe ich es mit Händen greifen können. Das Militär ist eine Quelle, aus der Fäulnis aufsteigt, um die Städte zu überschwemmen. Wer vermag sich aus dieser Flut von Schmutz zu retten, wenn Gott ihm nicht hilft? ... Nichts ist durch den Frieden verloren, aber alles durch den Krieg ... Oft konnte ich mich nur noch auf die Knie werfen und wie ein Kind weinen ... Ich werde das Schreien eines Österreichers, dessen Brust durch Bajonettstiche zerrissen worden war, niemals vergessen.“ Angelo Roncalli, Sanitäter und Seelsorger in Italien, der spätere Papst Johannes XXIII. › Spreu oder Korn? Im Sturmgepäck trugen viele der Ersten Weltkrieger handliche Reclam-Ausgaben von Hölderlin, Schiller und Goethe bei sich. In den Briefen der Studenten an die Heimat verbucht jedoch die Bibel mit Abstand die meisten Bezugnahmen. Eintragungen im Einband eines kleinen Taschen- Testamentes: „16. Juni 1915. Lorettohöhe. Starker Angriff. Viele Verluste. Ich bin getrost. Dieses Testament ist hier im Felde mein bester Freund. Ich lese oft darin und bin froh, dass ich es habe. Lieber Vater, ich habe früher oft über deine Frömmigkeit gelacht und habe über das Sprüchelernen geseufzt. Jetzt bete ich diese Verse oft. Sie passen so gut zu meiner Situation. »Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.«“ An seinem Geburtstag: „Heute schreibe ich weiter. Ich will es offen bekennen: Hier zwischen Gräben und Gräbern habe ich meinen Gott und Heiland gefunden. Mein Vater, wie wirst du dich freuen, wenn ich dir das erzähle! In drei Tagen geht es in die Heimat. Vierzehn Tage Urlaub!“ Gottfried W., einziger Sohn seines Vaters Die Bibel mit diesen Eintragungen wurde dem Elternhaus zugeschickt. Der Vater hatte sie seinem Sohn zur Konfirmation geschenkt. Ein kleiner Brief lag dabei: „Gefallen am 8.7.1915. Wir haben ihn alle sehr lieb gehabt. Er war wie ein Heiliger. Diese Augen – diese Ruhe. Ich gebe dieses Buch in die Hände seines Vaters zurück.“ (Unteroffizier Werner) Dazu auch ein Erlebnis aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Joel König – ein junger, untergetauchter Jude – versteckte sich bis 1944 mitten in Berlin. Immer lebte er in Furcht vor Entdeckung und vor dem Abtransport ins KZ. In seinem Großstadt-Versteck, einer abgetrennten Schlafkammer, stand ein riesiges Bücherregal. Nacheinander holte sich Joel in seiner endlosen Langeweile alle Klassiker hervor. Er las und las um sich abzulenken und Trost zu finden. In seiner Biographie schreibt er: „Ich kostete hier, nippte dort, klappte zu und suchte weiter. Schiller, Heine, Nietzsche, Goethe ... Waren diese Bücher stumm, oder war ich taub? Oder hatten mir alle Not und Sorgen den Blick verstellt? Die deutschen Klassiker halfen mir nicht aus meiner stummen Wehrlosigkeit. Die Suche nach Lesestoff führte mich zur Beschäftigung mit der Heiligen Schrift.“ Joel König verschlang das Wort Gottes voller Heißhunger: „Die Reden der Propheten vernahm ich dabei mit so einer Unmittelbarkeit, als hätte ich vor zweieinhalb Jahrtausenden in Jerusalem gestanden. Einmal klingelte ein Unbekannter an der Tür. Ich zuckte zusammen und schlug sofort die Bibel zu. Ich dachte, die stimmgewaltige Rede von Amos könnte mich verraten. Dabei hatte ich nur mit den Augen gelesen.“ (Den Netzen entronnen; Die Aufzeichnungen des Joel König. S 259.) Wann wird die Botschaft dieser trostgewaltigen Stimmen der Propheten endlich zur Wirklichkeit? Wann wird ER richten zwischen den Nationen und Recht sprechen vielen Völkern?

Nachtext

„Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern; nicht wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.“ (Jes 2,4) „ER wird richten zwischen vielen Völkern und Recht sprechen mächtigen Nationen bis in die Ferne. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern; nicht wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.“ (Micha 4,3)

Quellenangaben