Zeitschrift-Artikel: Isaac Watts Dichter und Denker zu Gottes Ehre (Teil 1)

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Titel: Isaac Watts Dichter und Denker zu Gottes Ehre (Teil 1)
Typ: Artikel
Autor: William Kaal
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Titel

Isaac Watts Dichter und Denker zu Gottes Ehre (Teil 1)

Vortext

Text

Der berühmte englische Naturwissenschaftler Isaac Newton bekannte 1676 in einem Brief an seinen Kollegen Hooke, er könne nur deswegen weiter sehen als andere, weil er „auf den Schultern von Riesen“ stehe. Er wollte damit ausdrücken, dass er sich bewusst war, wie viel er den Wissenschaftspionieren vor ihm verdankte, auf deren Leistungen er aufbauen konnte. Die gleiche Demut ist auch in geistlichen Belangen von Nöten, denn auch hier stehen wir auf den Schultern von Riesen und profitieren – oft unbewusst – von ihren Pionierleistungen. Ein solcher geistlicher Riese der Kirchengeschichte ist Newtons Landsmann, Zeitgenosse und Namensvetter Isaac Watts. Der in Deutschland weitgehend unbekannte Liederdichter wird im englischen Sprachraum zurecht als Vater des geistlichen Liedguts bezeichnet, zum einen, weil er mit über 700 Liedern eine unglaubliche ly­rische Schaffenskraft von salomonischer Dimension bewies, zum anderen, weil seine Art, geist­liche Lieder zu schreiben, für viele folgende Generationen richtungsweisend war und bis heute unser Verständnis von Gemeindegesang und damit unseren Gemeindealltag prägt. Wenn wir uns mit Watts und seinem Umfeld des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts beschäftigen, wird uns natürlich manches fremd erscheinen. Doch dieser Blick über den Tellerrand unserer eigenen Zeit hinaus wird uns bescheiden machen und vor „chronologischem Snobismus“ bewahren, wie C.S. Lewis es ausdrückte. In seinen hervorragenden biographischen Abrissen über herausragende Männer der Kirchengeschichte bekennt Piper: „Ich brauche diese Anregung aus einem anderen Jahrhundert, weil ich weiß, dass ich zu einem großen Teil ein Kind meiner Zeit bin.“1 In diesem Sinne sollen hier Watts Leben und sein Einfluss auf das Volk Gottes zumindest angerissen werden. Ein sprachbegabter Sprößling Isaac Watts wurde 1674 als erstes von acht Kindern von Isaac und Elizabeth Watts geboren. Sein Vater war Ältester einer nonkonformistischen Gemeinde im südenglischen Southampton. Als Nonkonformisten oder Dissenter bezeichnete man damals Christen, die aus Überzeugung wegen ihrer Nähe zu römisch-katholischen Lehren und Praktiken nicht mit der anglikanischen Kirche konformgingen. Sie waren geächtet und von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen, beispielsweise war ihnen der Zugang zu Universitäten und öffentlichen Ämtern verwehrt, teilweise wurden sie sogar verfolgt und inhaftiert. So geschah es auch, dass Watts Vater gerade im Gefängnis saß, als Isaac geboren wurde. Seine Mutter stillte ihn häufig auf den Stufen des Gefängnisses, damit sein Vater zumindest sein Schreien hören und – wenn sich die Gelegenheit bot – aus der Gefängniszelle einen Blick auf seinen Sohn erhaschen konnte. Watts Vater legte Wert auf eine gute Bildung und unterrichtete seine Kinder zumindest anfangs selbst zu Hause. Früh erkannte er die geistigen und sprachlichen Fähigkeiten seines Sohnes, und so begann der kleine Isaac bereits mit vier Jahren Latein zu lernen. Mit 9 Jahren folgte Griechisch, mit 11 Französisch und mit 13 Hebräisch. Diese Breite an sprachlicher Grundausbildung trug sicherlich wesentlich zu seiner späteren Leidenschaft für Sprache und seinem geistreichen Umgang damit bei. Schon als Junge zeigte er eine große Vorliebe für das Reimen und antwortete häufig spontan in Reimform. Einmal fragte ihn sein Vater nach dem Familiengebet, warum er gekichert habe. Isaac antwortete, dass er ein Geräusch gehört und die Augen geöffnet habe. Da habe er in der Ecke eine Maus beobachtet, die ein Seil hinaufgeklettert sei. Dabei habe er sofort denken müssen: A little mouse for want of stairs Ran up a rope to say its prayers. Ne kleine Maus lief statt auf Stufen ein Seil hoch, um zu Gott zu rufen. Sein Vater fand das respektlos und begann, ihn körperlich zu züchtigen. Dabei schrie Isaac auf: O father, father, mercy take And I will no more verses make. O Vater, Vater, halt doch ein, dann lass ich auch das Reimen sein. Wir können dankbar sein, dass er dieses Versprechen nicht eingehalten und sein Leben lang zu Gottes Ehre und zum Segen für Millionen das Reimen nicht aufgegeben hat. Doch nicht nur seine lyrische Begabung, auch seine geistliche Einsicht trat außerordentlich früh zu Tage. So dichtete er bereits mit sieben Jahren als Erklärung für seinen Namen folgende Zeilen: I am a vile polluted lump of earth, S o I’ve continued ever since my birth, A lthough Jehovah grace does daily give me, A s sure this monster Satan will deceive me, C ome therefore, Lord from Satan’s claws relieve me. Ich bin ein gemeiner, schmutziger Haufen Erde, und das seit meiner Geburt, obwohl der Herr mir täglich Gnade gibt, so sicher wie das Monster Satan mich verführt: Komm, Herr, befreie mich aus den Klauen Satans. W ash me in thy blood, O Christ, A nd grace divine impart, T hen search and try the corners of my heart, T hat I in all things may be fit to do S ervice to thee, and sing thy praises too. Wasch mich in deinem Blut, o Christus, und gewähre mir göttliche Gnade, prüfe und leuchte die Ecken meines Herzens aus, dass ich in allen Dingen befähigt sein möge, dir zu dienen und deinen Ruhm zu singen. Wie seine Eltern hielt sich Isaac Watts ebenfalls zu den Nonkonformisten, auch wenn ihm das ein Studium an den Universitäten in Oxford oder Cambridge verwehrte, deren Türen ihm aufgrund seines brillanten Intellekts weit offen gestanden hätten. Stattdessen ging er 1690 auf die Dissenting Academy in Stoke Newington, eine nonkonformistische Ausbildungsstätte. In diesem Ort, der heute ein Teil Londons ist, lebte er bis zu seinem Tod 1748. Pionierhafter Psalmpoet Als Jugendlicher litt Watts unter dem steifen Kirchengesang seiner Zeit. Seit Calvin sang man in vielen protestantischen Gemeinden ausschließlich verdichtete Bibeltexte, hauptsächlich Psalmen, so auch in den unabhängigen Gemeinden Englands, die Watts besuchte. Die Psalmworte waren sehr nah am biblischen Original orientiert in feste Reimschemata gepresst und oft schlecht gereimt. Man behauptete, der biblische Psalter sei das von Gott seinem Volk gegebene Liedgut, und darüber hinaus seien keine Lieder nötig. Als Watts sich einmal bei seinem Vater über diesen Umstand beklagte, forderte dieser ihn heraus, es besser zu machen – eine Herausforderung, die Isaac annahm. Als junger Mann dichtete er alle 150 Psalmen neu, wobei er sich die Freiheit nahm, die Aussagen der Psalmen im Licht des Neuen Testamentes zu interpretieren. Sie erschienen später in einer Ausgabe als „Psalmen von David: übertragen in die Sprache des Neuen Testamentes und angewendet auf den Stand eines Christen und seine Anbetung.“ Watts war der Meinung, dass das Evangelium von Jesus Christus Zentrum des Gemeindegesanges sein müsse, und dass eine Beschränkung auf das Singen von Psalmen gerade das ausklammere, wovon sie prophetisch sprechen. Er schrieb: Wenn der Psalmist von der Vergebung durch Gottes Gnade schreibt, habe ich die Verdienste des Retters ergänzt. Wenn er von der Opferung von Ziegen und Ochsen spricht, habe ich eher das Opfer Christi, des Lammes Gottes erwähnt. Und wo er Reichtum, Ehre und ein langes Leben verheißt, habe ich einige dieser Segnungen gegen Gnade, Herrlichkeit und ewiges Leben ausgetauscht, die uns durch das Neue Testament ans Licht gebracht und verheißen sind. Wie diese neutestamentliche Psalm-Interpretation bei Watts aussah, zeigen beispielhaft folgende Strophen aus der Übertragung von Psalm 3. Der Psalm beschreibt Davids Gedanken auf der Flucht vor seinem Sohn Absalom. Watts übertrug ihn auf das Ringen eines Christen um Heilsgewissheit bei Glaubenszweifeln und Ängsten: My God, how many are my fears! How fast my foes increase!  Conspiring my eternal death, They break my present peace. Mein Gott, wie zahlreich sind meine Ängste, wie schnell wachsen meine Feinde an. Sie rotten sich zusammen für meinen ewigen Tod, sie rauben mir den gegenwärtigen Frieden. The lying tempter would persuade There’s no relief in heav’n; And all my swelling sins appear Too big to be forgiv’n. Der lügnerische Versucher will mich überzeugen, dass es keine Hilfe im Himmel gibt; und alle meine anschwellenden Sünden erscheinen zu groß, als dass sie vergeben werden könnten. But thou, my glory and my strength, Shalt on the tempter tread, Shalt silence all my threatening guilt,  And raise my drooping head. Aber du bist meine Herrlichkeit und meine Stärke, du wirst auf den Versucher treten, wirst verstummen lassen die mich anklagende Schuld und mein erschlafftes Haupt erheben. What though the hosts of death and hell All armed against me stood,  Terrors no more shall shake my soul; My refuge is my God. Auch wenn Heerscharen von Tod und Hölle gegen mich gerüstet stehen, der Schrecken soll meine Seele nicht mehr erschüttern, denn meine Zuflucht ist in Gott. In gleicher Weise beschreibt er in seiner Interpretation von Psalm 98 („Joy to the world“) die Freude bei der Ankunft des Herrn, ein Lied, das bis heute in aller Welt in der Adventszeit gesungen wird (dt: „Freue dich Welt“). Leidenschaftlicher Liederdichter Neben der verdichteten Interpretation der Psalmen schrieb Watts viele geistliche Lieder, die die Erfahrungen und Empfindungen eines Gläubigen beschreiben, ohne direkte Übertragungen von Bibelversen zu sein. Das war für seine Zeit revolutionär, und viele kritisierten ihn für diese „uninspirierten Lieder“. Doch Watts argumentierte, dass, wenn wir zu Gott in selbst formulierten Gebeten reden können, anstatt uns nur wörtlich an das Vaterunser zu halten, wir ihn auch in selbstgedichteten Liedern loben dürfen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist sein bekanntes Lied „When I survey the wondrous cross“. Es ist zwar an Galater 6,14 angelehnt, ist aber viel mehr als eine Verdichtung dieser Bibelstelle. Es beschreibt das Nachdenken eines Gläubigen über das Kreuz, das ihn zur Anbetung und Hingabe treibt, in so kunstvoll verdichteten Worten, das es nahezu unverändert bis heute auf der ganzen Welt gesungen wird und von vielen als großartigstes geistliches Lied in englischer Sprache bezeichnet wurde. When I survey the wondrous cross On which the Prince of glory died, My richest gain I count but loss, And pour contempt on all my pride. Wenn ich das wunderbare Kreuz betrachte, an dem der Fürst der Herrlichkeit starb, rechne ich meinen größten Gewinn als Verlust und schütte Verachtung auf all meinen Stolz. Forbid it, Lord, that I should boast, Save in the death of Christ my God! All the vain things that charm me most, I sacrifice them to His blood. Bewahre, Herr, dass ich mich rühmen sollte außer des Todes Christi, meines Gottes. Alle eitlen Dinge, die mich am meisten locken, opfere ich für sein Blut. See from His head, His hands, His feet, Sorrow and love flow mingled down! Did e’er such love and sorrow meet, Or thorns compose so rich a crown? Schau, wie von seinem Haupt, seinen Händen und Füßen, Leiden vermischt mit Liebe fließen. Haben sich jemals solche Liebe und Leiden berührt, oder jemals Dornen eine so reiche Krone gebildet? His dying crimson, like a robe, Spreads o’er His body on the tree; Then I am dead to all the globe, And all the globe is dead to me. Sein purpurfarbenes Blut ergießt sich wie ein Gewand über seinen sterbenden Körper an dem Holz; (wenn ich das sehe) bin ich tot für die Welt, und die Welt ist tot für mich. Were the whole realm of nature mine, That were a present far too small; Love so amazing, so divine, Demands my soul, my life, my all. Wenn das ganze Reich der Natur mein wäre, es wäre ein viel zu geringes Geschenk; so großartige, göttliche Liebe, verlangt meine Seele, mein Leben, mein Alles. Bei der Zusammenstellung einer Liedsammlung für das Mahl des Herrn hat Watts selbst die vierte Strophe weggelassen, wahrscheinlich weil er den Schwerpunkt lieber auf die Reaktion auf das Kreuz als auf die Kreuzigung selbst legen wollte. Viele Liederbücher haben sich daran orientiert, sodass häufig nur vier Strophen zu finden sind. Eine weite Verbreitung fand das Lied – wie viele andere Lieder von Watts auch – durch George Whitefield, der es auf seinen Reisen zur Zeit der Großen Erweckung in den 1740er- und 1750er-Jahren auch in die Neue Welt einführte. Watts Lieder waren hier eine ideale Ergänzung zu Whitefields vollmächtigen Predigten und wurden mancher­orts so populär, dass sie die traditionellen Psalmen innerhalb kurzer Zeit fast vollständig verdrängten. Außerdem erfreuten sie sich schnell großer Beliebtheit unter den afrikanischen Sklaven, von denen viele mit Hilfe von Watts Liederbüchern lesen lernten, und hatten großen Einfluss auf ihre Spirituals. So wurde noch zu Watts Lebzeiten deutlich, wie segensreich für die Gemeinde ein christuszentrierter Liedschatz ist, der durch poetische Schönheit gepaart mit geistlichem Tiefgang gekennzeichnet ist und den Gläubigen in die Anbetung führt. Mit seiner Pionierleistung legte Watts den Grundstein für die Fülle an wertvollen Liedern, die in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten entstanden und die bis heute ein fester Bestandteil unseres Glaubenslebens sind. Wir verdanken ihm viel.

Nachtext

Quellenangaben

Aus John Piper: Beharrlich in Geduld, CLV, 2010, S. 105