Zeitschrift-Artikel: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung

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Titel: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung
Typ: Artikel
Autor: Andreas Steinmeister
Autor (Anmerkung):

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Titel

Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung

Vortext

Text

Der Theologe Dr. Wolfgang Nestvogel (WN) äußert sich kurz nach dem Lutherjahr 2017 zu der Frage: „Was ist eigentlich Rechtfertigung?“ und beantwortet die Frage mit diesem Buch, dem er ein Zitat von Luther in einem Brief an dessen Freund Justus Jonas voranstellt: „Ich berste vor Zorn und Unwillen. Ich bitte, brecht die Verhandlungen ab, hört auf mit ihnen zu unterhandeln und kehret heim … wir haben genug gebeten und getan.“ Das Buch ist eine tiefschürfende und sachlich gute Analyse zu diesem äußerst wichtigen und überfälligen Thema. WN setzt sich mit der Lehre der Rechtfertigung auseinander, so wie es die Reformatoren (insbesondere Luther) sahen, beleuchtet auch die biblische Lehre über die Rechtfertigung aus Glauben mit von ihm gewohnter Klarheit und geistlicher Einsicht und analysiert mit großem Sachverstand die gegenwärtigen ökumenischen Bemühungen und evangelikalen Anpassungsversuche an ökumenische Entwicklungen. Der Autor schreibt sehr flüssig und in einem anregenden Stil. Der Leser wird intensiv mit in die fundamentalen Aspekte des reformatorischen Denkens und die Auseinandersetzung mit der katholischen Rechtfertigungslehre hineingenommen. Die konsequente Bindung an das Wort Gottes, an das „sola scriptura“, „sola fide“, „solus Christus“ und „sola gratia“ durchzieht den Inhalt des Buches und es sollte keine leitenden Brüder aus sog. evangelikalen Gemeinden geben (auch solche aus sog. Brüderversammlungen), die das Buch nicht gelesen haben. Selbst wenn man in dem einen oder anderen Punkt ein klein wenig unterschiedliche Auffassungen vertritt, ist dieses Buch ein „Muss“ für jeden theologisch Interessierten und für jeden, der sich mit Zeitströmungen auseinandersetzt. Die Bedeutung der Rechtfertigung angesichts der EKD-Denkschrift von 2014 Im ersten Teil geht WN auf das reformatorische Thema „Rechtfertigung“ ein, erklärt die Lehren des katholischen Trienter Konzils (1545–1563), zeigt auf, was Katholiken unter dem Formal- und dem Materialprinzip verstehen im Gegensatz zu dem, was Reformierte darunter begreifen und stellt dies auch der EKD-Denkschrift (2014) „Rechtfertigung und Freiheit“ zum Reformationsjubiläum gegenüber und nennt diese „Verrat am reformatorischen Kernbestand“ (S. 26). Mit einem Zitat des ehemaligen Göttinger Theologieprofessors Hans-Joachim Iwand (1899–1960) aus dem Jahr 1941 weist WN darauf hin, in welche Richtung das Schiff „ev. Kirche“ schwimmt: „Iwand äußerte die Sorge, dass die Protagonisten ‚die Einheit der Kirche erstreben und dafür die Reinheit des Evangeliums dahinopfern‘ und dass man in Gefahr stehe, ‚tolerant zu sein, wo man radikal sein müsste, und radikal, wo man tolerant sein darf‘“ (S. 55). Im zweiten Teil befasst sich WN mit der Rechtfertigungslehre anhand des Römerbriefes und analysiert die Auffassungen von dem Professor für Bibelkritik und Exegese C.H. Dodd, dem Neutestamentler Prof. Hans-Joachim Eckstein und den sich an seine Theologie anhängenden und inzwischen heimgegangenen Hans-Peter Royer. In diesem Kapitel stellt WN die Lehre über Sühne und Versöhnung und ihre Verbindung zur Rechtfertigung heraus. Allerdings ist die Aussage „Bevor Gott die Sünder mit sich versöhnte, hat er sich mit den Sündern versöhnt. Insofern ist er zugleich der Versöhner und der zu Versöhnende“ doch etwas bedenklich. Liegt das vielleicht an der Übersetzung von 2.Korinther 5,19, wo er auf Seite 77 schreibt: „Das objektive Heilshandeln Gottes (der in Christus die Welt mit sich selbst versöhnte – 2Kor 5,19) schafft erst die Voraussetzung für die Versöhnung des Sünders, …“. Wenn man 2.Korinther 5,19 wörtlich übersetzt, werden hier drei Präsenspartizipien gebraucht: Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend (katallasson [Part. Präs]), ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend (logizomenos [Part.Präs]), und niederlegend (themenos [Part.Präs. Med]) in uns das Wort der Versöhnung. Das bedeutet meiner Ansicht nach: Gott war in Christus, als dieser die Welt besuchte und am Kreuz starb, und indem ER in Christus war und nicht richtete, sondern sich richten ließ, bot ER sozusagen seine Hand der Welt dar, um Frieden anzubieten, aber er hat die Welt nicht versöhnt. Wenn man die Verse 17–20 liest, dann geht es um folgende Reihenfolge: In Christus sind wir Gläubigen eine neue Schöpfung; diese „neue Schöpfung“ konnten wir nur werden, weil Gott sich mit uns durch Christus versöhnt hat (katallaxantos, Aor. Part); so hat er uns den Dienst der Versöhnung gegeben (dontos, Aor. Part.). Was ist der Dienst der Versöhnung? Nämlich, dass „Gott in Christus war …“ Benötigt Gott Versöhnung? Gott brauchte keine Versöhnung, aber wir Menschen benötigen sie. Der Zorn Gottes richtet sich gegen die Sünder, aber Er fand in Christus den „Blitzableiter“, den „Sündenbock“, den Stellvertreter für seinen Zorn. Und jeder, der jetzt in Buße und Glauben zu diesem „Sündenbock“ kommt, zu IHM Zuflucht nimmt, erhält Vergebung und wird versöhnt mit Gott ohne ein einziges Werk, ja, darf Frieden mit Gott haben (Röm 5,1). Gott hat keine Versöhnung nötig, weil er nicht schuldig war und ist an dem Unfrieden mit der Menschheit. Dadurch, dass WN die Übersetzung in 1.Johannes 1,2: „Und er ist eine Sühnung für unsere Sünden, aber nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt“ übernimmt, kommt er auf Seite 109 zu der Auffassung: „Am Kreuz hat Gott die Sünden aller Zeiten in Christus gerichtet.“ Ich setzte voraus, dass WN meint: Die Sünden der Gläubigen, ansonsten würden alle Menschen gerettet, weil Gott ja nicht zweimal richtet. Die Allversöhnung lehnt WN radikal ab, das kommt in diesem Buch deutlich zum Ausdruck. Es heißt aber in 1.Johannes 2,2: „Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die ­unseren, sondern auch für die ganze Welt“ (alla kai peri holou tou kosmou). Christus ist also nicht die Sühnung für die Sünden der ganzen Welt, sondern die Sühnung für die ganze Welt. Ganz bewusst wird hier das Stützpronomen ausgelassen, um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, dass ja mit der Sühnung auch die Sünden aller Menschen vergeben sind. Sühnung (in Römer 3,25: Gnadenstuhl; auch Sühnungsmittel) bezeichnet sozusagen das Angebot Gottes, die ausgestreckte Hand, die einlädt, die ER allen Menschen entgegenstreckt. Als Gläubige können wir aber sagen, dass ER das Sühnungsmittel für unsre Sünden ist. Ich würde auch nicht schreiben: „Gott adoptiert Sünder als seine Kinder“ (S. 80), denn im NT werden Kinder immer als „aus Gott geboren“ bezeichnet (Joh 1,12–13; 1Joh 4,4). Die „Neue Paulusperspektive“ und weiterer „ökumenischer Treibstoff“ Im dritten Kapitel setzt sich WN mit der Neuen Paulusperspektive (NPP) von N.T. Wright auseinander, die meint, dass die Reformatoren Paulus missinterpretiert hätten1 und stellt sehr deutlich heraus, dass diese NPP eine Neudeutung des Gerechtigkeitskonzeptes (S. 131) und eine neue Rechtfertigungslehre verkündigt (S. 148). Mit ihrer Hermeneutik untergrabe sie das sola scriptura (S. 152) und sei damit „ökumenischer Treibstoff und Druckverstärker“ (S. 149). „Im Kampf um die Rechtfertigung erweist sich die NPP als Totalangriff auf die Substanz des Evangeliums, mit dem eine bibeltreue Theologie keine Kompromisse schließen darf. Die Behauptung, dass die Reformatoren bei diesem Lehrstück den biblischen Befund verfehlt und verfälscht hätten, kann durch einen Vergleich der Texte zweifelsfrei widerlegt werden.“ (S. 155) Reicht die Zustimmung zum „Apostolikum“? Im vierten Kapitel untersucht WN die sog. „Gemeinsame Erklärung“ (GER) aus dem Jahr 1999, in der sich Katholiken und Lutheraner auf ein gemeinsames Bekenntnis zur Rechtfertigungslehre einigten. Im Zuge seiner Auseinandersetzung werden auch Texte und Verhaltensweisen zwei weiterer Theologen näher analysiert: die des evangelikalen Theologen Prof. Dr. Schirrmacher und die des Katholiken Johannes Hartl vom Gebetshaus Augsburg, der bei Willow Creek schon eingeladen worden war und auch zum Männertag in Wiedenest gesprochen hat. Zum Schluss weist WN auch noch darauf hin, dass nun auch ProChrist – wie nicht anders zu erwarten war – durch ein Einladungsschreiben „Gemeinsam zum Glauben einladen“ für 2018 eine bundesweite Veranstaltungsreihe über das sog. Apostolikum plant. In der Einladungsschrift heißt es: „Genau deswegen wollen wir den Glauben zum Thema machen: wie ein roter Faden wird sich das apostolische Glaubensbekenntnis durch die Themen ziehen. Darin ist in Kürze formuliert, dass wir Christen glauben und was uns über die Grenzen verschiedener Konfessionen hinweg verbindet: der Glaube an Gott, der die Welt geschaffen hat und jeden Menschen unendlich liebt. Für jeden Menschen persönlich, aber auch für unser Zusammenleben in Deutschland und in Europa sind die Fragen des Glaubens entscheidend. Deswegen schaffen wir Raum für die Begegnung mit Menschen jeden Glaubens, möchten aber ganz klar zum Glauben an Jesus Christus ermutigen.“ Der Kommentar von WN: „Christ ist also, wer dem apostolischen Glaubensbekenntnis zustimmt, alles weitere wäre demnach diskutable Verhandlungssache. Und kaum einer hat’s gemerkt, viele machen weiter, als sei nichts geschehen“ (S. 211). Der Leser wird auch manche interessanten lateinischen Wörter aus der theologischen Fachsprache kennenlernen, wie „norma normens“ und „norma normata“, Materialprinzip und Formalprinzip, „sola gratia“ und „gratia infusa“. Diese werden aber gut erklärt. Ein wirklich wertvolles Buch, sehr lesenswert, aufrüttelnd, wenn man denn noch nicht geistlich eingeschlafen ist. Möge der HERR dieses Buch segnen in einer Zeit zunehmender Verweltlichung und Anpassung an den Zeitgeist.

Nachtext

Mit Erstaunen nimmt man wahr, dass die Kommentarreihe von N.T. Wright im Brunnenverlag erschien. Es ist erschreckend, wie das geist­liche Unterscheidungsvermögen unter den Gläubigen schwindet.

Quellenangaben