Zeitschrift-Artikel: Bolivien – das Land, wo Einheit nur ein Wort ist

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Titel: Bolivien – das Land, wo Einheit nur ein Wort ist
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
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Titel

Bolivien – das Land, wo Einheit nur ein Wort ist

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Text

„La unión es la fuerza“ – „Die Einheit ist die Stärke“ – so lautet der Wahlspruch dieses Vielvölker-Staates, dessen wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme ironischer Weise zum großen Teil ausgerechnet in der fehlenden Einheit bestehen. Im Oktober diesen Jahres hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, dieses interessante und in jeder Beziehung vielfältige Land ein wenig kennenzulernen. Der deutsche Missionar Rudi Rhein lebt mit seiner Frau Ina und einigen jungen Ehepaaren und Helfern aus Deutschland seit vielen Jahren in Guayaramerin – einer kleinen Stadt an der Grenze zu Brasilien. Er arbeitet dort für den Herrn und hatte mich schon vor Jahren zu einem Besuch eingeladen. Und so landete ich am 17. Oktober nach einer langen Flugreise über Caracas und Lima in Santa Cruz, der größten Stadt Boliviens, mit ca. 1,7 Millionen Einwohnern. Einige Zahlen ... Bolivien ist mit 1.098.581 km2 etwa drei Mal so groß wie Deutschland, hat dabei aber nur ca. 11 Millionen Einwohner, die aus etwa 40 ethnischen Gruppen bestehen. Sie sprechen inzwischen aber alle Spanisch und können zu 97% lesen und schreiben. Das Klima dort ist so vielfältig wie die Landschaften. Im Hochland der Anden - mit Bergen von 6.500 m Höhe und dem Titicaca-See, dem höchstgelegenen See der Erde, muss man sich warm anziehen, während man im tropischen, dünnbesiedelten Tiefland bei 95% Luftfeuchtigkeit Tagestemperaturen von 40°C ertragen muss. Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas: über 50% der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro Tag, obwohl das Land reich an Bodenschätzen ist und in Bolivien z.B. das weltweit größte bekannte Vorkommen des Leichtmetalls Lithium zu finden ist, welches in Zukunft von wachsender Bedeutung für die Herstellung von Akkumulatoren sein wird. Hauptwirtschaftszweig bleibt allerdings nach wie vor der Anbau und die Verarbeitung von Koka, einer Pflanze, die nicht nur Rohstoff für Kokain ist, sondern deren Blätter als Tee und Genussmittel („mate de coca“) sehr beliebt sind. Da der derzeitige sozialistische Präsident Morales vor seiner Wahl im Jahr 2005 der Koka-Bauern-Bewegung angehörte, wird der Koka-Anbau landesweit unterstützt und – natürlich illegal – zur Herstellung von Kokain mit all den schlimmen Folgen genutzt. Evo Morales Freundschaft zu Chavez (Venezuela) und den Brüdern Castro (Kuba) hat u.a. zur Folge, dass es in Bolivien zumindest offiziell kein Coca-Cola mehr zu kaufen gibt. Das ist das symbo- lische Zeichen dafür, wie man politisch zu den USA steht und dass man sich mit Nordkorea und Kuba solidarisiert, wo ebenfalls Coca-Cola nicht importiert werden darf. Ansonsten ist das Land sehr fruchtbar - im Tiefland gibt es jährlich zum Teil drei Ernten, hier wachsen tropische Früchte in einer für uns unvor- stellbaren Fülle und Vielfalt, während im Hochland dem Klima entsprechend andere Obst- und Gemüsesorten geerntet werden. Da aber die Transportwege in diesem großen Land äußerst schlecht sind – es existieren nur ca. 3.000 km asphaltierte Straßen, was bedeutet, dass 95% aller sonstigen Schotter-Pisten oder Feldwege während der Regenzeit unpassierbar sind – kann dieser landwirtschaftliche Reichtum kaum genutzt oder wirtschaftlich verarbeitet werden. Die religiöse Situation Offiziell gehören etwa 92% der Römisch-Katholischen Kirche an, in welcher der charismatische Flügel recht aktiv ist. Daneben gibt es eine große Anzahl evangelikaler Gemeinden verschiedenster Prägung und auch charismatische Gemeinden, die durch teilweise extreme Lehren (u.a. „Wohlstands-Evangelium“), Großveranstaltungen und Lautstärke auf sich aufmerksam machen und viele Menschen anziehen und doch betrügen. Sekten wie Mormonen und Zeugen Jehovas arbeiten verstärkt im Land, während andere Religionen wie der Islam oder Bahai kaum eine Rolle spielen. Erstaunlich war für mich, dass es in Bolivien eine Menge sog. „Brüderversammlungen“ gibt. Genaue Zahlen konnten mir nicht genannt werden, einige sprachen von etwa 200 bis 400 Gemeinden, andere von 600 Gemeinden, die teilweise bereits viele Jahrzehnte im Land existieren und die meistens vor vielen Jahrzehnten durch die Arbeit von schottischen Missionaren entstanden sind. Eine dieser großen Gemeinden in Santa Cruz hatte mich für die erste Woche eingeladen, um dort Vorträge auf der Gemeinde-Abendbibelschule, einer Gemeinde-Konferenz und einer Jugend-Konferenz zu halten. Notstand in Sachen Literatur Die spanische Literatur, die wir zum Anlass der Konferenzen ins Land geschickt und auch per Koffer mitgebracht hatten, war gleich am ersten Konferenz-Abend völlig ausverkauft. Dieses unerwartet große Interesse an guter geistlicher Literatur hat verschiedene Ursachen. Es gibt in spanischer Sprache eine große Auswahl an guten Kommentaren, Nachschlagewerken und erbaulichen Büchern, die allerdings für die dortigen Verhältnisse sehr teuer und für viele ärmere Geschwister kaum bezahlbar sind. Dazu kommt, dass alle Bücher importiert werden müssen – meist aus den USA, aber auch aus Kolumbien und Brasilien – und durch hohe Zölle und Transportkosten zusätzlich teurer werden. Die wenigen christlichen Buchläden, die es in Bolivien gibt, können kaum existieren und viele von ihnen haben in den letzten Jahren ihre Arbeit eingestellt. Tatsache ist aber auch, dass in Lateinamerika allgemein eine Leseträgheit zu beobachten ist, die einerseits aus dem ständigen Fernsehkonsum resultiert und andererseits Geschwister fehlen, die selbst begeisterte Leser sind und zum Lesen herausfordern und die junge Generation zum Lesen erziehen. Eine Ausnahme bildet Carlos, der Leiter der Gemeinde-Bibelschule in Santa Cruz, der mit großer Freude Bücher während der Konferenz vorstellen konnte, durch die er selbst gesegnet wurde. Diese Bücher waren in der Pause sofort ausverkauft und müssen nun in großen Mengen besorgt und nachgeliefert werden. Hier liegt also ein großes Aufgabengebiet vor uns und wir hoffen mit Gottes Hilfe diesen Notstand in Zukunft zumindest etwas lindern zu können. Die Mitarbeit und das Interesse während der Konferenzen war über Erwarten groß – wobei der erstaunliche Anteil jüngerer Geschwister sehr ermutigend war. Kuriositäten ... „Hier werden Mennoniten freundlich bedient!“ So konnte man von weitem in großer Schrift und in deutscher Sprache an einer riesigen Hauswand lesen. Eigentlich hätte ich es wissen müssen, dass es im Umkreis von Santa Cruz eine große Anzahl mennonitischer Kolonien gibt. Aber ich hatte mich nicht genügend auf die Reise vorbereiten können und so fiel ich aus allen Wolken, als mein Begleiter und Übersetzer Rudi mich in einen kleinen Stadtteil führte, wo diese Mennoniten an einigen Tagen der Woche ihre Geschäfte erledigen. Die Männer mit ihren typisch dunkelblauen Latzhosen und Hüten, die Frauen mit bunten und langen Gewändern - und überall wird Plattdeutsch geredet und verhandelt. Ich erfuhr, dass es sowohl traditionelle, sehr strenge Gruppen gibt, wie auch liberale, die zwar großen Wert auf Äußerlichkeiten legen und sich dadurch sehr von ihrer Umgebung abheben, aber leider oft ein Doppelleben führen. So wurde von einigen großen Gemeinden berichtet, wo Sonntags die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt ist, aber vom Prediger traditionell eine Predigt aus dem 17. Jahrhundert in Hochdeutsch vorgelesen wird, was kaum jemand versteht - aber den Großteil der Gemeinde zum Kirchenschlaf veranlasst. Die Folge ist, dass vielfach die Tradition sehr streng gewahrt wird, aber kaum geistliches Leben vorhanden ist. Diese tote Frömmigkeit wird der Nährboden für Unmoral übelster Art, wovon leider auch die Tagespresse berichtet. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass sich Geschwister aus den erwecklichen mennonitischen Gemeinden in Bielefeld vor einigen Jahren aufgemacht haben, um dort unter diesen traditionellen Mennoniten in Bolivien zu arbeiten, das Evangelium durch Wort und Tat zu verkündigen und auch neue Gemeinden zu gründen. Dort können die zum lebendigen Glauben gekomme- nen Mennoniten eine geistliche Herberge und Gemeinschaft erleben Und genau diese Geschwister aus Deutschland, die mir aus der Vergangenheit gut bekannt waren, traf ich zu meiner Verblüffung und zum Erstaunen dort in Santa Cruz, wo sie einen christlichen Buchladen betreiben, der nur deutsche christliche Bücher und fast ausschließlich die mir bestens vertraute CMV- und CLV-Literatur diesen traditionellen Mennoniten anbieten. Natürlich haben wir gleich Pläne geschmiedet, auf welchen Wegen wir in Zukunft auch gemeinsam spanische Literatur preisgünstig ins Land bringen und verbreiten können. Vom Urwald umgeben ... Nachdem wir eine ereignisreiche und gesegnete Woche in Santa Cruz verbracht hatten, flogen wir mit einem kleinen Propeller-Flugzeug in das etwa 1.300 km entfernte, dünnbesiedelte, tropische Tiefland, wo wir auf einer kleinen Piste fast wie auf einem Bauernhof landeten. Hier in Guayaramerin, einer kleinen, vom Urwald umgebenen Stadt, nur durch einen Nebenfluss des Amazonas von Brasilien getrennt, lebt und dient mein Freund und Übersetzer Rudi mit seiner Familie und zahlreichen Mitarbeitern auf einer Missionsstation, die vor Jahrzehnten von dem Missionar Wilhelm Biester und seiner Frau gegründet wurde. Nur wenige Kilometer entfernt wird die sehr schön gelegene und große Freizeit-Anlage „Nueva Canaan“ betrieben, wo in allen Ferien Freizeiten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten werden und womit eine große und gesegnete evangelistische Arbeit verbunden ist. Hier in „Nueva Canaan“ hatten die Geschwister eine Konferenz organisiert, wo tagsüber etwa fünf Stunden Vorträge zu halten waren und jeweils abends Vorträge in den verschiedenen evangelikalen Gemeinden stattfanden. Zu ihrer Abwechslung und Freude wurden die Konferenz-Teilnehmer mit einer Art Viehwagen dorthin transportiert. Tagsüber waren etwa 100 – 120 Geschwister (meist verant- wortliche Brüder) anwesend, die sehr interessiert waren und viele Fragen hatten. Abends in den Gemeinden waren – je nach Größe – zwi- schen 200 und 350 Besucher anwesend. Wie in Santa Cruz gab es auch hier einen Jugendabend, der sehr gut besucht wurde und bei dem viele zu spät Kommende stehen mussten. Als Thema hatte man gewünscht: „Freundschaft – Liebe – Sexualität“. Grund dafür war die Tatsache, dass nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Gemeinde-Jugend die sexuelle Unmoral sehr hoch ist. Verschiedene Brüder äußerten, dass man schätzt, dass nur etwa die Hälfte der Jugendlichen aus christlichen Familien „sauber“ in die Ehe gehen. Auch auf diesem wichtigen Gebiet fehlt es an Vorbildern, an guter Literatur und an biblischer Unterweisung. Den Tod „im Nacken“ ... Der Rückflug nach Deutschland begann buchstäblich bedrückend in einem kleinen Flugzeug von Guayaramerin nach Santa Cruz. Man konnte nur gebückt zu einem der 16 Sitzplätze gelangen. Mein Platz war am hintersten Ende der Sitzreihe. Hinter mir – und nur durch ein Netz abgetrennt – befand sich ein in Folien gewickelter Sarg, in dem ein vor wenigen Tagen verstorbener junger Mann lag. Kurz vor dem Abflug hatte man ihn umständlich in das Flugzeug gehievt, da er zur Beerdigung ins Hochland nach La Paz überführt werden sollte. Die trauernden und weinenden Eltern und Verwandten vor mir und der Sarg hinter mir – das waren die letzten Eindrücke, die mich auf dem Weg in die Heimat begleiteten und eine ernste Mahnung waren, die noch verbleibende Zeit im Licht der Ewigkeit und zur Ehre unseres Erlösers zu leben. „Die Zeit ist kurz, o Mensch sei weise und wuch‘re mit dem Augenblick. Nur einmal machst du diese Reise – lass eine gute Spur zurück!“

Nachtext

Quellenangaben