Zeitschrift-Artikel: Bereit und aufrichtig - Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin - Teil 3: Vorurteile und umstritt ene Lehren

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Titel: Bereit und aufrichtig - Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin - Teil 3: Vorurteile und umstritt ene Lehren
Typ: Artikel
Autor: Gerrit Alberts
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Titel

Bereit und aufrichtig - Zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin - Teil 3: Vorurteile und umstritt ene Lehren

Vortext

Text

Verbreitete Vorurteile

Über Calvin gibt es verschiedene Vorurteile: Er habe sich zu einer Art Diktator entwickelt, sei engstirnig und unversöhnlich gewesen. Diese Vorwürfe halten einer Überprüfung nicht stand. Calvin war nie Mitglied der Stadtregierung und auch nicht der Gerichtsbehörde. Die meiste Zeit ließ er sich nicht einmal als wahlberechtigter Bürger Genfs führen, um jeglichen Vorwürfen in dieser Hinsicht zu begegnen. Unter den Reformatoren hatte er eher eine vermittelnde und verbindende Rolle. Zu den faszinierenden Eigenschaften der Heiligen Schrift gehört u.a., dass die Fehler, Sünden und Charakterschwächen der Menschen, die Gott gebraucht, nicht verschwiegen werden. Aber sie macht auch deutlich, dass Gott gerade solche Menschen gebraucht, die sich in seiner Gegenwart ihrer ganzen Erbärmlichkeit und Unwürdigkeit bewusst geworden sind. „Gott schafft alles aus nichts, und alles, was er gebrauchen will, macht er zuerst zu nichts!“, behauptet der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Obwohl Calvin ein Kind seiner Zeit war, ist er doch, unterwiesen durch Gottes Wort, weit über das allgemeine Denken seiner Zeit hinausgeführt worden. Andererseits war er natürlich auch in dem Denken und den Fehlern seiner Zeit gefangen. Das wird vielleicht in seinem Umgang mit den Irrlehrern, namentlich mit Servet, am deutlichsten. Auch seine Beurteilung der sogenannten Wiedertäufer und seine Befürwortung der Hexenverfolgung sind wenig rühmlich. Den Widerstand gegen die Kindertaufe schrieb er dem Satan zu.1

Die doppelte Erwählungslehre

Die wahrscheinlich umstrittenste Lehre Calvins ist die der doppelten Vorherbestimmung. Er schrieb „von der ewigen Erwählung, kraft deren Gott die einen zum Heil, die anderen zum Verderben vorbestimmt hat“.2 „Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluss einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheim geben will“3, lehrte Calvin und hat selbst diese Frage als eine „verwickelte“ bezeichnet. Auch spricht er von „der Dunkelheit“ dieser Lehre. Er versuchte mit der Erwählungslehre zu zeigen, dass wir ganz in Gottes Hand und völlig auf seine Gnade angewiesen sind. Aus ihr würde die „süße Frucht“ zutage treten, dass wir ohne diese Lehre „nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, dass unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes hervorfließt“.4 Nun lehrt die Heilige Schrift meines Erachtens deutlich, dass Gott die Erlösten vor Grundlegung der Welt erwählt hat (Eph 1,4), dass er sie von Anfang an zum Heil erwählte (2Thess 2,13), dass er sie zuvorbestimmte, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein (Röm 8,29) usw.5 Eine Erwählung zur Verdammnis lehrt die Heilige Schrift meines Erachtens an keiner Stelle. Unser begrenzter Verstand sagt, dass die zweite Lehre aus der ersten folgt. Aber wir überschätzen unseren Verstand, wenn wir meinen, Gottes Handeln mit unserer begrenzten Logik erfassen zu können. Eine Bibelstelle, die unsere Gedanken in die richtige Richtung lenken kann, ist Röm 9,21-23: „Wenn aber Gott, willens seinen Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, mit viel Langmut ertragen hat die Gefäße des Zorns, die zubereitet sind zum Verderben, und damit er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat …“ Von den Gefäßen der Begnadigung steht ausdrücklich, dass es Gott ist, der sie zur Herrlichkeit bereitet hat, und dass er sie zuvor bereitet hat. Von den Gefäßen des Zorns heißt es einfach, dass sie zum Verderben bereitet sind. Nach Röm 2,5 und 2Petr 2,1 sind es die Unerlösten selbst, die sich Zorn aufhäufen und Verderben zuziehen.6

Zeit für einen Gottesstaat?

Calvin hatte die Vorstellung – ähnlich wie im Alten Testament und in Zukunft im 1000-jährigen Reich – eine Theokratie, oder genauer gesagt eine Bibliokratie, zu errichten, das heißt einen Staat, der von Christen und nach biblischen Maßstäben regiert wird. Dabei übersah er, dass die Zeit, in der das Reich Gottes, in Macht kommend (Mk 9,1), noch nicht da ist. Zweifellos verheißt die Bibel, dass die Erlösten mit dem Christus herrschen werden (Offb 5,10; 20,4). Dies wird dann der Fall sein, wenn der Herr Jesus wiederkommt in Macht und großer Herrlichkeit. Bis dahin ist den Jüngern Jesu bestimmt, seine Leiden und seine Verwerfung in dieser Welt zu teilen (1Petr 4,13; Joh 15,20). Leider sind die Folgen dieser falschen Weichenstellung bei vielen Menschen, die durch Calvin beeinflusst wurden, deutlich zu spüren. Die Hugenotten in Frankreich griffen zum Schwert, um sich zu verteidigen. Der puritanisch geprägte Oliver Cromwell versuchte ebenfalls, eine Theokratie zu errichten. Wahrscheinlich fügte er damit dem christlichen Zeugnis wesentlich mehr Schaden als Nutzen zu. Die puritanische Vorstellung eines Gottesstaates hat bis zum heutigen Tag in den USA deutliche Auswirkungen. Zu welch unguten Verwicklungen und tragischen Konsequenzen die Vermengung von kirchlicher und staatlicher Autorität führte, wird besonders an den Prozessen gegen Bolsec und Servet deutlich. Bolsec, ein ehemaliger Karmelitermönch, der sich der Reformation zuwandte, argumentierte in einer Pastoren-Versammlung gegen die Prädestinationslehre Calvins und beschuldigte ihn, Gott zum Urheber der Sünde zu machen.7 Der anwesende Polizeichef ließ ihn umgehend festnehmen. Bolsec wurde der nicht schriftgemäßen Lehre und der Störung der gemeindlichen Eintracht angeklagt und vom Genfer Rat für immer aus Genf verbannt.

Das Drama „Servet“

Noch tragischer war die Angelegenheit mit Servet. Michael Servet war Theologe und Arzt und hatte über Jahre hin brieflich und durch Veröffentlichungen mit Calvin über Lehrfragen gestritten. Servet bekämpfte die Lehre der Dreieinigkeit, aber auch das Dogma der Erbsünde, der Kindertaufe und der Rechtfertigung.8 Er schrieb etwa 30 Briefe an Calvin und war der Meinung, dass das Christentum durch die katholische Kirche und die Reformation verstümmelt worden sei. 1546 hatte Calvin an Farel geschrieben: „Wenn er jemals in meinen Einflussbereich (nach Genf) kommt, soll er mir nicht lebend davonkommen.“ 1553 wurde Servet in Vienne von der katholischen Inquisition gefangen genommen, wobei Calvin belastendes Material zur Verfügung stellte. Es gelang Servet, aus dem Gefängnis in Vienne zu entkommen und er floh ausgerechnet nach Genf! Dort wurde er verhaftet. Calvins Sekretär Nicolas de la Fontaine reichte eine 39 Punkte umfassende Klage beim Rat der Stadt ein. Servet wurde zum Tod durch Verbrennen verurteilt. Calvin versuchte zu erreichen, dass das Urteil in die weniger grausame Todesstrafe der Enthauptung geändert wurde, was jedoch nicht gelang. Am Tag der Hinrichtung besuchten Calvin und Farel den Verurteilten. Servet flehte um Gnade und bat Calvin um Vergebung. Dieser sagte, dass es nicht um persönliche Beleidigungen gehe. Calvin und Farel unternahmen einen letzten Versuch, Servet von seiner Meinung über die Dreieinigkeit abzubringen, scheiterten jedoch.9 Servet wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dieser traurige Vorgang hat der Reformation und dem Werk Calvins sehr geschadet. Gab es einen prinzipiellen Unterschied zu den Ketzerverbrennungen durch die katholische Inquisition? Fairer Weise muss man anmerken, dass Calvin bei Servet die Todesstrafe für angemessen hielt, weil er in ihm einen Irrlehrer sah, der das ganze Gebäude der Reformation bedrohte. Übrigens hat Servet auch seinerseits die Todesstrafe für Calvin gefordert. Nie hat Calvin etwa einen Katholiken deswegen, weil er ein Katholik war, verfolgen oder gar töten lassen, während gleichzeitig in vielen Ländern zahllose Protestanten einfach nur deshalb, weil sie Protestanten waren, einen schrecklichen Tod erleiden mussten. An der Hinrichtungsstätte errichteten Genfer Bürger 350 Jahre später einen Gedenkstein mit der Inschrift: „Als ehrerbietige und dankbare Söhne unseres großen Reformators Calvin verwerfen wir den Irrtum, der hier aus dem Geist jener Zeit und entgegen dem großen Gut der Gewissensfreiheit, die zu den wahren Grundlagen der Reformation gehört, begangen wurde, und haben dazu dieses Denkmal errichtet, enthüllt am 27. Oktober 1903.“10

Calvins Vertrauen auf die Vollkommenheit von Gottes Wort

In seinem Testament schrieb Calvin: „Ich habe mich bemüht, sowohl in meinen Predigten als auch in meinen Schriften und Kommentaren das Wort Gottes rein und zuchtvoll zu predigen und getreulich seine geheiligten Schriften auszulegen.“ „Wer zu Gott, dem Schöpfer, gelangen will, muss die Schrift zum Leiter und Lehrer haben“, stellt er in der Institutio fest.11 Er wollte die Bibellektüre des einfachen Volkes so stark wie möglich anregen, förderte die Ausgabe von Bibelübersetzungen, wirkte an der Überarbeitung der Bibelübersetzung seines Cousins Olivetanus mit, schrieb Kommentare zu allen Teilen des Neuen Testamentes, zu den Mosebüchern, den Psalmen, Jesaja, Jeremia und Josua. Dazu hielt er Tausende von Predigten, die zu einem großen Teil mitgeschrieben und veröffentlicht wurden. In einem gewöhnlichen Zwei-Wochen- Rhythmus gehörten 10 Predigten zu seinem festen Programm. Calvin hatte die Angewohnheit, fortlaufend über ein Buch der Bibel zu predigen. Von dieser Predigtweise wich er in den fast 25 Jahren niemals ab, außer bei hohen Festtagen und besonderen Gelegenheiten. Sonntags predigte er über das Neue Testament und die Psalmen, in der Woche über das Alte Testament. Weihnachten und Ostern überging er fast völlig in der Auswahl seiner Texte. Innerhalb von gut drei Jahren hielt er z.B. 189 Predigten über die Apostelgeschichte. Über den 1. Korintherbrief hielt er fortlaufend 110 Predigten, über den Propheten Jesaja 343 Vorträge.12 Am eindrücklichsten wird seine Wertschätzung für die fortlaufende Bibelauslegung durch folgendes Ereignis deutlich: Nach seiner Predigt am Ostersonntag 1538 wurde er aus Genf verbannt. Als er nach über drei Jahren auf die Kanzel der St. Peterskirche zurückkehrte, setzte er seine Schriftauslegung nach einer kurzen Einleitung über das Pastorenamt genau bei dem Bibelvers fort, bei dem er zuletzt aufgehört hatte.13

Einige Bemerkungen zum Schluss

Nach menschlichem Ermessen wären ohne das Wirken Calvins große Teile Europas wie Schottland, die Niederlande, Teile Frankreichs und der Schweiz, Österreichs und Ungarns ohne festen Anschluss an die Reformation geblieben. Auch bei der zweiten und dritten Welle der Reformation in der anglikanischen Kirche unter Eduard VI. und der entscheidenden Stärkung des Gesamtprotestantismus unter Elisabeth I. ist der Einfluss Calvins deutlich nachweisbar.14 „Ohne Calvins Kampf … wäre das ganze evangelische Lager nach menschlichem Ermessen nur etwa halb so zahlreich geworden.“15 Obwohl er in der zweiten Phase seines Wirkens in Genf die Stadt nur selten verließ, hat er durch seine Briefe, Schriften und die Schüler, die in Genf theologisch ausgebildet wurden, einen grenzüberschreitenden Einfluss ausgeübt. Seine bekanntesten Schüler waren John Knox, der Reformator Schottlands, Theodor Beza, sein Nachfolger in Genf, Caspar Olevianus, der Mit-Verfasser des Heidelberger Katechismus und Guido de Brès, Autor des niederländischen Glaubensbekenntnisses (Confessio Belgica). Als Calvin starb, waren an der Genfer Akademie 1.500 Schüler und Studenten eingeschrieben, die meisten aus dem Ausland. Wenn wir über Johannes Calvin und sein Leben nachdenken, sollten wir weder in das Extrem einer Heiligenverehrung verfallen noch das vielfältige Werk gering achten, das Gott durch ihn gewirkt hat. Auch in diesem Fall gilt die biblische Anweisung: „Prüfet aber alles, das Gute behaltet!“

Nachtext

Quellenangaben

1 Calvin, Institutio, S. 939
2 Calvin, Institutio, S. 615
3 Calvin, Institutio, S. 622
4 Calvin , Instiution, S. 615
5 Eine prägnante Darlegung der biblischen Erwählungslehre findet sich in B. Peters: „Erwählung und Vorherbestimmung“, in: www.betanien.de/verlag/material/material.php?id=51 (28.07.09).
6 Ausführlicher zu dieser Thematik: W. MacDonald: Kommentar zum NT, Bd. 2, Exkurs zur Erwählung, Bielefeld,
1994, S. 215, W. J. Ouweneel: Die Auserwählung, Neustadt/ Weinstraße o. J.
7 De Greef, S. 140 ff.
8 De Greef, S. 213
9 Siehe De Greef, S. 215 f
10 Poort, S. 77
11 Institutio, S. 20
12 De Greef, S. 130 ff
13 De Greef, S. 127 f, Piper, S. 195
14 Siehe dazu die Einleitung von Günter Gloede in „Calvin, Johannes: Musste Reformation sein? – Calvins Antwort an Kardinal Sadolet“, Göttingen, 2009
15 Gloede in „Calvin: Musste Reformation sein?“, S. 3