Zeitschrift-Artikel: Kuba – ein großes Mysterium

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Titel: Kuba – ein großes Mysterium
Typ: Artikel
Autor: Daniel Bühne
Autor (Anmerkung):

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Titel

Kuba – ein großes Mysterium

Vortext

Text

Bitte öffnen Sie den blauen Koffer!“ Der Flughafenscanner hat die Medikamente in unseren Koffern entdeckt. Gehorsam öffne ich den blauen Koffer. Es befinden sich fast nur meine Anziehsachen und wenige Medikamente in dem Koffer. Der blaue Koffer ist der einzige, bei dessen Öffnung ich keine Bauchschmerzen bekomme, die anderen Koffer sind bis zum Rand mit Medikamenten gefüllt. Auch mein Vater kommt durch. Eine strenge Zollbeamtin öffnet den ersten Koffer und inspiziert einige der Medikamente, doch eine Kollegin redet auf sie ein, den Mann doch einfach gehen zu lassen. So passiert es dann auch. Wir haben es wirklich geschafft. Ein kleines Wunder, denn wir tragen über 80 kg Medikamente in unseren ­Koffern, obwohl eigentlich nur 10 kg pro Person genehmigt werden. Die vielen Gebete sind erhört worden. Medikamente – ein unbezahlbarer Schatz Paracetamol, Ibuprofen, Asthma-Spray etc. bekommt man oft nicht in den Apotheken. Kriminelle Gruppen kaufen die Apotheken regelmäßig leer, um die Medikamente (oder Imitate der Medikamente) dann auf dem Schwarzmarkt zu unverschämten Preisen zu verkaufen. Eine Frau erzählt uns, dass ihr Medikament, dass sie täglich einnehmen muss, in der Apotheke umgerechnet etwa 1,60€ kosten würde, auf dem Schwarzmarkt jedoch siebzehnmal teurer verkauft wird (ca. 26,-€) So kann es sein, dass ein Kind hohes Fieber hat – ihm aber kein fiebersenkendes Medikament zugeführt werden kann. Bekommen haben wir die Medikamente von dem Medikamenten-Hilfswerk „action medeor e.V.“, das Medikamente zu Niedrigpreisen verkauft, wenn man nachweist, dass namentlich aufgeführte Ärzte aus Dritte-Welt-Ländern die Arzneien erhalten. Da wir mehrere gläubige Ärzte in Kuba kennen, war es ein Kinderspiel, drei Ärzte anzugeben, bei denen die Medikamente gelagert werden. Diese organisieren ein System, wie mit den Medikamenten den Menschen aus ihren Gemeinden und aus ihrem Umfeld geholfen werden kann. Überall, wo wir hinkommen, bemerkt man die große Freude über den Erfolg dieser Mission. Auch für „action medeor“ war dieser Versuch Neuland, man hat bereits zahlreiche Dritte-Welt-Länder beliefert, nach Kuba ist aber bisher nichts gelangt. Gut möglich, dass unser „Pilotprojekt“ der Auftakt größerer Medikamentenlieferungen nach Kuba gewesen ist. Nach 10 Stunden Flug und 4 Stunden Fahrt kommen wir am 26. März 2018 um kurz vor zwei Uhr nachts in Cruces an. Einer der eben erwähnten Ärzte hat uns gefahren. Arzt „nur“ als Nebenberuf Jorge Ernesto – so heißt er – arbeitet nicht mehr hauptberuflich als Arzt, sondern stellt Souvenirs und Schmuckstücke in einer kleinen Werkstatt her. Damit verdient er deutlich mehr Geld als zu seiner Zeit als Arzt. Dennoch ist er weiter als Arzt tätig. Täglich kommen Christen aus seiner Gemeinde oder Einwohner von Cruces zu ihm, um sich untersuchen und beraten zu lassen. Mit Freuden stellt er seinen „Reichtum“ (für kubanische Verhältnisse ist er wirklich reich) in den Dienst Gottes. Seit einigen Jahren ist es in Kuba erlaubt, in kleinen Dimensionen private Geschäfte zu machen. Sobald die Gewinne jedoch eine gewisse Grenze überschreiten, sind die Steuern erdrückend hoch. Hinzu kommt, dass die meisten Privatunternehmer die Rohstoffe ihrer Produkte nur illegal erwerben können. So enden fast alle privaten Initiativen wieder auf dem Schwarzmarkt. Und nur wenige Kubaner haben es geschafft, solch ein kleines Unternehmen zum Laufen zu bringen. Immer muss man darauf bedacht sein, dass es nicht sichtbar wird, wenn die Geschäfte gut laufen. Die Regierung betont immer wieder, dass es weder gewünscht noch geduldet wird, wenn Einzelne deutlich mehr besitzen als der Durchschnitt. Jorge Ernesto lässt z.B. die Außenwand seines Hauses unangestrichen, damit man nicht auf die Idee kommt, wie schön es in dem Haus aussieht. Die Ära nach den Castros Apropos Regierung: Kuba wird zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten nicht mehr von den Castro-Brüdern regiert: Die Nationalversammlung hat Miguel Díaz-Canel zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Dem neuen Präsidenten stehen große Aufgaben bevor. Die begrenzten Reformen Raúl Castros haben der Wirtschaft bislang nicht aus der Dauerkrise geholfen, zum Teil kamen sie über das Planungsstadium nicht hinaus. Hinzu kommt, dass die wieder abgekühlten Beziehungen zu den USA dem Tourismus einen Dämpfer versetzten und dass Venezuela als Unterstützer weggefallen ist, das selbst in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt. Die sozialen Spannungen nehmen auf Kuba zu. Es bleibt abzuwarten, ob der neue Präsident Wege aus der Krise finden wird. So oder so ist und bleibt Kuba ein großes Mysterium. Prunkvolle Hotels durchziehen mittlerweile das Land, zahlreiche Touristen wollen das nostalgische Kuba-Feeling erleben. Von dem Geld, dass diese Hotels erwirtschaften, haben die Kubaner gar nichts. Die großen Hotelketten wollten natürlich Kubaner anstellen, doch daraus ist nichts geworden. Diese Kubaner hätten nach den internationalen Mindest-Standards bezahlt werden müssen. Das war dem Staat zu viel. Er machte zur Bedingung, dass der Staat bezahlt wird und dann seinerseits die Kubaner, die in den Hotels arbeiten, bezahlt (natürlich so, dass der Hauptgewinn beim Staat bleibt). Am Ende sind die Verhandlungsbemühungen gescheitert, so dass nur Ausländer in diesen Hotels beschäftigt sind und die Kubaner wieder einmal leer ausgehen. Hingabe an Christus Nach einer viel zu kurzen Nacht (ich schlafe nur eine Stunde) werden wir am 27. März morgens um 7 Uhr geweckt. Zum Frühstück treffen wir uns mit unserem Freund Wilfredo, einem unermüdlichen Christen, der mit über 70 Jahren immer noch zahlreiche evangelistische Projekte leitet. Er kümmert sich mit seinen Mitarbeitern um Alkoholiker, Häftlinge, Obdachlose, kranke Kinder und andere Hilfsbedürftige. Seine Liebe zu Jesus spiegelt sich in seiner Liebe zu den Mitmenschen wieder. Am Nachmittag findet eine Konferenz mit verantwortlichen Christen aus der Umgebung von Cruces statt. Wir denken über die Märtyrer des 16. Jahrhunderts in England nach. Ihre Überzeugungen und ihre Bereitschaft, mit dem Leben für ihre Überzeugungen zu bezahlen, sind eine große Herausforderung für uns. Heftige Streitgespräche Doch die Eindrücke in Cruces sind nicht nur erfreulich. Ein erbitterter Streit zwischen den Calvinisten und den Arminianern macht beiden Lagern schwer zu schaffen. Der Konflikt hat sich so zugespitzt, dass in der Baptisten-Hauptversammlung mit über 600 Teilnehmern der Antrag gestellt wird, alle calvinistischen Pastoren aus der Baptistenvereinigung rauszuschmeißen. Gott sei Dank beruhigt ein alter und weiser Bruder die erhitzten Gemüter und überzeugt die Anwesenden, die Versöhnung und das friedliche Miteinander zu suchen. Die vielen Gespräche, die wir diesbezüglich führten, zeigen zwei Dinge ganz klar: Unsere Wahrnehmung ist immer subjektiven Verzerrungen unterworfen. Teilweise ist es kaum zu glauben, wie unterschiedlich überzeugte und ehrliche Christen einen gleichen Vorfall erlebt und bewertet haben. Unwillkürlich muss man an Jeremia 17,9 denken: „Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verdorben ist es; wer mag es kennen?“ Es liegt weniger an den Glaubensüberzeugungen als vielmehr an der Haltung. Einige der calvinistischen Pastoren haben ein derart elitäres und arrogantes Selbstbild, dass ihr Verhalten einen offenkundigen Widerspruch zu ihren Überzeugungen darstellt (z.B. der erste Punkt des Calvinismus: Die absolute Unfähigkeit oder totale Verderbtheit des Menschen). Wer eine solche Überzeugung hat, sollte demütig die Gnade Gottes rühmen, statt sich über andere Christen mit eventuell fehlender Erkenntnis zu stellen. Aber auch auf der Gegenseite gibt es viele Christen, die einen regelrechten Hass auf alle Geschwister mit calvinistischen Überzeugungen entwickelt haben, der oft nur durch übernommene Vorurteile entstanden ist. Am 29. März brechen wir auf, um zu den Geschwistern von El Gabriel zu fahren. Zwischendurch halten wir bei der Hausgemeinde in Güines. Die Geschwister dort beeindrucken uns immer wieder durch ihre herzliche Gemeinschaft und mit ihrer Bereitschaft, durch ein anziehendes Vorbild ein gutes Zeugnis für die Mitmenschen zu sein. Einige Neue sind so in den letzten Wochen zur Gemeinde hinzugekommen. Der Segen christlicher Literatur Da es in Kuba offiziell keine christliche Literatur zu kaufen gibt, besteht eine enorm große Nachfrage nach den inzwischen zahlreichen evangelistischen, erbaulichen und weiterführenden Büchern, die wir in Kuba drucken lassen und kostenlos abgeben. Da der Druck und die Verarbeitung unter mehr als bescheidenen Umständen geschieht, dauert es lange, bis ein neues Buch verteilt werden kann. Unser sehr fleißiger und gewissenhafter Drucker Erik muss jedes einzelne gedruckte Blatt mit der Hand zusammenlegen und dann auch binden, bzw. kleben. Daher braucht er für unser neuestes Projekt „C.H. Spurgeon: Ratschläge für Prediger“ mit über 350 Seiten und einer Auflage von 3.000 Exemplaren etwa drei Monate. Vor wenigen Tagen bekamen wir die Nachricht, dass dieses für die kubanischen Verkündiger und Evangelisten sehr wichtige Buch wohl Ende Mai verteilt werden kann. Dadurch entsteht aber andererseits ein Engpass für den Nachdruck der übrigen Bücher, die zum großen Teil vergriffen sind. Da die Nachfrage sehr groß ist, hoffen wir bald einen oder mehrere weitere Drucker im Land zu finden, die uns helfen können. Das sehr positive Echo vieler Leser ist für uns eine große Ermutigung. In den folgenden Tagen besuchen wir verschiedene Gemeinden bzw. Geschwister in der Gegend von El ­Gabriel. Vor allem zwei Begegnungen in dieser Zeit ermutigen uns außerordentlich: Die Fußballer von San Antonio In San Antonio haben wir einer Ärztin Medikamente gebracht und besuchen am Samstagabend die Jugendstunde der Gemeinde. Der Saal ist rappelvoll, fast die ganze Gemeinde ist anwesend. Ein junger Bruder predigt Vers für Vers über Römer 1 und erklärt dabei voller Freude das Evangelium. Viele der anwesenden Jugendlichen sind durch die „Fußball-Arbeit“ der Gemeinde zum Glauben gekommen. Die männlichen Jugendlichen haben einen Verein gegründet und spielen in der regionalen Liga mit. Ihre Art zu spielen unterscheidet sich derart von dem Verhalten der anderen Teams, dass es ein beeindruckendes Zeugnis darstellt. Immer mehr Jugendliche kommen zu den Trainingseinheiten. Dabei ist das geistliche Anliegen definitiv kein Vorwand. Jedes Vereinsmitglied muss bei der Aufnahme ein feierliches Versprechen unterschreiben: „Wir, die Mitglieder der Mannschaft DIE ADLER, machen das feierliche Versprechen, immer unserem Ziel treu zu bleiben. Unser Ziel ist es, durch unser Spiel und unser Verhalten Gott zu verherrlichen. Außerdem wollen wir unsere Gemeinde – die uns die Ehre erweist, sie auf den Turnieren repräsentieren zu dürfen – würdig vertreten. Deshalb verpflichten wir uns, uns jeglicher Anweisung, Disziplin oder Ermahnung zu unterwerfen, die nötig sind, um obiges Ziel zu erreichen.“ Es ist kaum zu beschreiben, wie groß die Freude unter den Fußballern ist, als wir ihnen zwei Adidas-Bälle schenken. Jede Naht, jede Signatur und jedes Detail des Balls wird stundenlang inspiziert, die Jugendlichen geben die Bälle den ganzen Abend nicht mehr aus der Hand. Jorge Lorenzo – und wie „im Willen Gottes ein Herz zur Ruhe kommt …“ Jorge Lorenzo lernen wir an einem Nachmittag kennen. Eigentlich wollen wir uns gerade etwas ausruhen, als er mit einem Freund vorbeikommt, um uns kennenzulernen. Schnell fällt uns auf, dass Jorge ein brennendes Herz für Jesus und für christliche Literatur hat. Seine Freizeit verbringt der junge Bruder, indem er mit dem Bus durch Kuba fährt, um christliche Literatur zu verbreiten. Außerdem nutzt er jede Möglichkeit, um den Menschen seiner Heimat von Jesus zu erzählen. Die Verlobte von Jorge Lorenzo lebt in Nicaragua, wo die Christen kaum Zugang zu guter christlicher Literatur haben. Da der Vater der Verlobten Schatzmeister einer christlichen Organisation in Nicaragua ist, hat er viele Beziehungen zu verantwortlichen Christen in Nicaragua. Schnell entsteht deshalb in unserem Gespräch eine Vision von Jorge: Er will bei den nächsten Besuchen seiner Verlobten versuchen, immer möglichst viele gute christliche Bücher aus Kuba in seinem meist ziemlich leeren Koffer mitzunehmen, um sie in Nicaragua den Verantwortlichen der verschiedenen Gemeinden zukommen zu lassen. Die Freude, Gott auf diese Art und Weise dienen zu können, strahlt geradezu aus Jorges Gesicht, mit großem, strategischem Gespür entwickelt er schnell Ideen, wie man das Projekt umsetzen könnte. Er wartet gerade auf die Genehmigung des Visums, um in Kürze wieder zu seiner Verlobten fliegen zu können. Mit dem Erhalt des Visums will er sofort das Literaturprojekt in Angriff nehmen. Vier Wochen nach unserer Rückkehr nach Deutschland erhalte ich eine Email von Jorge Lorenzo: „Liebe Geschwister, ich werde nicht nach Nicaragua reisen können, mein Visum ist nicht genehmigt worden. Ich weiß nicht, was der Auslöser dafür war, dass sie die Genehmigung verweigert haben, aber die Antwort ist ein klares NEIN. Meine Verlobte und ich hatten eigentlich neue Ziele, wir wollten bei meinem anstehenden Besuch in Nicaragua heiraten. […] Aber ich bin zufrieden, denn im Willen Gottes müssen meine Gedanken zur Ruhe kommen und ich weiß, dass Gott mir bei allem, was mir jetzt fehlt, helfen wird. […]“ Auch das ist Kuba. Christliche Paare, die sich lieben und gemäß Gottes Vorstellungen heiraten wollen, müssen ihre Träume zurückstellen, weil die Regierung die Genehmigung eines Visums verweigert. Als wir am 2. April abends erschöpft und müde in den Flieger Richtung Köln steigen, begleiten uns viele widersprüchliche Impressionen. Der Wille und die Bereitschaft vieler Christen in Kuba, allen systemischen Hindernissen zum Trotz Jesus zu dienen, sind bei mir auf jeden Fall der stärkste und herausforderndste aller Eindrücke, die ich mit nach Deutschland nehmen werde.

Nachtext

Quellenangaben