Zeitschrift-Artikel: Das Gute an schlechten Zeiten - Wie wir an leidvollen Erfahrungen wachsen können

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Titel: Das Gute an schlechten Zeiten - Wie wir an leidvollen Erfahrungen wachsen können
Typ: Artikel
Autor: Gerrit Alberts
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Titel

Das Gute an schlechten Zeiten - Wie wir an leidvollen Erfahrungen wachsen können

Vortext

Text

Wunderbaum und Fischbauch
Vor zwei Jahren traf ich auf einer Bibelkonferenz einen Bruder, mit dem ich viele Jahre zusammenarbeiten durfte und der sich dadurch auszeichnet, dass er meistens gute Laune hat. Er war merkwürdig abgemagert, blass und hatte dunkle Ränder unter den Augen. Kaum einen Satz konnte er reden, ohne in Tränen auszubrechen. Der Grund: Seine Frau war schwer erkrankt und rang mit dem Tod. Das Thema der Bibelkonferenz war das Buch Jona. Mit das erste, was er sagte, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt: „Die Zeiten im Bauch des Fisches sind gesegneter als die unter dem Wunderbaum.“
Der Magen eines Fisches ist extrem lebensfeindlich – vielleicht nicht für Bakterien, aber sicher für Menschen: Stockdunkel, glitschig, heiß, wahrscheinlich sehr beengt, ätzend durch die Magensäure. Jona fühlte sich lebendig begraben und verging fast vor Angst. Der Wunderbaum hingegen wurde von Gott „bestellt“, um Jona Schatten zu spenden und ihn von seinem Missmut zu befreien. Jona freute sich über diese Urlaubsidylle „mit großer Freude“. Wie kann man zu der abenteuerlichen Meinung kommen, der erste Platz sei besser als der zweite?

Lebenskrisen werfen aus der Bahn ...
„Eine Katastrophe ist das, was anderen zustößt“, denken wir in Zeiten der Sicherheit und können uns nur schwer vorstellen, dass uns etwas wirklich erschüttern kann. Dabei ist es nur zu wahrscheinlich – um nicht zu sagen sicher, dass auch wir nicht von Leid, Not und Schmerz verschont werden.
In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Stress-Forscher Holmes und Rahe untersucht, wann und wie die von ihnen so genannten „kritischen Lebensereignisse“ zermürben und krank machen. In langen Tabellen haben sie diese Ereignisse aufgelistet und aufgrund der Befragung von Betroffenen mit Punktwerten versehen: Der Tod des Ehepartners hat einen Stressfaktor von 100, Ehescheidung von 73, schwere Krankheit von 53, fristlose Kündigung von 44 usw. Allein die Tatsache, dass man sich einer Veränderung des Gewohnten stellen muss, kostet so viel Energie, dass das Immunsystem an Abwehrkraft verliert. Damals entstand die Allerweltsweisheit: „Stress macht krank!“, und das um so wahrscheinlicher, je mehr „kritische Ereignisse“ sich addieren.[1]

Nutzen trotz Schaden!
Nun lässt sich der Mensch nicht so leicht berechnen wie eine simple Additionsaufgabe und das Leben folgt nicht unbedingt der Dramaturgie einer griechischen Tragödie, in der alles unausweichlich auf das Desaster im letzten Akt zustrebt. Nachdem sich die Gesundheitsexperten in der Vergangenheit fast ausschließlich auf die Erforschung der Früh- und Spätschäden traumatischer Erfahrungen konzentriert haben, gerät in letzter Zeit auch die sogenannte Resilenzforschung in das Visier der Forscher.[2] Die zentrale Fragestellung dabei lautet: Wie kommt es, dass manche Menschen, die sich in miserablen Lebensbedingungen und bedrückenden Umständen befinden Bewältigungs-Strategien entwickeln, die sie zu „Benefit-Finders“ machen, zu Leuten, die an leidvollen Erfahrungen wachsen und gestärkt daraus hervorgehen?

Bewältigungsstrategien der Psychologen [3]

• Die erzählende Bewältigung von Stress
Experten empfehlen, belastende, katastrophale Erlebnisse und die eigenen Gefühle in Worte zu fassen. Ein chaotisches, traumatisches Ereignis oder eine emotional aufwühlende Herausforderung verliert in der Erzählform bereits einen Teil des Schreckens. Das Verwirrende und Überwältigende wird in Worte gefasst und dadurch in Ansätzen verstehbar, der eigenen Analyse zugänglich. Die Situation entzieht sich so nicht völlig unserem Einfluss. Zumindest können wir unsere Emotionen sortieren und darauf Einfluss nehmen.

• Die „richtigen“ Vergleiche
Der Sozialpsychologe Festinger geht in seiner Theorie des sozialen Vergleichens [4] davon aus, dass wir uns vorzugsweise mit Menschen vergleichen, denen es besser geht als uns: Ein tief verwurzelter Antrieb zur Selbstverbesserung lasse uns Maßstäbe wählen, die uns erreichbar erscheinen, wenn wir uns nur ein bisschen anstrengen. Bei der Bewältigung von Krisen ist es jedoch nicht hilfreich, sich aufwärts zu vergleichen, sondern abwärts:
„Es hätte noch viel schlimmer kommen können.“
„Ich bin noch relativ gut davon gekommen.“
„Andere sind noch viel schlimmer dran.“
Der Passagier mit gemäßigter Flugangst fühlt sich möglicherweise gar nicht mehr so übel, wenn er die nackte Panik im Gesicht eines anderen sieht. Der Student, der gerade eine Klausur verhauen hat, tröstet sich damit, dass einige seiner Kommilitonen bereits das ganze Studium in den Sand gesetzt haben.
Aufwärts-Vergleiche mobilisieren eher den Ehrgeiz, während Abwärts-Vergleiche eher trösten. Eine Studie an Sportlern zeigt, dass Bronze- Medaillen-Gewinner glücklicher sind als die Gewinner der Silber-Medaille. Warum? Weil sie sich in der Tendenz abwärts vergleichen. Sie sind froh, überhaupt eine Medaille gewonnen zu haben und nicht unter „ferner liefen“ gelandet zu sein. Die Zweitplatzierten quälen sich hingegen mit der Frage, warum sie nicht auch Gold geschafft haben – sie waren ja so nahe dran. Sie vergleichen sich aufwärts.

• Die eigenen Gefühle verstehen
Als „Bugwelle“ kritischer Lebensereignisse empfinden wir unangenehme Emotionen. Wir kämpfen mit Angst und Verzweiflung, Wut und Aggression, Trauer und Depression. Weil diese Gefühle oft schmerzlich und verstörend sind, neigen wir dazu, sie entweder zu ignorieren oder zu verdrängen. Die Emotions-Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass emotionales Unterscheidungsvermögen eine zentrale Fähigkeit in der Stressbewältigung ist. Wer sich Klarheit über seine Gefühle verschafft, sie richtig einordnet, benennt und sich ihre Auswirkung auf das Denken und Handeln bewusst macht, kommt schneller aus dem Stimmungstief. Wer in Lebenskrisen hingegen die ehrliche Gefühls-Inventur scheut, verfällt häufig in unproduktives Brüten und Grübeln.

• Aus Schaden klug werden
Wie lassen sich schwere Schicksalsschläge – der Verlust eines geliebten Menschen, Verstümmelung, Leid als Opfer von Kriminalität usw. – positiv nutzen? Bewältigungsforscher untersuchen, warum manche Menschen zu einem posttraumatischen Wachstum kommen und wie sie aus dem Verlust Gewinn ziehen. Der Schlüssel: Die erfolgreichen Bewältiger haben es geschafft, dem traumatischen Ereignis einen Sinn abzugewinnen. „Ich weiß jetzt, was wirklich wichtig ist im Leben!“ ist eine typische Äußerung von Menschen, die einer Katastrophe eine „Lehre“ abgewinnen (die Forschung nennt sie „Benefit-finders“). Diese Erkenntnis kann sie z. B. geduldiger gegenüber den Schwächen anderer oder auch intoleranter gegenüber Zeitverschwendung oder überflüssigem Streit machen. Sie leben bewusster. Die vielen kleinen Dinge werden wichtig – jedes Lächeln, jeder Sonnenaufgang wird zu einem Fest.

 

Bewältigungsstrategien der Heiligen Schrift
Die Adressaten des Hebräerbriefes gingen durch schwere Zeiten. Sie wurden verfolgt - Hab und Gut wurde ihnen geraubt (10,34). Zwar war ihnen eine blutige Verfolgung bislang erspart geblieben („Ihr habt noch nicht, wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden“ 12,4), aber sie drohten dennoch der Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zu erliegen. Wo war das verheißene Friedensreich und das zukünftige „goldene“ Zeitalter, das sie so sehnlichst erwarteten? In dieser Situation lässt Gott schreiben, was das Gute an diesen schlechten Zeiten war.

• Für Christen hat Leid ein gutes Ziel
Zunächst macht der Schreiber (vermutlich Paulus) ihnen klar, dass alle Schwierigkeiten ihrer Erziehung dienen. „Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung.“ ‚Züchtigung’ hört sich für uns hart an. Aber wer Ahnung von der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung hat, weiß, dass sich damals das T zum Z verschoben hat, also ‚Züchtigung’ von ‚(Er-)Tüchtigung’ kommt. Im Niederländischen wird dies deutlich: „Mijn zoon, acht de tuchtiging van de Heer niet gering en bezwijkt niet, als gij door Hem bestraft wordt“ (12,5). Es mag sich komisch anhören: Wenn ich diesen Abschnitt in der Stillen Zeit im Gebet vor Gott ausbreite, bevorzuge ich den holländischen Wortlaut (auch wenn ich sonst nicht in Zungen zu reden pflege). ‚Tuchtiging’ hört sich für mich liebevoller an als ‚Züchtigung’. Und genau darum geht es in dem Text. „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Unsere irdischen Väter mögen bei der Erziehung manchmal daneben gelangt und mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben, aber der Vater der Geister liegt mit seinen Erziehungsmethoden genau richtig: Er erzieht zum Nutzen – damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden.
Ein Psychologe beschreibt als großes Hindernis, leidvolle Erfahrungen positiv zu bewältigen: „Ein Trauma erschüttert zum einen unseren (naiven und unrealistisch optimistischen) Glauben, dass man selbst von zufälligen und „ungerechten“ Schlägen verschont bleibe. Diese „positiven Illusionen“ werden durch das traumatische Ereignis gründlich ad absurdum geführt: Die Welt ist kein Ort, an dem es gerecht und berechenbar zugeht, und niemand ist vor Zufall und Willkür geschützt.“[5]
Aus dem Text in Hebräer 12 lerne ich jedoch, dass kein blinder Zufall und keine Willkür mich trifft. Auch bin ich keine Ratte in einem kosmischen Versuchslabor, in dem ein metaphysischer Versuchsleiter herzlos zuschaut, ob ich mich im Labyrinth verirre oder nicht. Nein, alles was mir geschieht, passiert unter der Zulassung und der erzieherischen Absicht meines liebenden Vaters. Wenn schon ungläubige Menschen „benefit-finders“ in leidvollen Erfahrungen sein können, dann können Christen dies erst recht. In der Heiligen Schrift werden u. a. drei Absichten genannt, die Gott mit schmerzhaften Erfahrungen verfolgen kann:

 ➀ Ein präventive (vorbeugende) Absicht:
Paulus wurde ein Dorn im Fleisch gegeben, ein Engel Satans, auf dass er ihn mit Fäusten schlage, damit er sich nicht überhebe. (2Kor12,7)

Eine produktive (vermehrende) Absicht:
„Jede Rebe, die Frucht bringt, die reinigt er, auf dass sie mehr Frucht bringe. (Joh 15,2)

Eine strafende/zurechtbringende Absicht:
Denn deine Hand lag schwer auf mir Tag und Nacht, so dass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürr wird“, klagt David in Psalm 32,4 nachdem er in Sünde gefallen war.

• Verachtung und Ermattung
Während meiner Studentenzeit hatte ich einen Kumpel. Er machte eine Ausbildung. Da ich ihn selten, besser gesagt nie, mit einem Buch oder einem Heft vor der Nase sah, riet ich ihm des öfteren, sich auf die Prüfung vorzubereiten. Er schlug alle Ratschläge in den Wind. Am Abend des Prüfungstages erzählte er mir etwas kleinlaut von seinem Desaster im Examen. Ich fragte, woran denn das wohl gelegen haben könnte. Er schaute mich mit einem Ausdruck von Empörung und Verwunderung über solch eine Frage an und meinte cool: „Tja, das kann jedem passieren.“ Er hat keinen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten, seinem Charakter und seinem Schicksal hergestellt. So kann es uns auch in der Erziehung Gottes gehen. Möglicherweise schlägt Gott uns, aber es schmerzt uns nicht (Jer 5,3). Vielleicht ist es seine Absicht, uns für eine kleine Zeit, weil es nötig ist, zu betrüben (1Petr 1,6), wir aber leben herrlich und in Freuden weiter – wie eine fröhliche Witwe sozusagen. Mit einem Wort: „Wir achten seine Züchtigung gering“ (Hebr 12,5).
Das andere Extrem ist, dass wir unter seiner Zucht ermatten. Wir können z. B. durch einen schmerzhaften Verlust eines lieben Angehörigen, durch leidvolle Gemeinde-Erfahrungen oder anderen Kummer so von Trauer und Frustration verschlungen werden, dass unser Leben für Gott unbrauchbar wird. Diese Gefahr spricht auch 1Kor 7,30 an: „Übrigens, dass auch die Weinenden seien als nicht Weinende.“ Nicht, dass Weinen und Trauer im Leben eines Christen keinen Platz hätten, aber sie sollten nicht das letzte Wort haben. Wie sagte noch Watchman Nee? „Die Hand am Pflug lassen und die Tränen abwischen. Das ist Christentum!“
„Achte nicht gering die Erziehung des Herrn noch ermatte, wenn du von ihm gestraft wirst.“
Die Art, wie wir mit schwierigen Erfahrungen umgehen, hat offensichtlich einen Einfluss auf das Ergebnis der Erziehung des Herrn.

• Seiner Heiligkeit teilhaftig werden
Friedrich Nietzsche sagte: „Wer ein Wozu im Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Wenn dir jemand in bösartiger Absicht eine Nadel ins Hinterteil rammt, findest du das unerträglich. Wenn aber ein Arzt dieselbe Handlung begeht in der Absicht, dich gegen Tetanus zu impfen, erträgst du sie wahrscheinlich mehr oder weniger gelassen. Die Absicht Gottes mit leidvollen Erfahrungen in unserem Leben ist, dass wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Einige Verse weiter in demselben Kapitel steht: „Jaget ... der Heiligkeit nach, ohne welche niemand den Herrn schauen wird“ (12,14). Gemeint ist meines Erachtens nicht das Schauen des Herrn in der Herrlichkeit, sondern der vertraute Umgang mit ihm im Hier und Jetzt. Alle leidvollen Erfahrungen im Leben eines Christen haben das Ziel, uns enger in die Gemeinschaft mit dem Herrn zu ziehen um mehr von ihm zu schauen. Das Beste in der Ewigkeit wird sein, dass wir den Herrn schauen und bei Ihm sein werden. Gott möchte, dass dieser unvorstellbare Reichtum jetzt schon unser Leben prägt. ■

Nachtext

Quellenangaben

1 Holmes, T.H., Rahe, R.H. (1967). The Social Readjustment Rating Scale. J. Psychosom. Res. 11, 213-218.
2 Nuber, U.: Resilienz: Immun gegen das Schicksal? Psychologie heute 09/05
3 Ernst, H., Coping: Das Gute an schlechten Zeiten, Psychologie heute 01/02
4 Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, 117-140.
5 Ernst, H. a. a. O. S. 25