Zeitschrift-Artikel: Plaedoyer fuer den Calvinismus

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Titel: Plaedoyer fuer den Calvinismus
Typ: Artikel
Autor: Charles Haddon Spurgeon
Autor (Anmerkung):

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Titel

Plaedoyer fuer den Calvinismus

Vortext

Der folgende Artikel ist mit freundlicher Erlaubnis des Verlages dem Buch "Alles zur Ehre Gottes" entnommen.
W. Bühne

Text

 

Plädoyer für den Calvinismus
oder: die Sicherheit des Gläubigen


Die alte Wahrheit, die Calvin gepredigt hat, die Wahrheit, die Augustin gepredigt hat, sie ist auch die Wahrheit, die ich heute predigen muß, sonst würde ich gegenüber meinem Ge­wissen und gegenüber Gott schuldig. Ich darf die Wahrheit nicht verändern; es ist mir fremd, die rauhen Kanten einer biblischen Lehre abzuglätten. Ich habe das gleiche Evangelium, wie John Knox es hatte. Das, was durch Schottland gerauscht ist, muß auch wieder durch England rauschen.

Es ist großartig, wenn man sein Leben als Christ beginnt, indem man an gute und solide biblische Lehren glaubt. Manche Menschen haben in zwanzig Jahren zwanzig verschiedene Arten von "Evangelium" angenommen, und es ist nicht vorauszusagen, wie viele sie noch glauben werden, bevor sie an das Ende ihrer Reise kommen. Ich danke Gott, daß Er mich früh das eine Evangelium gelehrt hat, mit dem ich so zufrieden bin, daß ich nichts anderes kennenlernen will. Beständiger Wechsel des Glaubensbekenntnisses bedeutet nur Verluste. Wenn ein Baum zwei- bis dreimal im Jahr von seinem Platz versetzt wird, dann mußt du keinen großen Speicher bauen, um die Äpfel lagern zu können.

Es ist gut, wenn junge Gläubige ihr Glaubens­leben mit dem festen Vertrauen auf die gro­ßen grundlegenden Glaubenslehren beginnen, die der Herr in Seinem Wort festgelegt hat. Hätte ich geglaubt, was manche predigen, daß es nur eine zeitweilige, eigentlich belanglose Errettung gäbe, wäre ich dafür kaum dankbar gewesen_ Aber als ich wußte, daß Gott Seine Erlösten mit einer ewigen Erlösung rettet, als ich wußte, daß Er ihnen eine ewige Gerech­tigkeit gibt, als ich wußte, daß Er sie auf ein ewiges Fundament der ewigen Liebe stellt und sie in Sein ewiges Königreich bringen wird, ja, da habe ich gestaunt, daß eine solche Segnung gerade mir zuteil geworden war!


Kein »freier Wille«!

Ich denke, nun werden einige Leute die Lehre vom freien Willen ins Spiel bringen. Ich kann nur sagen, daß mir die Lehre von der unum­schränkten Gnade genügt.

Ich kann nicht verstehen, warum ich gerettet wurde. Nur einen Grund dafür gibt es: Gott wollte es so. Ich kann selbst bei genauestem
Hinschauen nicht entdecken, daß es da in mir selbst irgendeine Andeutung eines Grundes gibt, warum ich an der göttlichen Gnade Teilhaber werden durfte. Wenn ich jetzt in diesem Augenblick nicht ohne Christus bin, dann hat dies seine Ursache nur darin, daß Christus Jesus mit mir Seinen Plan hat. Dieser Plan war, daß ich da sein sollte, wo Er ist, und daß ich an Seiner Herrlichkeit teilhaben sollte. Ich kann die Krone nirgendwohin legen als auf Sein Haupt, das Haupt Dessen, Der mich gerettet hat von meinem Weg, der in die Hölle führte.. Wenn ich so auf mein Le­ben zurückschaue, kann ich sehen, daß hinter allem Gott stand, Gott allein. Ich habe keine Fackel benutzt, um die Sonne zu er­leuchten, sondern die Sonne hat mich er­leuchtet. Ich habe mein geistliches Leben nicht ins Dasein gebracht - nein, ich habe vielmehr gegen die Dinge des Geistes getre­ten und gekämpft; als Er mich zog, bin ich Ihm eine Zeitlang nicht gefolgt; in meiner Seele war ein natürlicher Haß gegen alles Heilige und Gute. Wehrufe über mich waren vergeblich, Warnungen wurden in den Wind geschlagen, Donnerschläge wurden mißachtet; und was das Flüstern Seiner Liebe angeht, es wurde zurückgewiesen als etwas, das weniger ist als nichts. Und so bin ich mir heute si­cher, daß ich es sagen kann: "Er allein ist meine Errettung." Er war es, der mein Herz herumwendete und mich auf meine Knie brachte vor Ihm.

Gut kann ich mich daran erinnern, wie ich die Lehren der Gnade in einem einzigen Augen­blick gelernt habe. Wie wir es alle von Natur aus sind, wurde ich als ein Arminianer gebo­ren. Ich glaubte fest daran, was ich immer wieder von der Kanzel herunter gehört hatte, und sah die Gnade Gottes nicht. Als ich auf dem Weg zu Christus war, dachte ich, ich würde es ganz allein tun, und obwohl ich den Herrn ernstlich suchte, hatte ich keine Ah­nung, daß Er mich suchte. Ich glaube nicht, daß ein Jung-Bekehrter sich dessen bewußt ist. Ich kann noch den Tag und die Stunde nennen, als ich zum ersten Mal diese Wahrheiten in mir selbst begriff - als sie, wie John Bunyan es sagt, in mein Herz eingebrannt wurden wie mit einem heißen Eisen, und ich erinnere mich, daß ich den Eindruck hatte, in einem Augenblick vom Baby zum erwachsenen Mann gewachsen zu sein. Ich hatte einen Fortschritt im biblischen Wissen gemacht, als ich ein für allemal herausgefunden hatte, was der Schlüssel für die Wahrheit Gottes ist.

An einem Wochentag saß ich abends im Haus Gottes. Ich dachte nicht sehr viel nach über das, was der Prediger sagte, denn ich glaubte es nicht. Der Gedanke traf mich: "Wie bist du ein Christ geworden?" "Ich habe den Herrn gesucht." "Aber wie bist du darauf gekom­men, den Herrn zu suchen?" In diesem einzi­gen Augenblick leuchtete die Wahrheit in mir auf - ich hätte Ihn nicht gesucht, wenn Er nicht schon vorher meine Gedanken beeinflußt hätte, indem Er mich dazu brachte, Ihn zu suchen. Ich betete, so dachte ich, aber dann fragte ich mich: Wie kam ich dazu, zu beten? Ich wurde durch die Heilige Schrift zum Beten ermuntert. Wie kam ich dazu, die Heilige Schrift zu lesen? Ich las sie, aber was hatte mich dazu gebracht?

Da, in einem Augenblick, sah ich, daß Gott der Urgrund aller Dinge ist, daß Er der Ur­heber meines Glaubens war, und so öffnete sich die ganze Lehre der Gnade vor mir.. Von dieser Zeit an habe ich nicht von ihr gelassen, und ich möchte, daß dies immer mein bestän­diges Bekenntnis ist: "Ich verdanke meine ganze Veränderung nur Gott."

John Newton erzählte gerne eine wunderliche Geschichte, über die er dann auch immer selber lachen mußte: Eine gute Frau sagte, um die Lehre der Erwählung zu beweisen: "Ach, wissen Sie, der Herr muß mich geliebt haben, bevor ich geboren war; hinterher hätte Er an mir nichts Liebenswertes mehr gese­hen." Ich bin sicher, daß dies auch in meinem Fall so ist. Ich glaube an die Lehre der Er­wählung, denn ich bin mir ganz sicher, daß, wenn Gott mich nicht erwählt hätte, ich niemals Ihn erwählt hätte. Und ich bin mir sicher, daß Er mich erwählt hat, bevor ich geboren war, hinterher hätte Er mich nicht mehr erwählt. Und Er muß mich aus Gründen erwählt haben, die mir unbekannt sind, denn ich konnte in mir selbst nie einen Grund finden, warum Er mich mit besonderer Liebe hätte anschauen sollen. So bin ich also ge­zwungen, diese große biblische Lehre anzu­nehmen.

Ich erinnere mich an einen arm inianischen Bruder, der mir sagte, er habe die Bibel zwanzigmal oder mehr durchgelesen und die Lehre der Erwählung in ihr nicht gefunden. Dann fügte er hinzu, daß er sie sicher ge­funden hätte, wenn sie da wäre, denn er habe die Bibel auf seinen Knien gelesen. Ich sagte zu ihm:

"Ich denke, du hast die Bibel in einer sehr unkomfortablen Lage gelesen. Hättest du sie in deinem Sessel gelesen, dann hättest du sie auch vielleicht besser verstanden. Bete so, und je mehr, je besser. Aber es ist ein Stück Hochmut zu denken, es hätte irgendeine Be­deutung, in welcher Körperhaltung ein Mensch die Bibel liest. Und was das zwanzigfache Durchlesen der Bibel betrifft, ohne etwas über die Lehre der Erwählung gefunden zu haben: Es ist ein Wunder, daß du überhaupt etwas gefunden hast. Du mußt mit einer sol­chen Geschwindigkeit hindurchgaloppiert sein, daß es nicht zu erwarten war, überhaupt ei­nen vernünftigen Gedanken über die Bedeutung der Heiligen Schrift zu bekommen."


Kein »guter Kern«!

. . Ich muß die Lehre der Verdorbenheit des menschlichen Herzen glauben, denn ich finde, daß ich selbst in meinem Herzen verdorben bin, und habe täglich Beweise dafür, daß in meinem Fleische nichts Gutes wohnt. Wenn Gott einen Bund mit dem noch nicht gefal­lenen Menschen schließen würde, dann wäre der Mensch noch immer eine Kreatur von so unbedeutendem Wert, daß es ein Akt der gnädigen Herablassung Gottes wäre, wenn Er sich mit ihm verbände. Aber wenn Gott einen Bund mit dem sündigen Menschen macht, einer so widerspenstigen Kreatur, ist ein solcher Bund für Gott ein Akt der reinen, freien, reichen und souveränen Gnade.

Ein kürzlich verstorbener Mann hat unter ein Porträt von sich den höchst bemerkenswerten Text gesetzt: "Die Rettung ist des Herrn". Dies ist soviel wie ein Synonym für Calvi­nismus. Wenn mich jemand fragen würde, was ich unter einem Calvinisten verstehe, dann würde ich antworten: "Das ist einer, der sagt: Die Rettung ist des Herrn." Ich kann in der Heiligen Schrift keine andere Lehre fin­den. Sie ist die Essenz der Bibel. "Er allein ist mein Fels und meine Rettung." Sage mir irgend etwas, was dieser Wahrheit wider­spricht, und es wird eine Irrlehre sein. Sage mir eine Irrlehre, und ich werde ihren Ur­sprung hierin finden, daß sie sich entfernt hat von dieser großen, dieser fundamentalen, die­ser felsensicheren Wahrheit: "Gott ist mein Fels und meine Rettung." Was ist die Irrlehre Roms anders, als daß man zu dem vollkom­menen Verdienst Jesu Christi etwas hinzuge­fügt hat - daß man die Werke des Fleisches mit hineingebracht hat, um uns in unserer Rechtfertigung beizustehen? Und was ist die Irrlehre der Arminianer anders als die Hinzu­fügung von etwas zu dem Werk des Erlösers? Jede Irrlehre, wenn man ihren eigentlichen Ansatzpunkt nimmt, läßt sich hierauf zurück­führen. Ich meine, daß man nicht Christus und Ihn als den Gekreuzigten predigen kann, wenn man nicht das predigt, was man heute ge­meinhin Calvinismus nennt. Der Name "Calvi­nismus" ist eigentlich ein Spitzname. Calvi­nismus ist Evangelium, nichts anderes.


Wenn einer der Heiligen Gottes verlorengeht, dann können alle verlorengehen. Wenn ein Teilhaber am Bund verlorengeht, dann können alle verlorengehen, und dann gibt es keine Verheißung des Evangeliums mehr, die wahr ist. Dann ist die Bibel eine Lüge, und es ist in ihr nichts, was meiner Annahme wert wäre. Gott ändert Seinen Plan nicht, warum sollte Er? Er ist der Allmächtige und kann deshalb tun, was immer Er will. Warum sollte Er nicht? Gott ist allweise und kann daher nichts falsch planen. Warum sollte Er? Er ist der ewige Gott und kann daher nicht sterben, ohne daß Sein Plan vollendet wäre. Warum sollte Er sich ändern? Ihr wertlosen Atome der Erde, Strohfeuer eines einzigen Tages, ihr kriechenden Insekten auf dem Lorbeerblatt der Existenz, ihr mögt eure Pläne ändern, aber Er niemals. Hat Er mir gesagt, daß es Sein Plan ist, mich zu retten? Dann bin ich für immer gerettet.

Ich weiß nicht, wie manche Leute, die denken, daß ein Christ aus der Gnade fallen kann, es fertigbringen, glücklich zu sein. Wenn ich nicht an die Lehre der endgültigen Bewahrung der Heiligen glaubte, wäre ich der Elendeste unter allen Menschen, denn dann hätte ich keine Ursache des Trostes mehr. Ich glaube, daß die glücklichsten und echtesten Christen jene sind, die es niemals wagen, an Gott zu zweifeln, sondern die Sein Wort einfach so, wie es dasteht, annehmen, es glauben und nicht in Frage stellen, weil sie wissen, daß, wenn Gott es so sagt, es auch so ist. Ich be­zeuge, daß ich keinen Grund habe, an meinem Herrn zu zweifeln. Ich fordere Himmel und Erde und Hölle auf, einen Beweis dafür zu erbringen, daß Gott unwahrhaftig wäre. Er ist ein Gott, der Seine Versprechen hält. Dies wird sich an jedem einzelnen aus Seinem Volk zeigen.

Ich weiß wohl, daß es einige gibt, die es für ihr System der Theologie für unerläßlich hal­ten, den Wert des Blutes Jesu zu begrenzen. Wenn mein theologisches System eine solche Begrenzung nötig hätte, dann würde ich es in den Wind schlagen. Ich kann und wage nicht, diesen Gedanken in meinem Denken zuzulas­sen, es scheint mir zu nahe an einer Läste­rung zu liegen. Der Wert des vollendeten Werkes Jesu Christi füllt ein weites Meer. Mein Senkblei findet keinen Grund und mein Auge erblickt kein Ufer. Es muß im Blut Christi genügend Wirkungskraft liegen, daß Gott, wenn Er es gewollt hätte, nicht nur alle in dieser Welt, sondern auch alle in zehntausend anderen Welten hätte retten können, wenn sie das Gesetz ihres Schöpfers übertreten hätten. Wenn man Ihm erst einmal die Unendlichkeit zugesteht, dann ist eine Begrenzung nicht mehr denkbar. Wenn man eine göttliche Person als Opfer hat, ist es unmöglich, noch an einen begrenzten Wert zu denken. Die Begriffe "Grenze" und "Einschränkung" sind Begriffe, die sich nicht auf das göttliche Opfer anwenden lassen. Die Ab­sicht des göttlichen Vorhabens bestimmt zwar die Anwendung des unendlichen Opfers, macht es aber nicht zu einem endlichen Werk.

"Eine große Menge, die kein Mensch zählen kann", wird im Himmel sein. Ich denke, mehr als in der Hölle, weil Christus "in allem den Vorrang" hat, und ich kann mir nicht vorstel­len, daß mehr unter Satans Herrschaft sind als unter der Christi. Außerdem habe ich nirgends gelesen, daß es in der Hölle so große Mengen gäbe, die niemand zählen kann.

Keine »Allversöhnung«!

Dann gibt es einige, die lieben die Lehre der Allversöhnung, weil sie sagen: "Sie ist so wundervoll. Es ist eine liebenswerte Idee, daß Christus für alle Menschen gestorben ist; sie empfiehlt sich von selbst dem Gefühl des Menschen. Es liegt etwas von Freude und Schönheit darin." Ich gebe zu, daß das stimmt, aber sehr oft ist Schönheit mit Falschheit gepaart. Vieles an dieser Idee der Allversöhnung könnte ich bewundern, aber ich will hier einfach nur zeigen, was diese An­nahme notwendig mit sich bringt.

Wenn Christus an Seinem Kreuz starb, um alle Menschen zu retten, dann war es auch Sein Vorsatz, jene zu retten, die vor Ihm gestorben und verloren gegangen sind. Wenn diese Lehre stimmt, dann starb Er also für einige, die schon in der Hölle waren, bevor Er in diese Welt kam, denn ohne Zweifel gab es schon damals unzählig viele, die wegen ihrer Sünden verworfen worden waren. Noch einmal: Wenn Christus vorhatte, alle Menschen zu retten, wie kläglich ist Er dann enttäuscht worden, denn wir haben doch Sein eigenes Zeugnis, daß es einen See gibt, der mit Feuer und Schwefel brennt, und in eben diesen See sind nun welche von denen geworfen worden, für die Er, der Allversöhnung zufolge, mit Seinem Blut bezahlt hat. Dies aber scheint mir ein Gedanke zu sein, der tausendmal mehr ver­werflich ist als alle Folgerungen, denen man nachsagt, sie kämen aus der calvinistischen und christlichen Lehre von der besonderen und individuellen Erlösung. Zu denken, daß mein Erlöser für Menschen starb, die in der Hölle waren oder sind, scheint mir eine Vor­stellung zu sein, die zu schrecklich ist, um sie aufrecht zu erhalten.

Es gibt niemand, der mehr an den Lehren der Gnade festhält als ich. Wenn mich jemand fragte, ob ich mich schäme, ein Calvinist genannt zu werden, dann würde ich antwor­ten: Ich möchte nichts anderes heißen, als Christ. Aber wenn du fragst, ob ich die lehrmäßigen Anschauungen von Johannes Calvin für richtig halte, dann antworte ich, daß ich sie im großen und ganzen für richtig hal­te. Ich bekenne dies gerne. Aber es liegt mir fern zu denken, daß Zion nur calvinistische Christen enthält, oder daß niemand gerettet würde, der nicht an diese Lehren glaubt. Es sind schon ganz furchtbare Dinge gesagt worden über den angeblichen Charakter und die geistliche Art von John Wesley, den mo­dernen Vertreter des Arminianismus. Ich kann nur sagen, daß ich - auch wenn ich manche der Lehren, die er verkündigt hat, ablehne -für ihn persönlich eine Hochachtung empfin­de, die keinem seiner Anhänger nachsteht. Wenn man noch zwei Apostel zu den Zwölfen hinzufügen müßte, dann, glaube ich, könnte man niemand finden, der dafür mehr geeignet wäre als George Whitefield und John Wesley.


Kein »Fatalismus«!

Ich glaube nicht, daß ich mich von meinen hypercalvinistischen Brüdern in irgendeinem Punkt dessen, was sie glauben, unterscheide; aber ich unterscheide mich von ihnen in bezug auf das, was sie nicht glauben. Ich halte nicht an weniger fest, als sie es tun, aber ich halte an ein klein wenig mehr fest, ein klein wenig mehr - wie ich denke - von der Wahrheit der Heiligen Schrift. Das System der Wahrheit, das in der Heiligen Schrift offenbart ist, ist nicht eine gerade Linie; es sind zwei. Und niemand wird jemals eine richtige Sicht des Evangeliums erhalten, bevor er nicht gelernt hat, beide Linien zugleich zu sehen. Zum Beispiel lese ich in einem Buch der Bibel: "Der Geist und die Braut sagen: 'Komm.' Und wer es hört, der sage: 'Komm.' Und wen dürstet, der komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst." Und doch lerne ich an einer anderen Stelle desselben inspi­rierten Wortes Gottes, daß es nicht "an je­mandes Wollen oder Laufen" liegt, "sondern an Gottes Erbarmen". An der einen Stelle sehe ich, wie Gott in Seiner Vorhersehung über allem steht, und doch sehe ich auch, und ich kann nicht daran vorbei, daß der Mensch handelt, wie er will, und daß Gott sein Han­deln in einem großen Maße ihm selbst über­lassen hat und seinem eigenen freien Willen. Wenn ich nun auf der einen Seite behaupten würde, daß der Mensch so frei ist in seinem Handeln, daß es keine Kontrolle Gottes über sein Tun gäbe, dann wäre ich sehr gefährlich nahe an den Atheismus herangekommen. Wenn ich auf der anderen Seite erklären würde, daß Gott alle Dinge so sehr überwacht, daß der Mensch nicht frei genug ist, um selbst ver­antwortlich zu sein, dann wäre ich sofort beim Antinomismus oder Fatalismus. Daß Gott vor­herbestimmt und daß der Mensch doch selbst verantwortlich ist, sind zwei Tatsachen, die nur wenige klar sehen. Man hält sie für un­vereinbar miteinander und für Widersprüche, aber sie sind es nicht. Der Fehler liegt in unserem schwachen Beurteilungsvermögen. Zwei Wahrheiten können sich nicht gegensei­tig ausschließen. Wenn ich also an einer Stelle der Bibel finde, daß alles von oben her be­stimmt ist, dann ist das wahr. Wenn ich dann an einer anderen Stelle finde, daß der Mensch für alle seine Taten verantwortlich ist, dann ist auch das wahr. Es ist einzig und allein meine Dummheit, die mich dazu bringt, zu denken, diese beiden Wahrheiten könnten sich jemals widersprechen. Ich glaube nicht, daß sie je auf irgendeinem irdischen Amboß zu einer einzigen Wahrheit zusammenge­schmiedet werden können, aber sie werden sicher in der Ewigkeit eins sein. Sie sind zwei Linien, die so parallel sind, daß der menschliche Verstand ihnen so weit, wie es geht, folgen kann, ohne zu sehen, daß sie sich jemals treffen. Aber sie treffen sich und werden eins, irgendwo in der Ewigkeit, nahe bei dem Thron Gottes, wo alle Wahrheit entspringt.

Keine »unsittliche Lehre«!

Oft wird gesagt, die Glaubenslehren, die wir glauben, hätten eine Tendenz, uns zur Sünde zu verführen. Ich habe schon die Behauptung gehört, diese hohen Lehren, die wir lieben und die wir in der Heiligen Schrift finden, seien unsittliche Lehren_ Ich möchte wissen, wer sich noch traut, eine solche Behauptung zu machen, wenn er weiß, daß die heiligsten Männer an diese Lehren geglaubt haben. Ich frage denjenigen, der es wagt zu sagen, daß Calvinismus eine unsittliche Religion sei, was er denn über den Charakter von Augustin, Calvin oder Whitefield denkt, die in ver­schiedenen Jahrhunderten die großen Vertreter des Systems der Gnade waren. Oder was will er über die Puritaner sagen, deren Bücher voll davon sind? Wäre in jenen Tagen einer Armi­nianer gewesen, dann hätte man ihn als abscheulichsten Irrlehrer, der auf dieser Erde atmet, angesehen. Heute sieht man uns als Irrlehrer an; sie sind die Orthodoxen. Aber wir haben den Glauben der alten Schule, wir können uns auf die Apostel zurückführen. Wäre dies nicht gewesen, gäbe es uns heute überhaupt nicht. Wir können eine goldene Li­nie bis hin zu Jesus Christus ziehen, eine hei­lige Folge von mächtigen Vätern, die alle diese wunderbaren Wahrheiten festhielten, und fragen: "Wo findet man bessere und hei­ligere Menschen auf der Erde?" Keine Lehre eignet sich so gut dazu, Menschen vor der Sünde zu bewahren, wie die Lehre der Gnade Gottes. Wer sie eine "unsittliche Lehre" ge­nannt hat, wußte nichts von ihr.

 

Nachtext

Quellenangaben

"Alles zur Ehre Gottes"