Zeitschrift-Artikel: Lessons of Love - Die Liebe im Hohenlied

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Titel: Lessons of Love - Die Liebe im Hohenlied
Typ: Artikel
Autor: Carsten Görsch
Autor (Anmerkung):

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Titel

Lessons of Love - Die Liebe im Hohenlied

Vortext

Text

Das Hohelied der Liebe – im Altertum nur den erwachsenen Juden vorbehalten – enthält tiefe und anschauliche Lektionen der göttlichen Liebe zu uns. Ist doch diese ländliche Idylle von jeher auch als Parabel für die Liebe, die der Allmächtige zu seinen Auserwählten hat, gesehen worden.
Eine Linie, welche der Geist Gottes in den acht Kapiteln des „Liedes der Lieder“ deutlich zeichnet, ist die einer veränderten Liebe zwischen Salomo und Sulamit. Sehen wir im Anfang des Buches eine Braut, die mit dem Bräutigam über die Wiesen und Felder läuft, so begegnen wir am Ende desselben einer Ehefrau, die auf ihren Geliebten gestützt aus der Wüste heraufzieht (Hld 8,5). Das Bewusstsein der eigenen Kraft musste dem Bewusstsein der Kraft eines anderen weichen.
Eine der vielen Lektionen des Jugendwerkes Salomos ist sicherlich gerade die, dass Chris- tus in uns wachsen und wir abnehmen sollen! Das strotzende Selbstbewusstsein am Anfang unseres Weges muss zunehmend dem Vertrauen Platz machen, dass Gottes Liebe uns bis zum Ende stützt und trägt. Angesichts der zunehmenden Streitigkeiten in Bezug auf die Souveränität Gottes und die Verantwortung des Menschen scheint mir dies nicht nur theologisch sondern auch seelsorgerlich ein nicht unerheblicher Aspekt zu sein.


Die Veränderlichkeit der Liebe


Anhand der obigen Zitate aus dem Hohenlied erkennen wir, dass die Art der Liebe, welche Sulamit zu Salomo hatte, im Verlauf der Jahre einem qualitativen Wandel unterworfen war. In der Phase der frisch Verliebten hören wir sie sagen: „Mein Geliebter ist mein!“ (2,16). Nach Jahren der Ehe und Erprobung allerdings: „Ich bin meines Geliebten!“ (7,10). Das anfängliche besitzmäßige Ergreifen des Geliebten verwandelt sich im Laufe der Jahre in ein von dem Geliebten ergriffen sein.
Auch die Art, wie sie über die Liebe Salomos zu ihr nachdenkt, ändert sich: „Ich bin sein“, sagt sie in 2,16 und registriert, dass jemand von ihr Besitz ergriffen hat. In 6,3 ergreift sie ihrerseits von dem Geliebten Besitz und sagt „Mein Geliebter ist mein.“ Nicht mehr in der Dimension des Besitzes, sondern in der eines passionierten Verlangens von Seiten des Ehepartners hören wir sie zuletzt dann aber laut denken: „... und nach mir ist
sein Verlangen.“ (7,10) Auch die Liebe zwischen Ehepartnern verändert sich im Laufe des Zusammenlebens.
Reinhard Mey singt in einem seiner Lieder:

Wie vor Jahr und Tag liebe ich dich, doch

vielleicht weiser und bewusster noch

und noch immerfort ist ein Tag ohne dich

ein verlorner Tag, verlorne Zeit für mich!


Die Spontanität der Jugend weicht der Kraft der Erwachsenen und die Reife des Alters verklärt die Liebe in ihr schönstes Bild. Manche sagen, dass man nicht nur älter sondern auch besser wird. Die innere Qualität der Liebe kann trotz zunehmenden äußeren Verfalls wachsen.

Wandelbare Erkenntnis des unwandelbaren Gottes

So, wie die Liebe zwischen Ehepartnern sich im Laufe der Zeit verändert, so verändert sich auch die Liebesbeziehung, die wir zu Gott haben.
Die Liebe eines Neubekehrten ist anders als die Liebe dessen, der schon zwanzig Jahre mit dem Herrn lebt. Und dann ist da noch einer, der mit dem Herrn alt geworden ist und womöglich an den Pforten zur Ewigkeit steht. Es ist immer der gleiche Gott, es ist immer ein Glaubender, aber das Bewusstsein der Liebe Gottes ändert sich.
Gottes Liebe zu uns ändert sich nicht – er ist unwandelbar. Unsere Erkenntnis und Wertschätzung ist dagegen wandelbar. Im besten Fall stetig wachsend, im schlimmsten Fall abnehmend – bis zur Erblindung. Petrus wollte Jesus mit all seiner Kraft lieben, während Johannes sich sehr bewusst war, bedingungslos geliebt zu sein. Wir wissen, dass dieses jeweilige Bewusstsein ihren vorläufigen Weg der Nachfolge entscheidend prägte. Der eine versagte – der andere blieb treu.

Liebe muss wachsen

Es ist ein bedenkliches Faktum, wenn die Erkenntnis Gottes und damit auch die Liebe zu ihm stagniert. Wie es überhaupt bedenklich ist, wenn Christen keine Anstalten machen, zu wachsen und nach 20 Jahren immer noch so selbstverliebt sind wie kurz nach ihrer Bekehrung. Aus gegebenem Anlass schrieb Paulus: „Und um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen möget, was das Vorzüglichere sei, auf dass ihr lauter und unanstößig seid auf den Tag Christi“ (Phil 1,9).
Und Johannes schreibt in seinem ersten Brief:
„Ich schreibe euch, Väter, weil ihr den erkannt habt, der von Anfang ist. Ich schreibe euch, Jünglinge, weil ihr den Bösen überwunden habt. Ich schreibe euch, Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt“ (1Joh 2,13).
Drei Gruppen von Gläubigen und immer der gleiche Gott! Aber unterschiedliche Erkennt- nisse des Wesens Gottes, wachsende Einsicht in seine Wege und immer tiefere Liebe.


Die erste Liebe

„Mein Geliebter ist mein!“ (2,16), sagt die Sulamit am Anfang ihres Weges mit Salomo. Sie hat von Salomo Besitz ergriffen. „Mein Geliebter gehört mir und ich gebe ihn nicht wieder her!“, möchte man fast ihre Worte übersetzen. Sie hat einen Schatz gefunden und will ihn nicht mehr hergeben. Ungebrochen ist ihre Kraft, mit der sie das Kostbarste in ihrem Leben festhält. Sie glaubt an seine Treue, aber gleichermaßen ist sie von der Kraft ihrer Treue überzeugt.
In demselben Selbstvertrauen würde ca. 1000 Jahre später Petrus seine Liebe zu seinem Meister deklarieren: „Selbst wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen“ (Mt 26,35). Diese durchaus ehrliche Überzeugung entsprang einer wirklichen tiefen Liebe zum Herrn. Allerdings baute sie auf die eigene Kraft und nicht auf die Gottes. Wir wissen, dass es einer bitteren Enttäuschung bedurfte, um Petrus von dem Irrtum zu befreien, dass er Jesus die Treue halten könne.

Die Geschichte wiederholt sich


Dieser Irrtum wiederholt sich mehr oder weniger stark nach der Bekehrung eines Menschen. Wohl keinem bleibt sie erspart. Die Liebe, die ein neugeborener Jünger Jesu zu seinem Meister hat, strotzt geradezu vor ungebrochenem Selbstbewusstsein. Gleichwohl ist sie ehrlich und ungeheuchelt. Aber sie rechnet keineswegs damit, dass die eigene Kraft nicht ausreichen könnte, „dem Lamm zu folgen, wohin immer es geht“ (Offb 14,4).
Ich erinnere mich sehr gut an diese Phase meines Christseins. Wir waren einige junge Menschen, die in einer kleinen Erweckung zum Glauben gekommen waren – und wollten es besser machen als das etablierte, laue Christentum. Wir wollten der frommen Welt einmal zeigen, was wahre Jüngerschaft sei. In unseren Augen waren wir so etwas wie eine „Eliteeinheit Gottes“, eine „schnelle geistliche Eingreiftruppe“. Unsere Liebe zum Herrn war ungeheuchelt, unser Selbstbewusstsein ungebrochen, unsere Selbstüberschätzung eklatant.
Heute denke ich manchmal: „Wie konnten wir nur?“ Es ist der Geduld einiger reifer Christen zu verdanken, dass wir nicht abgedriftet sind und geistliche „Desperados“ außerhalb der Gemeinde Gottes wurden. Gott gab uns treue und geduldige Hirten, die uns mit Langmut zu nehmen wussten und uns in die Gemeinden integrierten. Er gab uns aber auch einiges Scheitern an uns selbst, damit wir begriffen, dass es nicht an uns sondern an ihm lag, ob wir Glauben hielten oder nicht.
Dieser Typ „Christ der jungen Jahre“ lebt spontan, was er empfindet. Seine Liebe zu Christus ist ungeheuchelt und stark. Er rechnet nicht mit der eigenen Schwachheit. In seiner Wahrnehmung hat Er Christus erwählt und nicht so sehr Christus ihn. Es kommt auf ihn an. Auf seine Leistung, seine Treue, seine Hingabe. Wenn er es auch nicht laut sagt, so meint er doch „Gott braucht mich!“


Erwachsene Liebe

„Ich bin meines Geliebten“, hören wir die Sulamit unmittelbar nach dem „Traum der Trennung“ in Hohelied 6,3 sagen. Nicht mehr sie besitzt Salomon, sondern umgekehrt Salomo sie. Sie scheint begriffen zu haben, dass sie zu allem fähig ist. Sie hat zugenommen an Erkenntnis über sich selbst, aber auch an Erkenntnis über die beständige Treue ihres edlen Liebhabers. Nicht von ungefähr folgt diese Aussage über die gewandelte Liebe unmittelbar nach der Krise in Kapitel 5, wo sie die Bequemlichkeit der Gemeinschaft vorzog.
Es gehört zu den anbetungswürdigen Tatsachen, dass Gott selbst aus dem tiefsten Versagen seiner Kinder höchsten Gewinn für diese entstehen lässt. Er lässt das Straucheln zu, um einen festeren Gang im Glaubensleben zu bewirken. Er benutzt unser Versagen, um am Ende Bewährung zu schenken. Insofern sind alle Krisen von höchster erzieherischer Bedeutung im Glaubensleben. Sie sind genial weise in ihrem Effekt auf unsere Seele.
Manchmal ist es schon fast peinlich ...
Die Treue, die der Liebe Gottes laut Galater 5,22, innewohnt, lernen wir besonders in solchen Situationen des Glaubenslebens kennen, wo wir versagen. Oft ist es schon fast peinlich, ihm immer wieder dieselben Sünden bekennen zu müssen – seine Geduld zu strapazieren. Wir möchten ihn vielleicht sogar manchmal bitten, doch alleine weiterzumachen, weil das besser geht. Er aber bleibt stehen, wartet freundlich und wir begreifen immer mehr, dass es nicht auf uns, sondern auf ihn ankommt.
Michael Card legt in „Gomers Song“ der untreuen Frau Hoseas die folgenden Worte in dem Mund:


„Ich weiß nicht, was er in mir sieht ...

Er ist einfach mehr

als ich begreifen kann,

wie er mir immer wieder vergibt,

wie er dabei gesund bleibt

Hosea, du bist ein Narr!

 

Die Zärtlichkeit eines Vaters,

die Leidenschaft eines Kindes,

die Sanftheit eines liebenden Freundes,

ein verständiges Lächeln,

alles dies und soviel mehr

hast du auf eine treulose Hure

wie mich verwandt.

 

Ich habe niemals

eine derartige Liebe erfahren.

Hosea, du bist ein Narr.


Gereifte Liebe

Die letzte Äußerung der Sulamit über die Liebe zu Salomo endet mit den Worten: „und nach mir ist sein Verlangen“ (7,10). Sie spürt, das Salomo nach ihr verlangt. Das hebräische Wort für Verlangen „tesh-oo-kaw“ bedeutet soviel wie: „sich ausstrecken nach“ oder „Sehnsucht haben nach“. Sulamit nahm die Liebe Salomos als eine sehr intensive und sehnsüchtige wahr.
Tatsächlich hat Gott ein starkes Verlangen nach seinen Auserwählten. Gerhard Teerstegen (1697-1769) fand ergreifende Worte:


Wie bist Du mir so zart gewogen,

Wie sehnet sich Dein Herz nach mir!

Durch Liebe sanft und tief gezogen,

Neigt sich mein alles auch zu Dir.

Gott sehnt sich nach Gemeinschaft


Nicht nur unsere Seele „dürstet nach dem lebendigen Gott“, wie es Psalm 42,2 sagt, sondern umgekehrt dürstet Gott auch nach solchen, die ihn anbeten in Geist und Wahrheit. Gott will die Stimmen seiner Geschöpfe und seiner Erwählten hören, so wie Salomo die Sulamit zu seiner Zeit begehrte:
„Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände, lass mich deine Gestalt sehen, lass mich deine Stimme hören; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig.“ (Hld 2,14)
Gott begehrt uns Menschen. Er wünschte, mit Adam und Eva Gemeinschaft zu haben – wollte sich ihnen mitteilen. Genauso wie er wollte, dass sie sich ihm mitteilten. Den Gott, der sich selbst genügen könnte, weil er umgeben ist von Herrlichkeit und Anbetung, verlangt danach, mit seinen Geschöpfen Gemeinschaft zu haben. Welch anbetungswürdiger Umstand!


„Er liebt dich – auch wenn du ihm Kummer gemacht!“

Es verlangt ihn nach uns, obwohl wir ihn oft enttäuscht haben. Die Liebe, die Gott zu uns hat, „lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu“ (1Kor 13,5). Gott sehnt sich nach uns.

„Stark ist meines Jesu Hand,

und er wird mich ewig fassen,

hat zu viel an mich gewandt,

um mich wieder loszulassen.

Mein Erbarmer lässt mich nicht;

das ist meine Zuversicht.“

(Karl Bernhard Garve, 1763-1841)

Gott liebt uns mit der gleichen Intensität „in guten wie in schlechten Zeiten.“ Sein Bund mit uns ist tatsächlich ewig und unabhängig von unseren Schwachheiten und unserer Untreue. Diese Verlangen Gottes schließt unser ganzes Leben ein:
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches euer vernünftiger Dienst ist“ (Röm 12,1).

Dieses Verlangen Gottes begehrt aber auch, unsere Stimme zu hören, indem wir im Gebet unseren Mund öffnen und i h m das Lob bringen, dass  i h m  gebührt. Und einmal wird der Tag kommen, wo Gott alles in allem und seine Liebe zu uns gebührend bewundert sein wird!

Nachtext

Quellenangaben