Zeitschrift-Artikel: Gemeindekongreß '93 ("Vision für ein entkirchlichtes Deutschland")

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Titel: Gemeindekongreß '93 ("Vision für ein entkirchlichtes Deutschland")
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
Autor (Anmerkung):

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Titel

Gemeindekongreß '93 ("Vision für ein entkirchlichtes Deutschland")

Vortext

Text

Zwei Jahre nach dem 1. Gemeindekongreß fand in den gleichen Messehallen ein weitere Konferenz statt. Hatte im Jahr 1991 hier der "Schulterschluß" und die "Versöhnung" zwischen (einem Teil) der Evangelikalen und den Charismatikern stattgefunden, so wurde diese Konferenz von dem Gebet um "eine evangelistische Ökumene aller Christen" begleitet.

Bereits Monate vor der Veranstaltung hatte das "Visionsteam" des Kongresses, zu dem u.a. F. Aschoff, K. Eickhoff, 0. Schweitzer und W. Simson gehörten, verkündigt: "Wenn wir den prophetischen Worten und Bildern glauben dürfen, dann wird Gott wunderbar an uns handeln. Er hat gezeigt, daß Er den wundbedeckten Leib unseres Volkes in heilendem Öl baden und reini­gen wird."
Trotz intensiver Werbung, trotz bekannter Redner (Bill Hybels als "Leiter der schnellstwachsenden Ge­meinde der westlichen Welt"; Mike Bickle als "promi­nentester Vertreter der Prophetenschule in Kansas City"; Graham Kendrick, als "weltweit bekannter Mu­siker" und Initiator der "Jesus-Märsche", so wie der Schweizer Pfarrer Gerhard Keller, "dem bekanntesten und vollmächtigsten Seelsorger Europas") kamen in diesem Jahr mit etwa 3.200 Dauerteilnehmern wesent­lich weniger Besucher zu diesem Kongreß als vor 2 Jahren. Vielleicht haben die Tagungskosten (180.- DM für die gesamte Konferenz, 90.- DM für die Tageskarte und 30.- DM für eine Abendveranstaltung) oder eine allgemeine Konferenzmüdigkeit manchen davon abgehalten, diese Veranstaltung zu besuchen. Jedenfalls ha­ben Tagesgäste teilweise sehr deutlich ihren Unmut über die hohen Preise geäußert.
Auch sonst wurde der Kongreß von einem Ereignis begleitet, das sicher nachdenklich gemacht hat und die Euphorie in Grenzen hielt: bei Konferenzbeginn konn­te man in den Schlagzeilen der Nürnberger Tagespresse die Nachricht lesen, daß ein bekannter Leiter einer charismatischen Gemeinde Nürnbergs, der für die "Prophetenkonferenz '92" in Nürnberg mitverantwort­lich war, samt seiner Frau "unter dem Verdacht sexuel­ler Nötigung und Freiheitsberaubung" verhaftet worden war.
Etwa 60% der Teilnehmer kamen aus der evangeli­schen Kirche, ca. 25 % aus Freikirchen, nur knapp 2% kamen aus der röm.-kath. Kirche, die übrigen Besucher hatten keine Kirchenzugehörigkeit angegeben.
Es wurden 7 Seminare angeboten, von denen die Seminare "Leben im Heiligen Geist", "Der prophetische Dienst" und "Kirche für Entkirchlichte" am besten be­sucht wurden.


Ein Kongreß voller Kontraste

"Erlebe die prickelnde Atmosphäre des Gemeindekongresses in Nürnberg, spüre das Feuer des Glaubens,..", mit diesen "prophetischen" Worten hatte ein bekannter evangelikaler Verlag auf den Kongreß aufmerksam gemacht.
In den Plenumsveranstaltungen mit Bill Hybels ging es allerdings zunächst überraschend nüchtern zu. Das bescheidene, auf Show verzichtende Auftreten dieses freundlichen Amerikaners mit dem leidenschaftlichen Anliegen, "Entkirchlichte" mit dem Evangelium zu er­reichen, war überzeugend. Als konservativer Evangelikaler, der von der Unfehlbarkeit der Bibel überzeugt ist und auf "Power evangelisrn" verzichtet, gab Hybels der Konferenz eine unerwartete Prägung.
Klaus Eickhoff, dem man wohl neben Jürgen Kroll die Einladung Bill Hybels nach Deutschland verdankt, schlug in seinem Vortrag im Anschluß an die Pastorenkonferenz in die gleiche Kerbe. Er bezeichnete die gegenwärtige "kirchliche Harmlosigkeit" als das "Gefährlichste, was sich zur Zeit in Deutschland erei­gnet". Er rief auf, zunächst Gottes Gericht zu predigen, um dann auch die Gnade Gottes wirksam verkündigen zu können. Keine Rede von der anbrechenden großen Erweckung, in welcher Deutschland eine wichtige Rol­le spielen soll, sondern von dem "Schweigen Gottes" über Deutschland, als Gottes Antwort auf die Harmlo­sigkeit und Gleichgültigkeit der Kirche.
Wären diese Vorträge nicht von - nach meinem Emp­finden - etwas flippigen "Lobpreiszeiten" unter der Lei­tung von Graham Kendrick und Thomas van Dooren umrahmt worden, hätte man glauben können, in einer Konferenz in Dillenburg, Bad Blankenburg oder Bad Liebenzell zu sitzen. Nach dem Vortrag von Klaus Eickhoff war die Betroffenheit so groß, daß nicht ein­mal geklatscht wurde.


Prophetie oder Hellseherei?

Stunden später, in dem Seminar "Der prophetische Dienst" unter der Leitung des GGE - Vorsitzenden Friedrich Aschoff, schien man auf einer anderen Konfe­renz zu sein. Hier wurde von den "Cansas City Prophe­ten" Mike Bickle, John Paul Jackson und Phil Elsten über prophetisches Reden referiert und "Prophetie" wurde demonstriert und eintrainiert.
Redner war hier vor allem Mike Bickle, der von sich berichtete, dreimal im Wachzustand die Stimme Gottes akustisch gehört und auch Heimsuchungen von Engeln erlebt zu haben. Am Freitag spürte er während des Seminars ein Brennen in der Magengegend und ein Heißwerden seiner Hände. Das war für ihn ein Zeichen Gottes, daß der Heilige Geist als das "Feuer Gottes" unter den Seminarteilnehmern wirksam werde. Die Teilnehmer, die nun ebenfalls ein Brennen feststellten, sollten nun aufstehen und sich von ihren Nachbarn unter Gebet die Hände auflegen lassen, weil der Heilige Geist nun in einer besonderen Weise an oder durch sie wirken würde.
Die beiden anderen "Propheten" demonstrierten ihre Fähigkeit, Bilder, Visionen und Eindrücke, die sie über einzelne Teilnehmer des Seminars bekommen hatten, zu deuten und auszusprechen.
Phil Elsten z.B. bat die betreffenden Leute jeweils auf­zustehen und ihre Handflächen zu zeigen, weil Gott ihm dadurch besondere Einsichten gäbe. Im Anschluß daran wurde Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der betreffenden Personen gedeutet bzw. "prophezeit".
Es wurde gelehrt, daß "innere Bilder", Schmerzen in einer Körpergegend usw. in Verbindung mit der Person, über welche ein prophetisches Wort ausgesprochen werden sollte, Hinweise über den Inhalt der Prophetie geben. So sei z.B. das innere Bild eines Schlüsselbundes ein Hinweis darauf, daß die entsprechende Person einen Dienst an Gefangenen, Drogensüchtigen usw. bekom­me, um deren Gefangenschaft zu brechen. Oder der "kirchliche Kragen" sei ein Hinweis darauf, daß es sich um einen "Mann Gottes" handle.
Jackson prophezeite u.a. dem anwesenden Pastor H.C. Rust, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises "Gemeinde und Charisma" im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten), daß Gott ihn gebrauchen werde, in einem "apostolischen Dienst" die Baptisten in ganz Deutschland zu beeinflussen, und daß er eine "neue Salbung zum Lehren" und einen neuen Dienst in Frank­reich bekommen werde. Die meisten Prophezeiungen wurden anschließend nach Rücksprache mit dem Leiterteam des Seminars von den Betroffenen bestätigt bzw. erläutert.


Psychologisches Spiel oder mediale Fähigkeit?

Natürlich kommt an dieser Stelle die Frage auf, ob es sich hier bei den "Propheten"
a) um ein leichtsinniges Spiel mit inneren Bildern, Eindrücken bzw, Visionen,
b) um eine mediale Fähigkeit, also eine Art Hellseherei, oder
c) um eine Gabe Gottes handelt.

Die in Nürnberg vorgestellte Art von Prophetie kann ich nach meinem Verständnis der Bibel nicht als eine Gabe des Heiligen Geistes bewerten.
Zur Zeit der Apostel, als das NT noch nicht vollständig vorhanden war, benutzte Gott die Gaben der Prophetie und der Erkenntnis, um Seinen Willen und Seine Gedan­ken deutlich zu machen, weil die junge Gemeinde da­mals darauf angewiesen war und nicht wie wir Christen heute auf die neutestamentlichen Schriften zurückgreifen konnte.
Jetzt aber werden wir davor gewarnt, dem Wort Gottes etwas hinzuzufügen oder hinwegzutun; vgl. Gal. 1,9:
"Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkün­digt, entgegen dem, was ihr empfangen habt: er sei verflucht."
Oder Offbg. 22,18:
"Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind" (siehe auch 2. Petr. 1,19-21; Hebr. 1,1 und 2,1-4).
Daher muß "Prophetie" im Sinne einer Offenbarungsquelle neben dem Wort Gottes entschie­den abgelehnt werden. Ein prophetischer Dienst kann laut 1. Kor. 14,3 heute nur mit der Bibel in der Hand geschehen, indem wir das geschriebene Wort Gottes unter der Leitung des Heiligen Geistes hautnah auf die Situation der Zuhörer anweden, so daß sie in ihrer persönlichen Situation "erbaut, ermahnt und getröstet" werden.
Jeder andere "prophetische Dienst" steht in Gefahr, von "falschen Aposteln" (2. Kor. 11,13-15) und "fal­schen Propheten" (2. Petr. 2,1-3; Apg. 20,3) praktiziert zu werden, egal ob ihre "Prophezeiung" eintrifft oder nicht.


Im Wechselbad der Emotionen

Die Plenumsveranstaltung am Samstagabend bescherte den Teilnehmern ein Wechselbad von Eindrücken. Zu­nächst wurden die ca. 4.000 Zuhörer unter Anleitung der sehr professionell auftretenden Musik- und Gesanggruppe in eine ausgelassene, tanzende und ju­belnde Menge verwandelt, die eine Stunde später unter der Predigt von G. Keller über das Lamm Gottes in Offbg. 14 "anbetend" zusammenschmolz und in dieser - für mein Empfinden - unnüchternen, mystischen Atmo­sphäre aufgefordert wurden, sich das "Lammessiegel"(Offgb. 14,1) geben zu lassen - ein seltsamer Gegensatz zu der tanzenden Menge vor weni­gen Minuten.
Auch die Abschlußveranstaltung am Sonntag war voller Kontraste. Zunächst stellte F. Aschoff mit Bezug auf Joel 3 seinen Traum vor: In den nächsten Monaten sollte der "Jesus-Marsch" fortgesetzt werden, indem kleine Gruppen die Orte der Kriegsgreuel und Israel besuchen sollten, um dort stellvertretend für das Volk Buße zu tun und um Vergebung zu bitten.
Klaus Eickhoff bekannte dagegen in seinem Schlußwort sehr ehrlich: "Wir haben kein brennendes Herz und das kann man nicht überspielen durch Entertainment. Wir können uns nicht einheizen..." und forderte auf, über den persönlichen Zustand Buße zu tun und "mit ganzem Herzen zum Gekreuzigten umzu­kehren".


Eindrücke und Bedenken

Neben einigen bereits geschilderten positiven Ein­drücken, zu denen ich noch die erfreuliche Beobach­tung nennen möchte, daß einige der anwesenden Charismatiker und Gemeindebauer bescheidener, selbstkritischer und gesprächsbereiter geworden sind, möchte ich meine Eindrücke und Bedenken abschlie­ßend zusammenfassen:

1. Selten ist mir die manipulierende Wirkung von Mu­sik und Gesang auf Menschenmassen so deutlich demonstriert worden wie in Nürnberg. Verwechselt man hier Stimulierung durch Musik mit dem Wirken des Heiligen Geistes?

2. Die Menge der Teilnehmer schien mir recht unkritisch jeden Beitrag - mochte er auch kontrovers zum Vor­redner sein - mit Beifall zu quittieren. Die Einflußnahme auf die Zuhörer durch Aufforderung zum Nachsprechen, zu gemeinsamen Erklärungen, Beifallskundgebungen usw. schien mir gruppendynamisch sehr wirksam, aber dadurch ver­antwortungslos zu sein.

3. Den leichtsinnigen, unbiblischen, an Hellseherei er­innernden Umgang mit "Prophetie" und die Tendenz, die Teilnehmer nicht zum Bibelstudium, sondern zum Hören und Erkennen von Stimmen, Bildern, Eindrücken, Visionen usw. zu schulen, halte ich für eine Bestätigung der Sorge, daß durch diese Praxis -bei aller Betonung der Wichtigkeit der Heiligen Schrift - in Wirklichkeit das Wort Gottes zu Gunsten von Träumen usw. in den Hintergrund gerückt wird (vgl. Jer. 23) und die betreffenden Personen in die Irre geführt werden.

4. Die von F. Aschoff zelebrierte "Abendmahlsfeier" im Anschluß an die Abendveranstaltung erinnerte in ihrem sakramentalen Charakter so stark an eine ka­tholische Messe, daß mir erweckte "Noch-Katholi­ken" später sagten, sie seien entsetzt gewesen und hätten aus diesem Grund nicht an dem "Abendmahl" teilgenommen. Die Sympathie und Nähe Aschoffs zu einigen röm.-katholischen Auffassungen und Prakti­ken wurde hier deutlich.
Unbegreiflich war für mich, wie unbesorgt Referen­ten aus dem freikirchlichen Lager F. Aschoff bei der Austeilung des Abendmahles assistierten.

5. Die wiederholte Aufforderung, Buße für die Sünden der Vergangenheit zu tun und dazu Orte aufzusu­chen, an denen Greuel geschehen sind, scheint mir unnüchtern zu sein und den Blick dafür zu vernebeln, für welche Sünden der Gegenwart das Volk Gottes heute wahrlich Grund genug hat Buße zu tun: Verweltlichung, mangelnde Bibelkenntnis, Gebetslosigkeit, Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit, Harmlosigkeit, Kompromißfreudigkeit, Materialis­mus usw.

6. Wir sog. "Nichtcharismatiker" haben weithin durch unsere Lauheit und mangelnde Hingabe an Christus keine überzeugende, biblische Alternative geboten. Daher tragen wir Mitschuld daran, daß viele Ge­schwister auf solchen Konferenzen vergeblich su­chen, was wir ihnen nicht vorgelebt haben: Ein Leben in der Kraft des Heiligen Geistes zur Ehre unseres Gottes.

Nachtext

Quellenangaben