Zeitschrift-Artikel: Und also wird ganz Israel errettet werden... oder: Hat Israel noch eine Zukunft?

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Titel: Und also wird ganz Israel errettet werden... oder: Hat Israel noch eine Zukunft?
Typ: Artikel
Autor: Martin Heide
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Titel

Und also wird ganz Israel errettet werden... oder: Hat Israel noch eine Zukunft?

Vortext

Text

Paulus untersucht im Römerbrief mit der ihm eigenen Gründlichkeit die grundsätzliche Frage: Wird das jüdische Volk als solches wiederher­gestellt oder nicht?

In den Kapiteln 9 und 10 legt Paulus dar, daß Israel sich an Jesus Christus, dem "Stein des Anstoßes" (Röm. 9,32), gestoßen hat Sie haben Ihn nicht als Messias erkannt und aufgenom­men, sondern den Römern zur Kreuzigung über­liefert. Seitdem befindet sich nicht Israel in der Gunst Gottes, sondern die Nationen (Röm. 9,30+31). Damit wird zunächst nur die Frage der grundsätzlichen Zuwendung Gottes zu den Völkern erörtert, denn daß die Nationen Ge­rechtigkeit erlangt haben, heißt nicht, daß alle Menschen aller nicht-jüdischen Völker nun errettet sind. Hier wird nur grundsätzlich festgestellt, daß die Privilegien Israels (Ver­mittler des Heils durch die Schriften und die Propheten, sowie ein Eigentumsvolk Jahwes im Gegensatz zu allen anderen Völkern zu sein etc, vgl. Eph. 2,11+12) beiseite gesetzt sind, und das Evangelium nun unmittelbar allen Völkern vor­gestellt wird.

Da entsteht natürlich die Frage, inwieweit Is­rael nun völlig verstoßen ist. Paulus verneint das (Röm. 11,1); er selbst ist der beste Ge­genbeweis - als Israelit vom Stamm Benjamins ist er nicht verworfen, sondern errettet. Dabei ist er nicht der einzigste, der Errettung finden konnte; ein Beispiel aus Elias Zeiten zeigt, daß Gott eine größere Menge, wenn auch in Bezug auf das gesamte Volk wenige, übriggelassen hat (V. 1-4).

In der Apostelgeschichte wird die "Willkür", mit der Gott diese Auswahl (Griech. ekloge, Röm. 11,7) in den Anfangstagen der Gemeinde getroffen hat, mehrmals hervorgehoben. Die Reaktion der 3000 auf die erste Predigt des Petrus - was sollen wir tun? - wird von Petrus mit dem Hinweis beantwortet:

"Denn euch ist die Verheißung und euren Kin­dern und allen, die in der Ferne sind, so viele irgend der Herr, unser Gott, herzurufen wird" (Apg. 2,39).

Lukas stellt an das Ende dieses Kapitels den Hinweis: Der Herr aber tat täglich hinzu, die gerettet werden sollten (Apg. 2,47). Und in Apg. 3,25+26 weist Petrus daraufhin, daß das Angebot der Gnade den Juden zuerst gilt. Es ist der gleiche Grundsatz, den Paulus so oft befolgte: . . . den Juden zuerst. Er steht nicht um Widerspruch zu Röm. 11 (die übrigen sind verstockt, V. 7), sondern beruht auf dem Grundsatz der Gnade: Das Angebot der Gnade durch das Evangelium sollte gerade den Juden, den größten Feinden desselben, zuerst gebracht werden! Allerdings würde nur eine von Gott erwählte Schar diese Gnade erfassen.

Heute ist eine jüdische "Auswahl", wie sie Paulus in Röm. 11 bzw. Lukas in der Apo­stelgeschichte schildert, kaum zu sehen. Nur einzelne Juden hier und dort akzeptieren das Evangelium; diese haben bei weitem nicht den kollektiven Charakter einer "Auswahl", wie sie in der frühen Christenheit bestand. Nichts­destoweniger besteht der Grundsatz, daß Gott Sein Volk nicht verstoßen hat: Es gibt einen Überrest, und sogar noch heute können Juden das Heil in Jesus Christus finden. Dies wäre der erste Beweis, daß die Juden nicht endgül­tig verworfen sind.


Die zukünftige Rettung Israels

Den zweiten Beweis liefert Paulus in den ab V. 11 folgenden Versen. Wenn auch in der jetzigen Zeit diejenigen, die Christus verwerfen, "die übrigen" aus V. 7, verhärtet (1) sind, so wird sich das Blatt doch einst wenden: Verstockung (2) ist Israel teilweise widerfahren - aber, zeitlich begrenzt, nämlich bis die Vollzahl der Nation eingegangen sein wird (Röm. 11,25). Sie sind teilweise verstockt, d.h. der Teil ist ver­stockt, der sich jetzt weigert, Jesus als Messias und Heiland anzuerkennen. Diese Verstockung des größten Teiles der Israeliten wird bestehen bleiben bis die Vollzahl der Nationen einge­gangen ist, und also (3) wird ganz Israel er­rettet werden (V. 26). Jesaja, Matth_ 24 und Dan. 12 betonen zwar, daß auch in der zukünf­tigen Drangsalszeit nicht alle Israeliten, sondern nur ein Teil errettet werden wird (vgl. Kap. 1). Aber Paulus gebraucht hier den Begriff "ganz Israel" (4), um die Stellung Israels jetzt mit ihrer zukünftigen zu kontrastieren. Jetzt, und am ehesten noch zur Zeit der Apostel, wird bzw. wurde der Teil der Juden, die errettet werden sollten, wie Lukas schreibt, regelrecht aus dem Judentum herausgerissen, ihrer Identi­tät als Juden in religiöser Hinsicht beraubt und in den Korpus der Gemeinde eingefügt, wo nicht mehr ist Jude noch Grieche (Kol. 3,10). Dann werden die Juden als Nation, unter Bei­behaltung ihrer nationalen und politischen Sou­veränität - wenn auch nur als ein Überrest -in das Friedensreich eingehen. Paulus' Zitat aus Jes. 59 zeigt das in seinem Kontext recht klar:

"Und ein Erlöser wird kommen für Zion und für die, welche in Jakob von der Übertretung umkehren, spricht Jahwe" (Jes. 59,20).

Es sind diejenigen, welche in Jakob von der Übertretung (hebr. päscha', "Bruch mit, Ab­fall, Verbrechen" (5)) umkehren, für die die Erlösung kommt; sie repräsentieren damit "ganz Israel"! Mit ihnen (und nicht etwa mit den Abtrünnigen, den Vielen in Matth. 24, deren Liebe erkaltet usw.) wird der neue Bund ge­schlossen (Röm. 11,27a; Jer. 31,33 ff.). Ein weiteres Zitat aus Jesaja ist im folgenden Vers (...wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde, Röm. 11,27b) enthalten, das wiederum einen interessanten Kontext bietet:

"In Zukunft wird Jakob Wurzeln schlagen, Israel blühen und knospen; und sie werden mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises. - Hat er es geschlagen, wie er seinen Schläger schlug? oder ist es ermordet worden, wie er die Ermordeten jenes ermordete? Mit Maßen, als du es verstießest, hast du mit ihm gerech­tet; er scheuchte es hinweg mit seinem hefti­gen Hauche am Tage des Ostwindes. Deshalb wird dadurch gesühnt werden die Ungerechtig­keit Jakobs" (Jes. 27,6-9).


Der Erlöser aus Zion

Eine kleine Präposition in Röm. 11,26 gibt der zukünftigen Errettung Israels eine zusätzliche messianische Bedeutung: Der Erlöser wird aus Zion, ek Sion, kommen. Denn die Stelle, aus der Paulus hier zitiert (Jes. 59,20), liest in der Septuaginta für Zion, eneken Sion (s.o.). Inspi­riert vom Heiligen Geist, erhält das Zitat so eine letzten Endes national-politische Färbung. Denn ek Sion ist in den Psalmen dort ge­bräuchlich, wo prophetisch in Zeiten größter Drangsal der Erlöser aus Zion das Ende der Bedrückung einleiten wird. Aus Zion wird die Errettung Israels erwartet (Ps. 14,7), aus Zion soll Unterstützung in Drangsal kommen (20,3), aus Zion strahlt Gott hervor, Feuer frißt vor ihm her (50,2+3); schließlich heißt es von dem Messias in Psalm 110,2:

"Den Stab deiner Macht wird Jahwe aus Zion senden; herrsche inmitten deiner Feinde"!

Das sind zukünftige Ereignisse; jetzt herrscht der Messias nicht von Zion aus, sondern der erste Vers des 110. Psalms kennzeichnet un­sere Zeit; der Messias sitzt zur Rechten Got­tes, bis Er Seine Feinde legt zum Schemel Seiner Füße. Diese "Zeitbestimmung" wurde von den Aposteln immer wieder gemacht (6). Dann, wenn Er sich Israels wieder annimmt, wird der Messias in Zion zum König gesalbt werden und von Zion aus herrschen (Psalm 2).

Jetzt sind die Juden Feinde des Evangeliums, eifersüchtig auf die Gnade, die den Nationen gezeigt wird (Röm. 11,28). Aber hinsichtlich der Auswahl (griech. ekloge, s.o.) Geliebte um der Väter willen. Auch z.Zt. der Apostel gab es, wie wir gesehen haben, eine besondere Auswahl, die zur Errettung bestimmt war; noch viel mehr wird das der Fall in der Zukunft sein, wenn sich alle Verheißungen des AT be­züglich Israel erfüllen werden (Röm. 11,29).


Israel — der zukünftige Segensträger

Die übrigen Verse des elften Kapitels betonen nun die Exklusivität der beiden prinzipiellen Handlungsweisen Gottes. Jetzt ist Israel ver­worfen, und das Heil geht unmittelbar an die Nationen. In Zukunft wird Er sich wieder Isra­els annehmen, aber in Verbindung damit gehen die alttestamentlichen Verheißungen wie z.B. Jes. 2 in Erfüllung, in denen das Heil nicht mehr unmittelbar an die Nationen gerichtet wird, sondern mittelbar über den Segensträger Israel. Das heißt nicht, daß die Heidenvölker dann weniger als jetzt gesegnet sein werden -ganz im Gegenteil - nur wird dann Israel wie­der der unmitelbare und erste Segensträger göttlicher Verheißungen sein, wie z.B. Dr. Mauerhofer zu Röm. 11,14+15 sehr klar aus­führt:

"Wenn der Fall Israels für die Heiden Reichtum bedeutet, wird die Rettung von ganz Israel noch viel gewaltigere Auswirkungen für die Heiden­welt haben (Röm. 11,12). Dies führt nämlich in ihr zu Leben aus den Toten. Damit ist ein gewaltiger geistlicher Aufbruch in der Hei­denwelt gemeint. Schon im A T wird von diesem gewaltigen geistlichen Aufbruch unter den Heiden gesprochen. Zephanja sagt in Kap. 3,9: 'Dann aber werde ich den Völkern andere, reine Lippen geben, damit sie alle den Namen des Herrn anrufen und ihm einmütig dienen' (7)."

Paulus geht sogar soweit, als Apostel der Na­tionen (Röm. 11,13), der er jetzt ist, die Ju­den, wenn möglich, soweit zu bringen, daß sie den Messias doch annehmen und sie als Nation errettet werden, da dann ja noch mehr Gläu­bige aus den nichjüdischen Völkern errettet werden würden, wie jetzt in der Zeit der Verwerfung Israels! (Röm. 11,13-15).

Und doch besteht die Ausschließlichkeit in Be­zug auf die Segenszuteilungen Gottes: Jetzt, in der Zeit der Verwerfung Israels, ergeht der Segen unmittelbar an die Völker und nur quasi nebenbei an Israel, auf dem Grundsatz der Be­gnadigung aller; dann, wenn Israel wieder Got­tes Volk sein wird, wird der Segen über den Segensträger Israel an die ganze Welt ergehen.


Das Bild des Ölbaumes

Die plastische Darstellung dieser Dinge liefert Paulus in Röm. 11,16-24. Der Segen (Wurzel und Fettigkeit, V. 17), unter dem alle Gläu­bigen stehen, ob nun Juden oder Heiden, wird durch den Ölbaum stilisiert. Die Verheißungen oder Segnungen, die Abraham gegeben worden waren, stellen die Wurzel und Fettigkeit dar (in dir sollen gesegnet werden alle Völker, 1. Mose 12). Dieser Segen ist jedoch mit einer Ver­antwortung verbunden, denn die Angehörigen der jüdischen Nation, die letzten Endes der Kreuzigung zugestimmt haben, sind verworfen und aus dem Ölbaum ausgerissen worden.

Hier geht es nicht etwa um die Frage, ob gläubige Juden wieder verlorengegangen sind o.ä., sondern um die Verantwortung eines Gesamtzeugnisses Gottes hier auf dieser Erde. Denn offensichtlich hat das "Ausreißen" erst in der Zeit der Gemeinde, nicht schon vorher, als es schon gottlose Juden genug gegeben hat, stattgefunden. Erst als mit dem Erscheinen des Messias und dessen Verwerfung die Untaug­lichkeit des jüdischen Systems, Gott zu gefal­len, restlos erhärtet war, wurden einige der Zweige ausgebrochen; erst als die Bosheit der Juden so groß war, Abraham zum Vater zu "haben" und den Messias zu töten (Joh. 8,31ff), ist das Urteil über sie gefällt worden; nachdem feststand, daß die Juden sich nicht würdig achten des ewigen Lebens - siehe, so wenden wir uns zu den Nationen (Apg. 13,46).

Diejenigen nun, die an Stelle der "natürlichen" Zweige (Juden), gegen ihre eigene Natur (wer pfropft schon wilde Zweige in einen kultivierten Baum?) des Segens teilhaftig geworden sind, brauchen nicht zu denken, sie (im Urtext immer emphatisch du bzw. ich) wären nun der alleinige Erbe aller Verheißungen und Israel hätte keine Zukunft mehr! Genau diesen Denkfehler hat man spätestens seit dem zweiten Jahrhundert gemacht; in der Sprache von Röm. 11 sagt die Kirche dann "ich bin in den Ölbaum eingepflanzt worden; alle Segnun­gen Israels, auch die des tausendjährigen Rei­ches, gelten mir; Israel ist ausgerissen worden, für sie gibt es kein Morgenrot mehr, die Zeit der Herrschaft ist schon jetzt gekommen...

Auch die Reformatoren haben größtenteils an diesem Irrtum weiter festgehalten. Schon eine der ältesten Schriften des Urchristentums, der sogenannte Barnabasbrief (ca. 130 n. Chr.)
vertritt vehement die Lehre, daß die Juden ihre Verheißungen auf immer eingebüßt haben (Kap. 4,6-8). Schon damals also hat man die Ermahnung vergessen: Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich (Röm. 11,20); und früher oder später ist auch die Christenheit, die doch den Segnungen so unmittelbar "ausgesetzt" ist, nicht "in der Güte geblieben" (Röm. 11,22). Wir, als Nichtjuden, wiederholen damit den gleichen Fehler, den die jüdischen Gelehrten hinsichtlich der Heidenvölker gemacht haben; denn nach ihren Schriften zu urteilen werden sie, die Juden, und ihre Gelehrten vorneweg, das einzige gesegnete Volk im Friedensreich sein, gesegnete Nichtjuden dürften dann be­stenfalls geduldetes Schlußlicht sein bzw. als Proselyten im Judentum untergehen.

Noch sind wir als Heiden, als Nationen, die durch das Evangelium Gesegnete sind, nicht ausgerissen - aber es wird die Zeit kommen, wo die Strenge Gottes, die seit den Aposteln gegen Israel gerichtet ist, sich gegen die nichtjüdischen Völker wenden wird, die jetzt unter dem Segen stehen. Weil sie eigentlich schon seit der frühen Christenheit arrogant und selbstbewußt dem Judentum jegliche Verhei­ßungen absprechen wollten, (und diese Über­zeugung u.a. durch Kreuzzüge gegen die Juden unter Beweis stellten ...) und sich schließlich aus der Güte Gottes entfernt haben (Papsttum, alte und moderne und falsche Theologien, Sek­ten, Irrlehren, Scheinchristentum ...), werden sie ausgerissen werden. Umsomehr wird Israel wieder in ihren eigenen Ölbaum eingepflanzt werden (Röm. 11,24), und eine neue Ära nie dagewesener Segnungen für alle Völker unter der Herrschaft des Volkes Israel wird begin­nen.

Wohlgemerkt, Israel wird wieder eingepflanzt, die Nationen sind dann ausgerissen. Wie wir gesehen haben, bedeutet das nicht, daß es dann nur noch gläubige Juden geben wird, sondern daß sie dann der unmittelbare Segen­sträger Gottes sein werden. Das Bild vorn Öl­baum ist kein Bild der Errettung (8), d.h. Eingepflanzt-sein entscheidet nicht über die Seligkeit, sondern ein 'Bild der Segenszutei­Iungen Gottes. Ein-gepflanzte bzw. gepfropfte Zweige sind der Fettigkeit und Wurzel teil­haftig, des Segens, der bereits Abraham ver­heißen wurde. Was die jeweils eingepflanzten Zweige daraus machen, ist eine andere Sache; Gott wird es allerdings beurteilen und zu Seiner Zeit eingreifen, was Er einmal vor 2000 Jahren tat (einige der Zweige ausgebrochen, du wirst unter sie eingepflanzt) und einmal in Zukunft tun wird (...sonst wirst auch du abgeschnitten werden. Und auch jene, wenn sie nicht im Un­glauben blieben, werden eingepfropft werden (Röm. 11,22+23).


Israels Zukunft — eine vergessene Lehre

Erst nach der Reformation ist die Lehre der unbedingten Zukunft Israels wieder ans Licht gebracht worden, die teilweise schon im Ur­christentum aufgegeben worden war; und erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist ihr in größerem Umfang Glaubwürdigkeit entgegen­gebracht worden.

Es scheinen vor allem die paulinischen "Ge­heimnisse" zu sein, die im Verlauf der Kir­chengeschichte so gern in Vergessenheit gerie­ten. Denn die jetzige Blindheit Israels ist ein Geheimnis, ein mysterion. Wie denn, die gan­zen AT-Propheten verheißen doch eine unbe­dingte Wiederherstellung Israels? Aber keiner von ihnen hat die Zeitspanne der "Verstockung" Israels so präzise angeben können wie es durch göttliche Inspiration Paulus vermag:
"Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; und also ..." (Röm. 11,25).

Hosea z.B. redet von "vielen Tagen" (Hos. 3,4), andere sagen wohl, daß Israels Wiederherstel­lung am "Ende der Tage" sein wird, aber was geschieht in der Zwischenzeit? Ein mysterion, das im AT keinem Propheten offenbar war, "verlängert" diese Zeit der Verwerfung Israels zu Gunsten der Heidenvölker: Bis ihre Vollzahl eingegangen ist, wird sich an dem Zustand des Zornes Gottes gegen Israel nichts ändern; bis alle diejenigen, die dem Ruf des Evangeliums noch folgen werden, ihre Chance wahrgenom­men haben, handelt Gott nicht zu Gunsten Israels! Welche wunderbare Gnade, was für un­ergründliche Wege Gott hier beschreitet - da muß Paulus ausrufen:

"0 Tiefe des Reichtums, der Weisheit und auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege!".


Nachtext

Anmerkungen:
1) griech. poroo; vgl. Joh. 12,40 (im Zusammenhang mit der Verwerfung Jesu!); 2. Kor. 3,14.

2) griech. porosis; vgl. Mk. 3,5 und Eph. 4,18.

3) Auf Grund der deutschen Übersetzung "und also" oder "und so" kann der Eindruck entstehen, als sei das zu Grunde liegende griech. kai houtos hier in Bezug auf den vorherigen Vers epexegetisch zu verstehen. kai houtos würde dann beschreiben, wie ganz Israel erret­tet wird, nämlich, indem die Vollzahl der Nationen ein­geht. "Ganz Israel" stünde dann symbolisch für die "Vollzahl der Nationen"; Paulus würde dann meinen: (dem fleischlichen) Israel ist Verstockung zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird, und auf diese Art und Weise wird das (geistliche, wahre) Israel (Synonym für die Gemeinde) errettet werden.

Eine andere Übersetzungsmöglichkeit wäre: "auf diese Weise wird ganz Israel zum Glauben"; d.h., parallel dazu, daß aus allen Nationen Christen das Heil finden, werden auch Juden (der Überrest nach Wahl der Gnade, s.o.) zur christlichen Gemeinde hinzugefügt werden, und so würde dann ganz Israel errettet werden.

Eine Errettung Israels mittels der Vollzahl der Natio­nen würde allerdings durch die Verse 11-15 ad absurdum geführt: nicht die Vollzahl der Nationen, sondern die Vollzahl Israels ist "Leben aus den Toten"! (s.o.). Die ganzen Kapitel 9-11 ordnen die Begriffe "Juden" bzw. "Nationen" immer eindeutig auf gerade diese beiden "biblischen" Volksgruppen zu, und lassen keine Speku­lation für ein "geistliches Israel" oder dergleichen offen. Auch der Gedanke, daß im Laufe des Eingehens der "Vollzahl" aus den Nationen Israels Überrest nach und nach errettet würde, trägt dem Kap. 11 keine Rechnung, denn die zukünftige Errettung Israels wird der jetzigen "Überrest"-Errettung geradezu gegenübergestellt: Obwahl jetzt ein Überrest nach Wahl der Gnade existiert, soll dann ihre Vollzahl eingehen (V. 11-15); obwohl der Erstling jetzt (der Überrest nach Wahl der Gnade) heilig ist, wird es dann die Masse sein (V. 16); ob­wohl jetzt Israel verstockt ist, wird es dann begnadigt werden (V. 25-32).

Darüberhinaus gehen beide Übersetzungsmöglichkeiten an der Bedeutung des kai houtos vorbei, das im NT nicht nur einen modalen (Art und Weise), sondern auch einen zeitlichen Charakter trägt. kai houtos zeigt die logi­sche und zeitliche Konsequenz eines Geschehens aus ei­nem vorhergehenden Sachverhalt an.

So ist z.B. der "Bund der Beschneidung", den Abraham empfing, nicht in der Art und Weise geschlossen, daß er Isaak zeugte und beschnitt, sondern letzteres ist die Konsequenz, die Abraham nach der Geburt Isaaks aus dem gegebenen Bund zog (Apg. 7,7). Paulus kam nicht nach Rom, indem er sieben Tage in Puteoli blieb (Apg. 28,14), sondern seine Ankunft in Rom folgte logisch und zeitlich, da er von Puteoli aus die Reise nach Rom fortsetzte. Alle Stellen des Korintherbriefes bezeichnen ebenfalls das aus dem vorhergehenden Satz lo­gisch bzw. zeitlich zu Folgernde (1. Kor. 7,17+36; 11,28; 14,25), ebenso 1. Thess. 4,17, Hebr. 6,9 und 6,15 weisen auf den vorhergehenden Satz demonstrativ zurück; Jak. 2,12 weist demonstrativ auf den folgenden Nebensatz. In Apg. 27,44 und Gal. 6,2 ist die Nuance der "Art und Weise" stärker als die zeitlich-logische, jedoch handelt es sich dort nicht mehr um den Abschluß zeitlich aufeinander folgender Ereignisse wie in Röm. 11,25+26; wo der Vorgang, auf den sich kai houtos be­zieht, einen deutlichen zeitlichen Aspekt trägt, hat auch kai houtos selbst den Aspekt der zeitlichen und logischen Konsequenz (sehr deutlich in Apg. 7,7; Röm. 5,12; 1. Kor. 14,25; 1. Thess. 4,17). Im vorliegenden Vers in Röm. 11,25 ist es ja gerade das bis, das eine lange Zeitdauer setzt, nach der für ganz Israel die Erlösung kommt.

Eine andere Übersetzungsmöglichkeit gibt Bauer-Aland (Wörterbuch zum NT) wieder, der das houtos (ohne Be­rücksichtigung des kai) mit dem nachfolgenden kathos zusammenzieht, so daß houtos sich auf das nachfolgende Schriftzitat bezieht ("Israel wird so errettet, wie geschrieben steht: . . ."); vgl. Luk. 24,24; Phil. 3,17.

4) Im AT wird "ganz Israel" - hebr. kol Israel - öfter in einem Sinn verwendet, wo nur die repräsentative Funktion eines Teiles für das ganze Volk gemeint sein kann. Sehr oft in 1.+2. Samuel, Könige, Chronika (1. Sam. 13,20; 14,40; 25,1; 2. Sam. 12,12; 17,10-13;). Vgl. auch Esra 2,70; Neh. 7,73; 12,47.

5)Vgl. den sehr guten Artikel in Jenni/Westermann II, Sp. 488ff.

6)Vgl. Apg. 2,34+3,20+21; Hebr. 1,3+13; 8,1; 10,12.

7) Fundamentum 3/1988, S. 62.

8) Das Bild vom Ölbaum hat auch gar nichts mit der Ge­meinde als dem Leib Christi zu tun, denn dieser besteht erst seit Pfingsten, und aus ihm werden auch keine Glieder ausgerissen oder "wider die Natur" eingep­fropft. Wir sind nicht, wie Dr. Mauerhofer meint (Fun­damentum 3/88, S. 61), als "Eingepfropfte Miterben, Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung". Hier werden zwei verschiedene Bilder durcheinander geworfen. Denn die Verheißung in Eph. 2,5 ist nicht diejenige, die schon Abraham gegeben wurde, sondern wird erst jetzt in Christo durch seine Apostel und (neutesta­mentl.) Propheten geoffenbart (Eph. 2,4+5). Eph. 2+3 sprechen von dem einen neuen Menschen, in dem nicht mehr Jude noch Grieche ist, während das Bild in Röm. 11 gerade den Unterschied zwischen Jude und Nichtjude betont! Denn selbst im Zeitalter der Gemeinde, zumin­dest zu Paulus' Zeiten; sind in dem Ölbaum natürliche und wilde Zweige unterschieden. In Eph. 2+3 werden Heide und Jude jetzt, z.Zt. der Gemeinde, gleicherma­ßen mit himmlischen Segnungen gesegnet, in Röm. 11 wird jetzt den Nationen eine Gnade erwiesen, die die Juden eifersüchtig machen soll! Wir sind Miteinverleibte, Miterben usw. mit allen anderen in dem einen Leib, im Gegensatz zum AT, in dem wir keine Hoffnung (Eph. 2,12) hatten.

Quellenangaben