Zeitschrift-Artikel: Die poetischen Bücher der Bibel

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Titel: Die poetischen Bücher der Bibel
Typ: Artikel
Autor: Benedikt Peters
Autor (Anmerkung):

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Titel

Die poetischen Bücher der Bibel

Vortext

Text

»Die Bücher der Bibel, die bis anhin unser Gegenstand waren, sind zum größten Teil einfach und klar, Berichte tatsächlicher Ge­schehnisse, welche auch der zügig Lesende verstehen kann, Berichte, welche für Kindlein Milch darreichen, wie solche eben aufzunehmen und zu verdauen vermögen, wodurch sie sowohl unterhalten als auch er­nährt werden können. Die Wasser des Hei­ligtums haben bisher an die Knöchel oder allenfalls ans Knie gereicht, so daß auch ein Lamm darin waten, sich waschen und dar­aus trinken kann. Hier nun eröffnet sich uns eine fortgeschrittenere und höhere Stufe der göttlichen Schule; es werden uns Bü­cher an die Hand gegeben, darin sich man­ches Dunkle und schwer zu Verstehende findet, deren Sinn wir nicht so schnell und so sicher erfassen, wie wir wünschten, deren Studium eine zuchtvollere Hingabe des Ver­standes verlangt, eine größere Intensität des Nachdenkens und beharrlicheres Forschen, welches indes der darin enthaltene Schatz, wenn er gefunden wird, überreich vergilt. Die Wasser des Heiligtums reichen hier an die Lenden, und während wir weiter voran­schreiten, werden wir finden, daß in den prophetischen Büchern die Wasser noch höher gestiegen sind, zu Wassern, in denen man schwimmen muß (Hes 47,3 — 5), Was­ser, die man in keiner Weise überqueren kann — Tiefen, in denen auch kein Elefant Fußfeste findet, feste Speise für starke Män­ner.« (Matthew Henry)

Die fünf Bücher Hiob, Psalmen, Sprü­che, Prediger und Lied der Lieder fassen wir ihrer dichterischen Sprache wegen als die poetischen zusammen. Dem Inhalt nach werden sie passenderweise auch Weisheitsbücher genannt. Weisheit, wozu denn? Die historischen Bücher haben uns erzählt, wie das ganze Volk beharrlich von Gott wegstrebte und am Ende von dessen Angesicht weg verworfen wurde. Eine gesamthaft gottlose Nation mit einem meist gottlosen König an der Spitze mußte unter das Urteil jenes Gesetzes fallen, auf das die Nation sich selbst einst verpflichtet hatte (2Mo 19; 5Mo 28,36). In solcher Lage, wenn »die Treuen verschwunden sind un­ter den Menschenkindern« (Ps 12,1), fragt der Gerechte:

»Wenn die Grundpfeiler umgerissen werden, was tut dann der Gerechte?« (Ps 11,3).

Was tut der Gerechte, der nicht selbst den Untergang der Nation verschuldet hat, aber als Kind dieser Nation dessen Unter­gang teilt? Auf solche Fragen antworten die Weisheitsbücher. Hatten die Gesetzes­bücher und die historischen Bücher die ge­samte Nation — das Kollektiv, um einen zwar häßlichen aber im vorliegenden Zu­sammenhang passenden Ausdruck zu ge­brauchen — im Blickfeld, so behandeln die poetischen Bücher den Glauben und Wan­del des einzelnen. Wir lernen aus den hi­storischen Büchern die wichtige Wahrheit, daß jeder Mensch Teil eines größeren Gan­zen ist, eben eines Kollektivs, und daß er daher dessen Ergehen teilt. Die poetischen Bücher lehren uns nun, daß der einzelne zwar dem zeitlichen Geschick der Gemein­schaft nicht entrinnen kann, wie wir an treuen Seelen wie einem Daniel sehen kön­nen (Dan 1), daß er aber, was sein ewiges Geschick betrifft, seine göttlich gegebene Bestimmung erfüllen kann. Wir haben oben die Frage von Ps 11,3 gestellt. Hören wir auch die Antwort:

»Der EWIGE ist in seinem heiligen Palast. Der EWIGE- in den Himmeln ist sein Thron; seine Augen schauen, seine Augenlider prüfen die Menschenkinder« (Ps 11,4).

Das ist eine frohe Botschaft. Wie groß die Untreue der Gesamtheit des Gottes­volkes auch sein mag, so bleibt dem einzel­nen doch immer ein Weg offen, den er zur Ehre seines Gottes und zu seinem und da­mit auch der Brüder Wohl gehen kann. Der persönliche Glaube an den Herrn im Him­mel, die Treue gegenüber Seinen Befehlen, die glückselige Abhängigkeit von Ihm, das Ausharren unter Seiner Hand auch unter widrigsten Umständen, der Trost der le­bendigen Hoffnung auf das Kommen des Herrn — das sind die Themen, die in den vorliegenden fünf Büchern behandelt wer­den.

Durch die Gottesfurcht und den inni­gen Umgang mit seinem Gott erkennt der einzelne nun den Weg, der ihn durch eine durch die Sünde verdorbene Welt führt, aber er lernt nicht nur seinen Weg, sondern gewinnt auch Einsicht in Gottes Absichten mit seinen Brüdern, seinem ganzen Volk,
ja, der ganzen Erde. Dahin weitet sich des­halb der Blick des Heiligen immer wieder, der allein in Gottes Gegenwart getreten war und zunächst nur einen Weg für sich aus dem Dunkel gesucht hatte. Nament­lich die Psalmen bieten dafür zahlreiche Beispiele.


Das Thema der fünf poetischen Bücher

Das Buch Hiob antwortet auf die Fra­gen, welche durch das nicht unmittelbar selbst verschuldete Leiden des Gerechten aufgeworfen werden. Die Antwort auf sol­che Fragen gibt ein neutestarnentlicher Au­tor: Jakobus. Er sagt, daß wir am Ende, das der Herr dem Hiob bestimmt hatte, begrei­fen, wozu alles Leiden dienen muß (Jk 5,11). So ist denn die Botschaft des Buches Hiob — vielleicht etwas unerwartet — die Hoffnung des Erlösten.

Die Psalmen sind eine Sammlung von Gebeten, wobei hier das Wort im umfas­sendsten Sinn so zu verstehen ist, daß es auch Danksagung, Lobpreis und Anbe­tung beinhaltet. Lobpreis und Gebet ist die Antwort des Erlösten auf Gottes Wort, das unter allen Umständen wahr bleibt, und auf Gottes Handeln unter allen nur er­denklichen Wechselfällen des Lebens. Wir können daher sagen: Das alle Psalmen um­fassende Thema ist der Glaube des Erlö­sten.

Die Sprüche lehren den Erlösten göttli­che Weisheit, und zwar jene Weisheit, die er braucht, um in einer sündigen Welt an allen Versuchungen und Fallstricken vor­bei den Weg des Gerechten bis ans Ziel si­cher zu gehen. Das Thema ist also: göttli­che Weisheit für den Weg des Erlösten durch diese Welt.

Prediger lehrt den Erlösten ebenfalls göttliche Weisheit, und zwar jene Weis­heit, die er braucht, um die siebzig, wenn's hoch kommt achtzig Jahre seiner eitlen ir­dischen Existenz richtig zu leben. Das The­ma des Predigers ist also göttliche Weisheit für das Leben des Erlösten in dieser Welt.

Das Lied der Lieder hat die Liebe zum Thema, und zwar die Liebe Gottes zu den Seinigen, die Liebe der Erlösten zu ihrem Gott, die Liebe von Erlösten als Mann und Frau zueinander. Wir können also sagen, das Thema des Hohenliedes ist die Liebe im Leben des Erlösten.

So lehren uns denn drei der fünf Bücher die drei Kardinaltugenden des Erlösten: Glauben, Hoffnung und Liebe.


Die Sprache der poetischen Bücher

Metaphern und Gleichnisse
Die Sprache der Weisheitsliteratur ist reich an Metaphern (Metapher ist grie­chisch und bedeutet «Übertragenes«) und Gleichnissen. Solche finden sich überall, wo Wahrheiten der Art von Sprüche und Prediger auch außerhalb dieser Bücher ge­lehrt werden.

Nehmen wir die von Jotam an die Bür­ger Sichems gerichtete Fabel von den Bäu­men des Waldes (Ri 9,7 — 20). Die Bäume sind Metaphern für die Bürger einer Stadt, bzw. für deren König. Am Ende wird Abimelech mit einem Dornstrauch vergli­chen; wie dieser wird sich Abimelech zu­nächst als nutzlos, dann als lästig und am Ende als destruktiv erweisen: Vom Dorn­strauch wird Feuer ausgehen und alle, die ihm zu nahe kommen, verzehren.

Wir kennen diese Gattung auch in der europäischen Literatur, die freilich auf an­tiken Vorbildern fußt. Was etwa ein Lafontaine schrieb, hat er von Äsop über­nommen. Dessen Fabeln wiederum kön­nen ihre eigentliche Herkunft aus dein Al­ten Orient nicht verleugnen. In der Tat ist vieles, das die deutsche Sprache an Spruchweisheiten besitzt, biblisches — und mithin orientalisches — Erbe.

Es findet sich im Alten Testament außer der genannten nur noch eine Fabel (2Kö 14,9), in den eigentlichen Weisheits­büchern finden wir also keine. Aber wie die Fabeln sind auch sie voll von Vergleichen:

»Wie Schnee im Sommer und wie Regen in der Ernte, so ist Ehre dem Toren nicht gezie­mend« (Spr 26,1).
»Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter« (Hoh 2,2).


Knappste Ausdrucksweise

Die Sprache der Weisheitsbücher ist poetisch. Sie ist weder sachlich erzählend, wie in den Geschichtsbüchern, noch auch sachlich statuierend wie in den Gesetzes­büchern. Was nun im Hebräischen die Poe­sie besonders kennzeichnet ist nicht etwa Ausführlichkeit oder Weitschweifigkeit —wie sie uns aus europäischer Dichtung be­kannt ist — sondern im Gegenteil: Dichteri­sche Sprache ist im Munde der Hebräer denkbar knapp. Es ist, als ob sich darin das Wesen der Weisheit und der Weisen selbst widerspiegle; denn der Weise redet nicht lang und breit (Spr 10,19; Prd 5,2); hinge­gen gilt:

»Der Tor wird laut durch viele Worte« (Prd 5,3).

Weil die Sprache so knapp ist, wie sie nur sein kann, ist sie für nicht-hebräische Ohren oft mehrdeutig. Das erklärt, warum die Bibelübersetzungen in den poetischen Büchern am stärksten voneinander abwei­chen. Ich nenne ein Beispiel:

In Sprüche 12,9 steht in der alten Elber­felder: »Besser wer gering ist und einen Knecht hat, als wer vornehm tut und hat Mangel an Brot.« Ganz in dem Sinn über­setzt auch die englische AV. In der Überset­zung des (österreichischen) Juden Martin Buber lautet die Stelle:

»Besser, wer gering bleibt und sein eigener Arbeiter (ist), als wer sich wichtig macht und es mangelt an Brot.«

Mir scheint, Buber hat den Sinn besser getroffen; aber wie kann so verschieden übersetzt werden? Das Hebräische ist eben in seiner Kürze - für uns! - mehrdeutig:

tob niqah we'abaed lo...= »gut gering und Knecht ihm/sich.« Der zweite Teil kann nun bedeuten: Und ein Knecht ist ihm = er hat einen Knecht. Oder: Und ein Knecht ist er sich = er arbeitet selbst.

Das Beispiel zeigt, daß es gerade beim Lesen in den poetischen Büchern des AT außergewöhnlich hilfreich, zuweilen gar notwendig ist, mehrere Übersetzungen zur Hand zu haben.


Kontraste und Variationen

Die besondere Form der Sprüche fällt je­dem auf, der das Buch liest. Es besteht zum größten Teil eben aus »Sprüchen«. Diese sind meistens zweizeilig, wobei beide Zei­len zur gleichen Wahrheit etwas aussagen. Es kommen verschiedene Arten solcher paralleler Aussagen vor:

- Vergleiche: »Wie Essig den Zähnen und wie der Rauch den Augen so ist der Fau­le denen, die ihn senden« (10,26; siehe auch 16,15; 25,18; 26,7 - 11).

- Variationen: »Wer mit den Augen zwinkt, verursacht Kränkung, und ein närrischer Schwätzer kommt zu Fall« (10,10). Es wird zweimal etwas zum glei­chen Problem (hier über verwerfliche Kommunikation) gesagt, und es wer­den zweimal die entsprechenden Fol­gen des im Grunde gleichen Tuns ge­nannt. Weitere Beispiele dieser Art: 10,18.22; 15,26; 16,18.20; 23,27.

- Kontraste: »Ein weiser Sohn erfreut den Vater, aber ein törichter Sohn ist seiner Mutter Kummer« (10,1; auch 10,2.3.4 etc.) Beide Zeilen heben die gleiche Wahrheit hervor; in der ersten wird sie positiv, in der zweiten negativ formu­liert.


Rhythmus und Reim

Eine Besonderheit hebräischer Poesie: Sie kennt keinen Endreim, wie er seit dem Mittelalter für alle europäischen Sprachen typisch ist. Ebensowenig ist sie durch ein Metrum (rhythmischer Wechsel von lan­gen und kurzen Silben) bestimmt wie die griechische und lateinische Dichtung. Die hebräische Dichtung lebt von gedankli­chen Reimen und von inhaltlichem Rhyth­mus. Ich gebe ein Beispiel aus dem Psalm-buch und ein zweites aus dem Buch Hiob:

»Der HERR hat in den Himmeln festgestellt seinen Thron,
Und Sein Reich herrscht über alles« (Ps 103,19).

»Denn gleich meinem Brote kommt mein Seufzen,
und wie Wasser ergießt sich mein Ge­stöhn« (Hi 3,24).

Ich nenne das gedanklichen Reim, weil die Wahrheit der ersten Zeile in der zwei­ten Zeile nachklingt. Der gleiche Gedanke wird mit anderen Worten wiederholt. Nicht Gleichklang von Lauten (Kuchen - suchen), sondern Verwandtschaft der Ge­danken (Thron - Reich) macht hier den »Reim«. Ein weiteres Beispiel:

»0 Glück des Mannes,
der nicht ging im Rat der Frevler,
den Weg der Sünder nicht beschritt,
am Sitz der Dreisten nicht saß,
sondern Lust hat an SEINER Weisung, über seiner Weisung
murmelt tages und nachts!

Der wird sein
wie ein Baum, an Wassergräben verpflanzt,
der zu seiner Zeit gibt seine Frucht
und sein Laub welkt nicht:
was alles er tut, gelingt«
(Ps 1,1 - 3 nach M. Buber).

Wer kann diese Zeilen lesen, ohne vom Rhythmus der Aufzählung erfaßt zu wer­den?


Verschlungene Rede

Der Sinn dieser besonderen Form der Unterweisung - in Sprüchen - ist ein zwei­facher:
Zum einen prägen sich solche Sprüche mit ihren farbigen Vergleichen und ihrer scharfen Prägnanz besonders gut ein und vermögen so das Gewissen zu treffen und das Herz zu regieren:

»Die Worte der Weisen sind wie Treibstacheln, und wie eingeschlagene Nä­gel die gesammelten Sprüche« (Prd 12,11).

Zum andern sorgt diese Form der Un­terweisung dafür, daß nur der Sohn der Weisheit sie wirklich versteht. Wer sich demütigt und dem göttlichen Lehrer — der durch diese Sprüche spricht — sein Ohr neigt, der allein vermag

»einen Spruch zu verstehen und verschlun­gene Rede, die Worte der Weisen und ihre Rätsel« (Spr 1,6).

Der »Spruch« erscheint dem menschli­chen Verstand oft als »verschlungene Rede«, als »dark saying« (AV). Was der christliche Gelehrte und Denker Blaise Pas­cal zur Bibel allgemein sagte, gilt besonders für die Weisheitsbücher mit ihrer besonde­ren Sprache:

»In der Bibel ist genug Klarheit, um die Erwählten zu erleuchten, und genug Dunkelheit, um sie zu demütigen. Den Erwählten wirken alle Dinge zusammen zum Guten, auch die Dunkelheiten der Schrift, welche sie um ihrer göttlichen Klarheit und Schön­heit willen ehren und fürchten. Keine Ge­lehrsamkeit ist hinreichend, damit der Stol­ze die Wahrheit Gottes verstehe, es sei denn, er habe sich zuerst gedemütigt.«

Lord Bacon fügt dem hinzu:

»Wenn Schwierigkeiten bleiben, dann [eh­ren uns diese, wenn nichts anderes, so doch unsere eigene Blindheit.«

Wir sind beim Lesen der Bücher Salomos darauf angewiesen, daß Gott uns lehre. In uns ist weder Wissen noch Weis­heit; wir wollen uns demütigen und be­kennen, daß wir vor Gott Unwissende und Toren sind, daß wir im hellen Mittag göttli­cher Offenbarung tappen wie die Blinden. Und verspüren wir unseren Mangel, dür­fen wir vertrauensvoll bitten, daß Gott uns diesen ausfülle (vgl. Jk 1,5):

»Vertraue auf den HERRN mit deinem gan­zen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand ... Sei nicht weise in deinen Au­gen« (3,5.7).

»Denn der HERR gibt Weisheit« (2,6).

Nachtext

Quellenangaben