Zeitschrift-Artikel: Das gr

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Titel: Das gr
Typ: Artikel
Autor: Christoph Grunwald
Autor (Anmerkung):

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Titel

Das gr

Vortext

Text

In den ersten beiden Teilen dieser Artikelserie stand das erste der beiden Gebote – die Jesus in Mk 12,28-34 als die größten Gebote bezeichnet – im Vordergrund. In dem Folgenden soll es um das zweite Gebot gehen.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die beiden Gebote in mehrerer Hinsicht gleich sind. Beide haben einen sehr ähnlichen Aufbau und fordern uns mit ganz ähnlichen Worten auf zu lieben. Der wesentliche Unterschied besteht nun in dem Objekt und der „Form“ der Liebe.
Einmal werden wir zu einer bestimmten Qualität der vertikalen, nach oben gerichteten, auf Gott fokussierten Liebe aufgefordert und einmal zu einer bestimmten Form der horizontalen, auf die
Menschen ausgerichteten Liebe.

Ein anderes „Objekt“ – eine andere Manifestation der Liebe
Zu dem ähnlichen Aufbau der Gebote gehört jeweils eine Beschreibung der Liebe, mit der wir lieben sollen. Wir sollen Go t t lieben „aus unserem ganzen Herzen, aus unserer ganzen Seele aus unserem ganzen Verstand und aus unserer ganzen Kraft“. Den Nä c h s t e n sollen wir lieben „wie uns selbst“. Warum dieser Unterschied?
Sollen wir den Nächsten nicht auch lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Verstand und vor allem aus ganzer Kraft? Warum differenziert Jesus in diesem Zusammenhang?
Diese Frage ist nicht nur theoretischer Natur – unser Ehepartner ist schließlich auch unser Nächster – und zwar ganz offensichtlich unser direkter Nächster. „Nächster“ umfasst natürlich alle Menschen, mit denen wir zu tun haben aber doch wohl an aller erster Stelle diejenigen, mit denen wir unmittelbar unser Leben teilen.
Wenn Paulus darüber schreibt, dass wir Männer unsere Frauen lieben sollen, dann benutzt er ganz ähnliche Worte wie der Herr: „Ebenso sind die Männer verpflichtet, ihre eigenen Frauen zu
lieben wie ihre eigenen Leiber; wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst.“ (Eph 5,28) Trotzdem
würde doch wohl kaum einer von uns auf die Idee kommen zu unserem Ehepartner zu sagen:
„Ich liebe dich wie mich selbst!“. Wenn überhaupt scheint doch die Formulierung „Ich liebe dich von Herzen“ angemessener – was aber dem ersten Gebot deutlich näher kommt als dem zweiten. Warum drückt sich aber die Liebe zu Gott anders aus, als die Liebe zum Nächsten?
Auf diese Frage sollen zwei Antworten gegeben werden.

 1. Eine größere Liebe – weil nur Gott die maximale Liebe gebührt
Im ersten Teil der Serie wurde gezeigt, dass das erste Gebot die Einzigartigkeit Gottes deutlich
hervorhebt. Es fordert uns auf, Gott mit einer einzigartigen, ganzheitlichen und verzehrenden
Liebe zu lieben, um damit zu zeigen, dass Gott einzigartig ist, dass er und nur er uneingeschränkt liebenswürdig ist. Mit einer radikalen und einzigartigen Liebe proklamieren wir seine herausragende Stellung, seine Größe, seine Herrlichkeit und seine Schönheit.
Damit wird aber dann auch klar, warum wir unseren Nächsten auf eine „andere Weise“ lieben sollen wie Gott – weil wir damit Gott seine Einzigartigkeit aberkennen und unseren Nächsten auch zu unserem Gott erheben würden. Wenn wir irgendetwas anderem – sei es nun eine Person, ein Gegenstand oder sonst etwas die gleiche radikale Liebe schenken wie Gott, sagen wir damit, dass Gott für uns nicht einer ist – sondern dass wir neben ihm noch etwas anderes genau so wunderbar, großartig und fantastisch finden. Wenn wir eine Person – und sei es unser Ehepartner – mehr lieben wie Gott – dann ist das schlicht und ergreifend Götzendienst.
Wir werden diese Person oder Sache anbeten, sie preisen, uns nach ihr sehnen – und so Gott an die zweite Stelle rücken. Jesus spricht das in einem anderen Kontext an, wenn er in Mt 10,37 zu seinen Jüngern sagt:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter
mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“
Die Liebe zur Familie, zu Menschen, darf niemals größer sein als die Liebe zu Gott. Gott muss den ersten Platz in unseren Herzen, in unserer Seele und unserem Verstand haben, nicht der Nächste (s. auch Lk 14,26).

2. Eine andere Manifestation der Liebe – weil der Nächste so unliebenswürdig ist …
Die zweite Antwort, warum Jesus in diesem Zusammenhang differenziert, ist der einfache Umstand, dass der Nächste so ganz anders ist als Gott. Die Liebe zu Menschen muss ganz anderen Ansprüchen gerecht werden. Wenn man das ‚Hohelied der Liebe‘ in 1Kor 13 überfliegt, dann ist klar, dass Paulus hier nicht an eine Liebe des Menschen zu Gott denkt, sondern eine horizontale Liebe beschreibt. Liest man z.B.: „Die Liebe ist langmütig und gütig […] sie lässt sich
nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu“ (1Kor 13,4.5) dann setzt das doch voraus, dass es
irgendjemanden gibt, der uns etwas Böses getan hat. Der etwas getan hat, was uns aus der Haut
fahren lässt, irgendetwas, was uns Grund bieten würde, bitter zu sein. Aber weil wir diese Person
lieben, verhalten wir uns eben anders. Wir sind langmütig und verzeihen, wir sind gütig statt aufbrausend, wir vergeben statt zu verbittern, wir halten der Person das Böse, dass sie uns getan hat, nicht nach. Gott aber tut nichts, was unsere Langmut erfordern würde! Wir müssen Gott gegenüber nicht gütig sein und es gibt niemals etwas Böses, über das wir hinwegblicken müssten.
Die Liebe in 1Kor 13 zeigt sich auf eine Weise, welche die Unzulänglichkeiten einer anderen Person nicht beachtet. Aber Gott ist nicht unzulänglich. Er ist perfekt. Er tut nichts, was ein Ausleben der Liebe im Sinne von 1Kor 13 nötig macht. Die in 1Kor 13 beschriebenen Früchte der Liebe sind nötig zwischen Menschen, die nie perfekt sind, wo man den anderen verletzt, ihm Unrecht tut, an ihm sündigt, wo Neid herrscht, Großtuerei, Ungerechtigkeit, Misstrauen usw. 1Kor 13 beschreibt die Auswirkung der göttlichen Liebe zwischen Menschen – sie beschreibt die rein und ausschließlich horizontale Ebene dieser Liebe, nicht die vertikale. Das ist der große Unterschied. Unsere Liebe zu Gott muss keine Hindernisse überwinden, weil Gott so ganz anders ist als Menschen. Deshalb können wir ihn lieben „aus unserem ganzen Herzen, aus unserer ganzen Seele, aus unserem ganzen Verstand und aus unserer ganzen Kraft.“ Unseren Nächsten aber „wie uns selbst“.

Selbstliebe – eine Liebe, die man lernen muss?
Dennoch klingt diese Formulierung – „wie uns selbst“ – doch irgendwie seltsam, oder? „Selbstliebe“ gilt doch nicht gerade als christliche Tugend! Inwiefern sollen wir unsere Selbstliebe auf den Nächsten projizieren? Was ist damit gemeint?
Das Bezeichnende an der Selbstliebe ist unter anderem die Geduld, die sie hervorbringt – die Geduld mit uns selbst! Selbstliebe erträgt unsere eigenen Schwachheiten unser ganzes Leben lang. Sie blickt großzügig über unsere Charakterschwächen hinweg, sie rechnet das Böse an uns wirklich nicht uns selbst zu, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles – wenn es um uns selbst geht!
Selbstliebe gönnt uns nur das Beste vom Besten. Selbstliebe wird uns dazu antreiben, uns soviel
Gutes zu tun, wie nur irgend möglich. Sie bringt uns dazu, an unsere körperlichen, geistigen und
mentalen Grenzen zu gehen – ja, sogar darüber hinaus. Selbstliebe ist fantastisch grenzenlos –
weil es um uns geht! Wäre es nicht grandios, wenn wir für unseren Nächsten genau die Grenzenlosigkeit dieser Liebe hätten wie für uns selbst? Genau dazu fordert Jesus uns auf. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst heißt: „Sei mit deinem Nächsten genauso geduldig wie mit dir selbst, nimm seine Schwächen genauso wenig wahr wie deine, gönne ihm das Beste, tue alles, damit es ihm gut geht. Sei grenzenlos in deiner Liebe zu ihm.
Liebe ihn so, als wenn er du selbst wärest!“ Bezeichnend an der Selbstliebe ist auch:
Jeder ist davon durchdrungen! Jesus stellt hier ein für jeden gültiges Gebot auf: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Damit macht Jesus aber indirekt klar, dass jeder Mensch sich selbst liebt! Wenn auch heutzutage viele zu erkennen meinen, dass Jesus hier eigentlich ein drittes Gebot formuliert – nämlich, dass man zuerst lernen soll, sich selbst zu lieben, um den anderen lieben zu können, ist das de facto falsch. Man geht dann davon aus, dass es Menschengibt, die sich selbst nicht lieben. Jesus setzt aber eindeutig voraus, dass jeder Mensch
 ich selbst liebt. Ansonsten ist diese Aufforderung sinnfrei.a) Zu sagen: „Es wäre schön, wenn du genauso begeistert ein Buch lesen würdest, wie du Fernsehen schaust!“ ist keine Aufforderung Fernsehen zu gucken – sondern in diesem Fall eine bedauernde Feststellung, dass jemand eine Tätigkeit nicht mit der gleichen Begeisterung ausführt, wie er sie bei einer anderen zeigt.
Jesus fordert uns nicht auf, uns selbst zu lieben – nirgendwo in der Bibel werden wir dazu
aufgefordert! Wir lieben uns nicht zu wenig, wir lieben uns permanent zu viel!b) Jesus will,
dass das, was auf eine ungute Weise vorhanden ist, richtig kanalisiert wird – wir sollen von uns wegblicken auf den Nächsten. Jesus fordert uns hiermit zur Selbstverleugnung auf! Die Theorie:
„Du musst dich selbst lieben lernen!“ klingt sehr schmeichelhaft, ist aber nicht biblisch! Der amerikanische Neuropsychologe und Seelsorger Edward T. Welch schreibt dazu:
„Vor 1800 hätte so etwas nicht geschrieben werden können. Und wenn doch, so hätte man es als Irrlehre gebrandmarkt. Heute reden so die Leute auf der Straße. Es ist das Grundprinzip unserer Kultur: Wir sind gute Menschen und müssen uns selbst lieben, damit wir gesund bleiben. ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (Mt 19,19) wird dazu (für alle, die es brauchen) als biblische Begründung herangezogen.
Mit der zeitgenössischen Brille betrachtet, bedeutet dieser Vers, dass wir uns selbst lieben müssen, damit wir die anderen lieben können. In Wirklichkeit ist eine solche Deutung aber völlig abwegig. […] Niemandem, auch nicht den Schreibern der Bibel, wäre in den Sinn gekommen, dass wir hier zur Selbstliebe angehalten werden. Es waren eine ganze Reihe kultureller Veränderungen nötig, um den Abschnitt umzudeuten und den Blick nach innen zu richten. […] Allzu viele Christen erkennen nie, dass die Liebe zum eigenen Ich in einer Kultur gezüchtet wurde, die den Einzelnen
höher bewertet als die Gemeinschaft und dieses Prinzip dann in die Bibel hineinliest.“(1)
Paulus erläutert in Eph 5 in einem ähnlichen Zusammenhang: „Wer seine Frau liebt, der liebt
sich selbst. Denn niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehasst, sondern er nährt und pflegt es.“ (Eph 5,28.29). Die auffällige Nennung von „niemand“ und „jemals“, spricht an dieser Stelle für sich selbst. Paulus stellt fest, dass jeder Mensch sich selbst liebt – ohne Ausnahme.
Man mag einwerfen, dass es aber viele Menschen gibt, die Selbstzweifel haben und von Minderwertigkeitskomplexen geplagt werden, so dass völlig Verzweifelte sogar als letzten Ausweg nur den Selbstmord sehen. Müssen diese Menschen nicht lernen, sich selbst zu lieben, sich anzunehmen? Diese Frage berührt sicher ein hoch sensibles und leidvolles Thema. Trotz der Gefahr, formelhaft zu vereinfachen und diejenigen zu verletzen, die mit solchen Problemen mittelbar oder unmittelbar kämpfen, muss doch festgehalten werden, dass die Bibel keine Ausnahme macht.
„Jedermann, ohne Ausnahme, hat diese menschliche Eigenschaft. Sie ist es, die uns dazu bewegt, dieses oder jenes zu tun. Sogar Selbstmord wird aus diesem Grundsatz der Selbstliebe heraus begangen. Inmitten eines Gefühls der äußersten Bedeutungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Benommenheit der Depression sagt die Seele: ‚Es kann nicht mehr schlimmer werden. Selbst wenn ich nicht weiß, was ich durch den Tod gewinne – ich weiß woraus ich entfliehe.‘ Und so ist Selbstmord der Versuch, dem Unertragbaren zu entfliehen. Es ist ein Akt der Selbstliebe.“(2)
Und Blaise Pascal stellte fest:
„Alle Menschen streben nach Glück. Das gilt ohne Ausnahme. Welche unterschiedlichen Mittel sie dazu auch immer einsetzen, alle streben diesem Ziel zu. […] Das ist das Motiv einer
jeden Handlung eines jeden Menschen, sogar derer, die sich selbst erhängen.“(3)
Wie kann aber diese Problematik biblisch bewertet – und damit Hilfe für die Betroffenen gefunden werden? In einer Gesellschaft, die den Menschen daran bewertet, wie erfolgreich und
wie attraktiv der Einzelne ist, muss es zwangsläufig vermehrt zu Situationen kommen, wo der Einzelne eben aufgrund mangelnden Erfolgs oder fehlender Attraktivität eine – an diesen
Maßstäben gemessene – Unzulänglichkeit feststellt. Dieses scheinbare Versagen versetzt unserem Stolz einen Tiefschlag. Denn letztendlich sind Selbstmitleid und Minderwertigkeitsgefühle nichts anderes als versteckte Formen des Stolzes!
„‚Schwacher Stolz' ist nicht leicht zu erkennen. Es klingt wie ein Oxymoron – wie ‚eckiger Kreis‘. Ist es aber nicht. Bedenken wird die Beziehung zwischen Rühmen und Selbstmitleid:
Beides sind Manifestationen des Stolzes. Rühmen ist die Antwort des Stolzes auf Erfolg.
Selbstmitleid ist die Antwort des Stolzes auf Misserfolg. Ruhm sagt: ‚Ich verdiene Bewunderung, weil ich so viel erreicht habe!‘, Selbstmitleid sagt: ‚Ich verdiene Bewunderung, weil ich soviel geopfert habe.‘ Rühmen ist die Stimme des Stolzes im Herzen des Starken. Selbstmitleid ist die Stimme des Stolzes im Herzen des Schwachen. […]
Der Grund, warum Selbstmitleid nicht nach Stolz aussieht, ist, dass es vielmehr wie Bedürftigkeit
erscheint.
Aber die Bedürftigkeit entspringt einem verletzten Ego und der Wunsch des Selbstmitleids
besteht nicht wirklich darin, dass andere einen als bedürftig ansehen, sondern als Helden. Die Bedürftigkeit, die das Selbstmitleid fühlt, kommt nicht aus einem Gespür der eigenen Unwürdigkeit, sondern aus einem Gefühl von unerkanntem Wert. Es ist die Antwort auf nicht beachteten Stolz.“(4)
Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang hilfreich daran zu erinnern, dass wir unseren „Selbstwert“ weder gewinnen, noch erhalten oder vergrößern können, indem wir uns selbst lieben. Unseren Wert erhalten wir dadurch, dass wir uns von dem, der die Liebe ist, bedingungsund grenzenlos geliebt wissen.
Diesen Wert – den wir in und durch Gottes unbegreifliche und bedingungslose Liebe bekommen haben – kann uns niemand und nichts jemals rauben. Nichts anderes kann uns tieferes Glück, größere Sicherheit und tröstlichere Geborgenheit geben.

Nächstenliebe – konkret
Wie sieht nun diese Liebe im Zusammenleben mit unserem Nächsten aus? Das Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist der im Neuen Testament meistzitierte alttestamentliche
Vers. Neben sechs Vorkommen in den Evangelien findet es sich auch noch weitere drei Mal in den apostolischen Briefen.c) Zuerst aber nun die schon oben zitierte Stelle aus dem Epheserbrief, die das Gebot zwar nicht wörtlich zitiert, die Selbstliebe aber biblisch konkretisiert und somit auf den Nächsten anwendbar macht: „Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst, sondern er nährt und pflegt es, gleichwie der Herr die Gemeinde.“ (Eph 5,27) Paulus sagt an dieser Stelle, dass sich Selbstliebe dadurch auszeichnet, dass wir unser Fleisch nähren und pflegen. Ich verstehe das so, dass wir uns um unseren Körper kümmern. Wir essen und trinken, wir pflegen unseren Leib und achten auf unsere Gesundheit. Wenn wir krank sind, tun wir alles, um wieder gesund zu werden. Nächstenliebe – nach Paulus – besteht also mindestens darin, auch unseren Nächsten mit der gleichen Hingabe zu versorgen. Wir sollen z.B. dafür Sorge tragen, dass er genug zu Essen und ein Dach über den Kopf hat und wenn er krank ist, sollen wir ihn liebevoll pflegen. Interessant, dass es gerade auch diese Komponente ist, die Jesus durch das Gleichnis des barmherzigen Samariters in Lk 10,25-37 genau mit diesem Gebot
verbindet. Nächstenliebe ist also ein ernsthaftes und liebevolles Kümmern um das Wohlergehen
unseres Nächsten.
Jakobus definiert Nächstenliebe so: „Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach dem Schriftwort: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!‘, so handelt ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, so begeht ihr eine Sünde und werdet vom Gesetz als Übertreter verurteilt.“ (Jak 2,8) Er zeigt, was Nächstenliebe ist, indem er sagt, was sie nicht ist: „Ihr tut recht, wenn ihr euren Nächsten liebt, wie euch selbst und haltet dadurch das Gesetz. Aber ihr tut Unrecht, wenn ihr die Person anseht – das ist das Gegenteil von Nächstenliebe!“ Die Person ansehen meint einen Unterschied zwischen Menschen zu machen. Den reichen, vornehmen und angenehmen Nächsten dem armen, verachteten Nächsten vorzuziehen. Die Nächstenliebe sieht die Person nicht an und trifft keine Entscheidungen nach Sympathie. Sie hilft dem Nächsten – egal, wer dieser Nächste ist!
Eine weitere Komponente der Nächstenliebe finden wir in Galater 5: „Denn das ganze Gesetz wird in einem Wort erfüllt, in dem: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“ (Gal 5,14).
Paulus hat diesen Satz mit einem „Denn“ eingeleitet – Vers 14 ist also die Begründung für etwas, dass Paulus vorher gesagt hat. In Vers 13 lesen wir: „Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder; nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe.“ Paulus sagt hier, dass die Liebe zueinander der Motor, die Motivation für den Dienst aneinander sein soll. Die Nächstenliebe bringt uns dazu, den Geschwistern zu dienen.
Das letzte Zitat in Röm 13,9 soll im vierten Teil dieser Artikelserie betrachtet werden.
Zum Abschluss noch ein zentraler Vers des „Apostels der Liebe“, der die radikalste Nächstenliebe ausdrückt:

„Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat; auch wir sind es schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben.“ (1Joh 3,16) 

Nachtext

Quellenangaben

 a) Schon sprachlich macht eine solche Aussage kaum Sinn. „… wie dich selbst“ ist eine adverbiale Bestimmung des Verbs „lieben“. Es geht also einzig darum zu verdeutlichen, wie der Inhalt des Verbs verstanden werden muss. Eine Aufforderung ist dies noch lange nicht. Einen Vergleich heranzuziehen um einen Sachverhalt genauer zu definieren oder zu erläutern, bedingt ja, dass dieser Vergleich als bekannt (bzw. erfüllt) vorausgesetzt werden kann. „Die Bibel sieht es als selbstverständlich an, das menschliche Wesen sich selbst lieben, d.h. sie agieren gewöhnlich zu ihrem Vorteil. Das Gebot seinen Nächsten zu lieben nimmt die Sorge, welche Menschen natürlicherweise auf sich selbst gerichtet zeigen und gebietet ihnen diese ebenso auf die anderen auszuweiten.“ (James R. Edwards; „The Gospel according to Mark“; Eerdmanns Publishing; Michigan 2002; S. 372 eigene Übersetzung)
b) Auffällig, dass die Aufzählung der Eigenschaften, mit denen Paulus die Menschen in den „schlimmen Tagen“ charakterisiert, mit der Selbstliebe beginnt (2Tim 3,2) …
c) Mt 5,43; 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8 (s. Wayne Grudem; C. John Collins; Thomas Schreiner, (Hrsgs); Understanding Scripture; Crossway; Wheaton 2012; S.192)

1)Edward T. Welch; Befreit leben; 3L 1 Waldems; 3.Auflage 2010; S.74.76
2) John Piper; http://www.desiringgod.org/resource-library/ sermons/love-your-neighbor-as yourself-part-2; 29.11.2011, eigene Übersetzung
3) Blaise Pascal, Pensees, 425 (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
4) John Piper; „Future Grace“; Multnomah Books,Colorado Springs; 1995; S. 94.95 (eigene Übersetzung)