Zeitschrift-Artikel: Verfolgt und bewahrt (Der Überlebenskampf der Christen in China)

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Titel: Verfolgt und bewahrt (Der Überlebenskampf der Christen in China)
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
Autor (Anmerkung):

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Titel

Verfolgt und bewahrt (Der Überlebenskampf der Christen in China)

Vortext

Text

Es ist Sonntag, der 20. April 2008. Wir – Siegfried Haase und ich – sind zu Gast bei Christen in Guangzhou (früher Canton), einer der großen Millionenstädte im Süd-Osten Chinas, bekannt für die größten Messen im Land. Doch unser Interesse gilt nicht dem Wirtschaftsboom, sondern den vielen Christen in dieser Stadt, die sich in kleineren illegalen Haus- oder Untergrundkirchen versammeln, oder sich in der wohl größten „Untergrund-Gemeinde“ Chinas treffen, zu der sich 3.500 – 4.000 Glieder zählen, obwohl es keine offizielle Mitgliederliste gibt. Die erste Versammlung in dieser Gemeinde findet Sonntags in der Frühe um 7:40 Uhr statt, wo sich die Frühaufsteher – meist ältere Geschwister, aber auch erstaunlich viele junge Leute – zum Singen, Beten und zum Hören der Predigt einfinden. Mittags um 13:00 Uhr findet die nächste Zusammenkunft statt, wo dann die eintreffen, die nicht so früh aus den Federn kommen – meist junge Leute, oder solche, die eine Nachtschicht hinter sich haben. Abends um 18:00 Uhr findet ein Gottesdienst statt, wo jeden Sonntag das Abendmahl gehalten wird.

Die „Kirche ohne Namen“

Kurz vor 8:00 Uhr biegen wir in die Ronggui Li ein, eine kleine Seitengasse im Stadtzentrum, die von alten, hohen Häusern gesäumt ist. Während sich auf der Gasse die ersten Händler für ihr Tagesgeschäft vorbereiten und der Straßen-Frisör bereits den ersten Kunden unter dem Messer hat, betreten nach und nach viele Leute das alte, mehrstöckige Haus Nr. 15, wo sich die „Kirche ohne Namen“ trifft. In drei Etagen sitzen die Besucher hier eng zusammengepfercht, so dass etwa 800 Geschwister an diesem Morgen versammelt sind. Der Gesang, die Gebete und die Predigt werden per Video von der obersten auf die unteren Etagen übertragen. Der Gesang hat schon begonnen, während wir als ausländische Gäste auf die oberste Etage gewunken werden, wo wir direkt unter dem Pult einen Platz zugewiesen bekommen, von wo aus gepredigt wird. Etwa um 8:30 Uhr bahnt sich der 84jährige Samuel Lamb einen Weg durch die Menschenmenge zum Mikrofon, von wo aus dieser kleine, quicklebendige und immer fröhliche Mann dann geschlagene 90 Minuten über Titus 1, 1-5 predigt – also zwei bis dreimal so lang, wie wir gestressten Christen in Europa es gewohnt sind.

Freundlich, fröhlich und furchtlos

Samuel Lamb, oder „Lin Xian Gao“, wie sein chinesischer Name lautet, ist der Gründer und geistliche Vater dieser Gemeinde. Zwischen den Jahren 1955 und 1978 hat er um seines Glaubens Willen über 20 Jahre in Straflagern verbracht, davon 15 Jahre in den Kohlengruben im Norden Chinas. Ohne Bibel und ohne Außenkontakte musste er diese schwere Zeit überstehen. Doch auch die täglich 12 Stunden harter Arbeit und die „politische Umerziehung“, die er jeden Abend zwei Stunden über sich ergehen lassen musste, haben seinen Glauben nicht gebrochen, sondern geläutert und gestärkt. In diesen langen, harten Jahren hat er viele Leidensgenossen zum Herrn geführt, zahlreiche Glaubenslieder gedichtet und komponiert, aber auch die jeweilige Lagerleitung und das Wachpersonal durch seine Freundlichkeit, seinen Fleiß und seinen unbeugsamen Glauben beeindruckt. Als er am Ende der „Kultur-Revolution“ entlassen wurde, begann er wieder mit einer kleinen Hausversammlung, die nun auf mehrere Tausend Geschwister angewachsen ist und in der jährlich zwischen 250 und 380 junge Christen getauft werden. Natürlich ist diese illegale „Untergrund-Kirche“ nicht unbekannt. Sie wird von der politischen Führung beobachtet, gelegentlich inspiziert, aber inzwischen weitgehend geduldet oder respektiert, weil Samuel Lamb sich in keiner Weise politisch äußert, sich der Regierung gegenüber höflich und loyal verhält, aber in Glaubensüberzeugungen kompromisslos und daher glaubwürdig ist. Drohungen und Konfiszierungen von Kopier- und Übertragungsgeräten, Liederbüchern, Bibeln usw., fanden bis vor ca. 4 Jahren gelegentlich statt. Als Samuel Lamb uns später davon erzählte, meinte er lachend: „Als sie mich vor vier Jahren zum letzten Mal verhörten, machte ich ihnen den Vorschlag: ‚Sperrt mich doch wieder ins Gefängnis. Ich bin gerne bereit zu gehen!‘ Aber das haben sie nicht getan, weil sie genau wussten, dass meine Inhaftierung nur das Gemeindewachstum vergrößern würde. Danach haben sie uns vier Monate nicht mehr belästigt.“ Nach dem offiziellen Ende der Versammlung an diesem Morgen strömen die Besucher nicht gleich ins Freie, sondern viele bedienen sich an den ausgelegten CDs mit Predigten von Samuel Lamb, die zu Tausenden kostenlos angeboten werden. Auch von den weit über 100 verschiedenen Broschüren, die der Prediger zu vielen biblischen Themen geschrieben hat und die in riesigen Mengen in den Kirchenbänken verstaut sind, wird reichlich Gebrauch gemacht. Viele Zuhörer suchen ein Gespräch mit einem der Mitarbeiter, andere treffen sich zum Gebet. Einige junge Mädchen, die zum ersten Mal diese Gemeinde besuchen und keine Christen sind, stellen Fragen über den christlichen Glauben und bekommen ein Neues Testament geschenkt. Etwa um 11:00 Uhr hat Samuel Lamb, der in diesem Haus nur ein ca. 4x4 Meter großes Zimmer als seine Wohnung besitzt, Zeit für eine Unterhaltung mit uns. Wir überreichen ihm einige Exemplare seiner bewegenden Lebensgeschichte, die vor wenigen Tagen in deutscher Sprache im CLV erschienen ist und die er erstaunt und erfreut entgegennimmt.

Das Geheimnis geistlichen Wachstums

Gerne war Samuel Lamb bereit, auf einige Fragen zu antworten:

Wie ist das möglich, dass hier mitten in dieser Stadt Hunderte von Menschen unbehelligt einen Gottesdienst besuchen können, während in der westlichen Welt von Unterdrückung der Christen in China berichtet wird?

Seit einigen Jahren genießen wir eine relative Freiheit. Die massive Verfolgung der 80er und 90er Jahre ist einem mäßigen, erträglichen Druck gewichen. Die Politiker haben offensichtlich erkannt, dass die gewaltsame Unterdrückung der Christen nur das Wachstum der Gemeinde zur Folge hat. Früher wurde ich fast jede Woche vorgeladen und bedroht, jetzt lässt man uns weitgehend in Ruhe, zumal wir keine Staatsfeinde, sondern loyale Bürger sind und uns nicht an Protesten beteiligen.

Warum hat diese große Gemeinde keinen Namen oder eine Bezeichnung, um sie einordnen zu können?

Ich bin in jungen Jahren als Baptist aufgewachsen. Aber nach meiner langen Haftzeit bin ich zur Bibel zurückgekehrt und habe mich keiner Denomination angeschlossen, weil wir im Neuen Testament nur als Christen bezeichnet werden. Daher werden wir als Gemeinde nach unserem Straßennamen genannt oder als die ,Gemeinde ohne Namen‘.

Welche Veranstaltungen finden hier während der Woche statt?

Bis auf Montags haben wir an jedem Wochentag Versammlungen. Dreimal wird die Sonntagspredigt wiederholt, damit alle Geschwister die Möglichkeit haben, das Wort Gottes zu hören. An vier Tagen finden Gebetsversammlungen statt, Freitags ist Jugendstunde. Außerdem wird jede Woche an verschiedenen Tagen zusätzlich das Evangelium verkündigt.

Wie kommt es, dass in China und auch hier in dieser Stadt so viele Menschen – und auch auffallend viele junge Menschen – zum Glauben an Jesus Christus kommen?

Ich denke es liegt daran, dass wir das alte, einfache, biblische Evangelium predigen. Viele Leute kommen auch zu uns, die vorher in den staatlich kontrollierten „Drei-Selbst-Kirchen“ Antworten auf ihre Fragen gesucht haben, aber dort oft keine Antworten und auch keine geistliche Nahrung bekommen. Daher besuchen auch viele Lehrer, Dozenten und Studenten unsere Versammlungen und viele von ihnen kommen zum lebendigen Glauben.

Was waren Deine wertvollsten Erfahrungen in der langen Haftzeit?

Als ich nach fünf Jahren Haft die Möglichkeit bekam, heimlich des Nachts ein Neues Testament abzuschreiben, das ein Mitgefangener irgendwie ins Lager bekommen hatte, wurde ich beim Schreiben von einem Wärter erwischt und darauf für 15 Jahre in ein „Umerziehungslager“ für „Unverbesserliche“ nach Nordchina geschickt. Dort musste ich wie ein Maulwurf unter Tage in der Kohlengrube arbeiten und wurde dort ´Lorenkuppler´. Oft kamen die Loren so schnell hintereinander, dass ich in Windeseile arbeiten musste. Das war sehr anstrengend und nervenaufreibend. Manche meiner Mithäftlinge hatten dabei Finger oder sogar eine ganze Hand verloren. Es gab auch Todesfälle. Aber in den 15 Jahren, in denen ich ca. 2 Millionen Loren kuppeln musste, habe ich nur einen kleinen Kratzer mitbekommen. Gott hat mich wunderbar bewahrt, auch als einmal eine beladene Lore aus der Spur geriet und wie eine Rakete auf mich zugeschossen kam. Während ich damit rechnete, in der nächsten Sekunde in der Gegenwart des Herrn zu sein, blieb die Lore plötzlich vor mir stehen, wie von dem starken Arm eines Engels aufgehalten. Ich war wie an der Stollenwand festgenagelt, aber unverletzt, so dass ich Gott nur loben konnte, bevor ich Menschen um Hilfe rief. In all den Jahren habe ich keinen Tag gehabt, an dem ich an der Liebe und Barmherzigkeit des Herrn gezweifelt hätte. Ich wusste, dass der Herr ständig bei mir war. Seinen Schutz spürte ich ständig an meiner Seite.

Welche aktuellen Gefahren siehst Du für die Untergrundkirche in China?

Viele Leiter der Hauskirchen haben leider keine solide geistliche, biblische Grundlage. Deswegen dringen viele Irrlehren und auch unbiblische Lehren und Praktiken aus der Charismatischen Bewegung in die Gemeinden ein. Aber auch westliche Weltförmigkeit und der Materialismus werden eine akute Gefahr für uns, je mehr Freiheit wir vom Staat bekommen. Deswegen betet dafür, dass der mäßige Druck von Seiten der Regierung bleibt.

Was wünschst Du den Christen im Westen?

Grüßt die Geschwister in Deutschland mit Offb. 2,10: „Sei getreu bis in den Tod, und ich werde dir die Krone des Lebens geben.“

Bookstoore „Jehovah Nissi“

Am Nachmittag hatten wir die Gelegenheit, eine große christliche Buchhandlung in Guangzhou zu besuchen. Bereits vor einem Jahr hatten wir diesen erstaunlich großen und schön gestalteten Laden kennen gelernt. Wir staunten, dass sich das Buchprogramm christlicher Bücher in chinesischer Sprache inzwischen erheblich erweitert hat. Alle hier angebotenen Bücher haben eine vom Staat gegebene und registrierte Nummer, können also legal überall angeboten werden. Biographien über Georg Müller, C.H. Spurgeon, Jonathan Edwards, David Brainard, Erik Liddle, Jim Elliot usw. waren hier ausgestellt und sogar das bekannte und bedeutende Buch von Francis Schaeffer „Wie können wir denn leben?“ wurde angeboten, neben vielen anderen bekannten evangelikalen Bestsellern. Interessant war uns die Feststellung des Ladenbesitzers, dass die Christen sich meistens für Bücher über Nachfolge und Hingabe interessieren, während Nichtchristen nach Büchern zu den Themen Lebenshilfe wie Ehe, Kindererziehung usw. fragen. Die häufigsten Kunden sind übrigens Frauen im Alter zwischen 18 und dreißig Jahren.

Christenverfolgung in China?

Christliche Buchläden trifft man inzwischen in allen Großstädten Chinas an. Diese Tatsache macht ebenfalls deutlich, dass man nicht mehr pauschal von einer „Christenverfolgung“ in China reden kann. Es gibt ländliche Provinzen im Westen und Norden Chinas, in denen Hauskirchen Schwierigkeiten von Seiten der politischen Führung bekommen. Aber wenn es zu Inhaftierungen oder Gemeindeschließungen kommt, dann möglicherweise auch deswegen, weil diese Gruppen den politischen Kurs der Regierung kritisieren, an Demonstrationen teilnehmen oder durch aggressives, provozierendes Verhalten auffällig und deshalb angezeigt werden. Auch die im Westen verbreitete Information, dass vor der Olympiade im August dieses Jahres der Druck auf die Christen verstärkt worden ist, konnten wir nicht feststellen und wurde uns auch nicht von den Hauskirchen-Führern bestätigt, die überregional tätig sind. Sicher wird es hier und da Ausnahmen geben, aber das scheint nicht die offizielle Marsch-Richtung der politischen Führung zu sein. Ein bekannter Führer der Hauskirchen erzählte uns, dass sie im Park ihrer Stadt sogar gelegentlich evangelistische Freiversammlungen halten, bei denen bis zu 200 Menschen aufmerksam zuhören, ohne irgendwie gestört zu werden. China steht vor gewaltigen Herausforderungen. Der Tibet-Konflikt und die furchtbare Erdbeben- Katastrophe in der Provinz Sichuan haben das Land und die Leute erschüttert. Die bevorstehenden olympischen Spiele rücken China zudem ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Auch die Christen sind erwartungsvoll. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten dürfen die „Gideons“ offiziell vor der Olympiade in Peking in allen Hotels der Hauptstadt Bibeln auslegen. Viele Christen planen während der Olympiade im Rahmen der derzeitigen Möglichkeiten evangelistische Aktionen. Beten wir intensiv für sie um Weisheit, Mut und Glaubwürdigkeit. Gott hat die Türen für das Evangelium geöffnet, aber der Widersacher Gottes schläft nicht. China braucht weiterhin unsere Gebete!

Nachtext

Quellenangaben