Zeitschrift: 58 (zur Zeitschrift) Titel: Von wegen Spatzenhirn! Typ: Artikel Autor: Werner Gitt Autor (Anmerkung): online gelesen: 2954 |
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Titel |
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Von wegen Spatzenhirn! |
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Vortext |
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Es ist wahr, von uns gibt es sehr viele. Unser Gesang ist mißtönend laut. Man behauptet, wir fräßen Ihnen das Futter weg. Nicht einmal unser bescheidener Anzug macht uns beliebt. Und doch worden Sie es aller Mühe wert finden, einem kekken Spatzen ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Das verspreche ich Ihnen. |
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Text |
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Zum Fliegen geschaffen Mein Schöpfer hat mich von vornherein als "Flugzeug" konstruiert. Aus diesem Grund ist auch das kleinste Teilchen meines Körpers auf das Fliegen ausgerichtet. Ich kann nicht begreifen, wie dann Menschen die Stirn haben können, zu behaupten, wir stammten von Reptilien ab. Stellen Sie sich vor, Krokodile sollen zu unserer näheren Verwandtschaft gehören! Man will mich glauben machen, der erste Sperling habe schon vor 50 Millionen Jahren gelebt. Das kommt mir so vor, als ob die Märchenhaftigkeit dieser Anschauungen durch die Menge der Jahre vertuscht werden soll. - Aber, lassen wir die Theorie beiseite und wenden uns lieber den Tatsachen zu. Dann mögen Sie selbst urteilen. Ein bemerkenswertes Loch Ein kleines Loch in der Gelenkpfanne des Oberarmknochens erscheint mir sehr bemerkenswert. Das ist nicht etwa ein Defekt, sondern durch dieses Loch führt jeweils die Sehne, die den kleinen Brustmuskel mit der Oberseite des Schultergelenks verbindet. Dadurch kann ich meinen Flügel anheben und überhaupt erst fliegen. Wenn ich natürlich von den Reptilien abstammen soll, frage ich mich, wer da das Loch in die Gelenkpfanne gebohrt und dann gar noch die Sehne eingefädelt hat? Solche Löcher suchen Sie beim Krokodil vergeblich. Herz, bleib stark! Krätsch! Hilfe ein Sperber! Krätsch! Wo kann ich mich nur verstecken...? Hilfe ... Ach, das ist noch einmal gut gegangen! War das gefährlich! Jetzt ist er wieder fort. Wissen Sie, daß der Sperber unser ärgster Feind ist? Mit seinen langen Fängen kann er uns sogar im dichten Gebüsch erwischen, wenn wir nicht aufpassen. Wir haben überhaupt eine Menge Feinde: Krähen, Elstern, Katzen, Menschen. Nicht einmal nachts läßt man uns in Ruhe. Die Eulen greifen uns sogar auf unserem Schlafbaum an. Einmal habe ich erlebt, wie der gräßliche Waldkauz mitten in der Nacht in unsere Bruthöhle einbrach, meine Frau herauszerrte und ohne Erbarmen von Kopf bis Fuß auffraß. Es war entsetzlich! Ein Super-Werkzeug Ja, schauen Sie mich ruhig noch etwas genauer an: Sehen Sie meinen Schnabel? Ein unscheinbares Ding von außen, nicht wahr? Aber er ist ein Wunderwerkzeug meines Schöpfers; superleicht und trotzdem den härtesten Anforderungen gewachsen. Man hat ausgerechnet, daß das Horn meines Schnabels eine Reißlänge von etwa 31 Kilometern hat. Das heißt, wenn Sie aus dem Material einen Draht herstellen und irgendwo befestigen könnten, dann würde er erst bei einer Länge von 31 km durch sein eigenes Gewicht an der Befestigung abreißen. Das Material, das die Menschen im Flugzeugbau verwenden, hat nur eine Reißlänge von etwa 18 Kilometern. Ein Blick durch den Feldstecher Hätten Sie gewußt, daß mein gesamter Schädel leichter ist als meine beiden Augäpfel?! Daraus brauchen Sie jetzt nicht etwa boshafte Schlüsse auf mein Spatzenhirn zu ziehen. Meine Augen sind weitaus besser als die Ihrigen. Wir Vögel haben sieben- bis achtmal mehr Sehzellen pro Flächeneinheit als Sie. Dadurch entsteht in unserem Gehirn ein viel schärferes Bild. Wenn Sie z. B. einen Gegenstand so genau erkennen wollen, wie ihn ein Bussard wahrnimmt, müßten Sie einen Feldstecher (8 x 30) zu Hilfe nehmen. Ich gebe zu, meine Augen sind zwar nicht ganz so scharf, aber den Vergleich mit Ihnen halte ich immer noch aus. Ein Biologe schreibt, daß unser Auge ein Wunderwerk an Bau, Funktion und Leistungsfähigkeit ist. Es gehört zu den vollkommensten optischen Organen in der Wirbeltierwelt Das muß auch so sein, denn uns darf selbst beim schnellsten Flug keine wichtige Einzelheit entgehen. Verdauung muß auch sein Was sagen Sie da? Gott hätte mich als unnützen Fresser geschaffen? Oh, solch eine Beleidigung können wir nicht hinnehmen, mein Schöpfer und ich. Wissen Sie überhaupt, was ich fresse? Ja, das dachte ich mir! Wer am wenigsten Ahnung hat, spuckt meist die lautesten Töne! Entschuldigung - das war wieder frech, aber Sie waren eben auch nicht gerade höflich! Katapult und Taschenmesser Haben Sie noch ein bißchen Geduld? Schauen Sie sich einmal meine Füße an! Es scheint nicht viel daran zu sein, und doch ist eine ziemlich raffinierte Konstruktion darin versteckt. Es stimmt schon: Was Sie da sehen, sind wirklich nur Füße und Zehen. Der Rest - Schienbein, Knie und Oberschenkel - verbirgt sich innerhalb meines Körpers. Und wenn Sie den Eindruck haben, ich stehe aufrecht, befinde ich mich in Wirklichkeit in einer Kniebeuge-Hockstellung. Für Sie ist diese Haltung vielleicht unbequem, für mich jedoch nicht. Wenn ich nun meine Knie plötzlich strecke, schleudern mich die Muskeln wie ein Katapult nach oben, und ich beginne sofort, meine Flügel zu gebrauchen. Während des Fluges ziehe ich mein "Fahrgestell" dann bequem unter die Federn und fahre es erst bei der Landung wieder aus. Auch hier bewährt sich seine höchst elastische Aufhängung bestens. Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal darüber gewundert, wie ich stundenlang auf einem Zweig sitzen und sogar in dieser Stellung schlafen kann. Das hat mein Schöpfer durch einen besonderen Mechanismus ermöglicht, der die Zehen automatisch den Zweig umschließen und festhalten läßt. Ein ganzes Bündel von Sehnen ist von den Zehen aus mit dem Muskel des Oberschenkels verbunden. Setze ich mich auf einen Zweig, dann spannen sich die Sehnen allein durch mein Gewicht und ziehen die Zehen zusammen. Hinzu kommt, daß sich auf einem bestimmten Stück der Sehne etliche kleine Höcker befinden. Wenn ich mich setze, haken sie sich in den Zähnchen fest, die sich, gewiß wiederum nicht zufällig - gerade an dieser Stelle im Schlauch der Sehnenscheide befinden. So bleiben die Sehnen ohne Anstrengung gespannt, und ich falle nicht vom Baum. Warum wir Eier legen Was denken Sie eigentlich, warum wir Vögel unsere Jungen nicht austragen wie die Säugetiere? Sie wissen es nicht? Na, stellen Sie sich vor, wie ein schwangeres Vogelweibchen mit dem dikken Bauch fliegen soll! Und wovon sollte ich mich in der ganzen Zeit ernähren, wenn ich nur kriechen könnte? Die Sache mit den Eiern ist eine Patentlösung unseres Schöpfers. Dadurch werde ich kaum beim Fliegen behindert. Ich lege die Eier schnell hintereinander, durchschnittlich in Abständen von nur 24 Stunden. Auf diese Weise habe ich das Gelege schnell beieinander und kann die Eier dann alle auf einmal ausbrüten. Dadurch können wir Vögel gleich mehreren Jungen auf einmal das Leben schenken. Die Kunst des Brütens Sie stellen sich das gewiß als eine äußerst langweilige Beschäftigung vor. Das kommt, weil Sie keine Ahnung von der Schwierigkeit dieser Arbeit haben. Denken Sie denn, wir setzen uns einfach auf die Eier und warten, bis unsere Jungen ausgeschlüpft sind? Wissen Sie, wie empfindlich unsere in den Eiern heranwachsenden Jungen sind? Da muß die Temperatur genau stimmen, die richtige Feuchtigkeit muß vorhanden sein, und selbst ein ungehinderter Gasaustausch muß möglich sein. Sollte das nicht der Fall sein, sterben unsere Jungen, noch bevor sie geboren sind. Unser Schöpfer hat aber eine geniale Idee gehabt und sie folgendermaßen verwirklicht: Noch bevor ich anfange, die Eier zu legen, fallen mir an der Bauchseite an zwei, drei Stellen die Flaumfedern aus. Dafür wächst dort eine viel dickere Haut als vorher. Die Blutgefäße vermehren sich um das Siebenfache und werden etwa fünfmal so dick wie vorher. Gleichzeitig sammelt sich in den Zellen dieser "Brutflecken" eine Menge Flüssigkeit an. Wozu das Ganze? Sobald ich mit dem Brutfleck das Ei berühre, wird dessen Temperatur ins Zwischenhirn gemeldet. Von dort aus wird dann die Eitemperatur entweder direkt gesteuert, oder mir wird klar, wann und für wie lange ich die Brut unterbrechen muß, damit etwas Luft herankommt, und wann ich die Eier zu wenden habe. |
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Nachtext |
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Quellenangaben |
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Auszug aus der Neuerscheinung: |