Zeitschrift: 136 (zur Zeitschrift) Titel: Fundamentalismus Typ: Artikel Autor: Gerrit Alberts Autor (Anmerkung): online gelesen: 4299 |
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<p><strong><em>„Fundamentalist“ – der „moderne Jude“? <br /></em></strong><br />Die wenigsten Christen möchten als Fundamentalisten bezeichnet werden. Der Begriff ist zu einem viel benutzten Schimpfwort geworden.<br />Zahlreiche Untugenden wie Gewaltbereitschaft, Unduldsamkeit, Anti-Intellektualismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit werden den Fundamentalisten zugeschrieben. Als der Norweger Anders Behring Breivik am 22.07.2011 durch eine Autobombe acht Menschen in den Tod riss und 69 Teilnehmer eines Jugendlagers erschoss, war in vielen Massenmedien zu lesen und zu hören, er sei nach Angaben der Polizei ein „christlicher Fundamentalist“(1), obwohl er sich in seinem „Manifest“ ausdrücklich vom christlichen Fundamentalismus distanziert.(2)<br />Nicht selten werden christliche Fundamentalisten mit gewaltbereiten Islamisten über einen Kamm geschoren. So behauptete der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, in seinem Präsesbericht vom 12.09.2009: „Ob islamistische Bewegungen in Indonesien und im Nahen Osten oder christliche Fundamentalisten in den USA, ob religiös fanatische jüdische Siedler auf<br />palästinensischem Gebiet oder nationalistische Katholiken in Polen bzw. Orthodoxe in Russland:<br />das religiöse Hasspotenzial ist dem Friedenspotenzial der Glaubensgemeinschaften wie das Unkraut dem Weizen beigesellt.“(3)<br />Der Begriff ‚Fundamentalist‘ wird mittlerweile derart verunglimpfend und diskriminierend benutzt, dass der Theologe Kulosa meint:<br />„Es wäre Aufgabe der Soziologie und Kommunikationswissenschaft zu klären, inwiefern dem Terminus Fundamentalist inzwischen durch inhaltliche Überfrachtung und Medienmultiplikation die Schlüsselrolle für ein umfassendes Feindbild, das Negativ-Klischee eines modernen Juden zukommt.“(4) Die Polemik kommt sowohl von säkularer Seite als auch von historischkritischen<br />Theologen und zunehmend auch von evangelikalen Autoren und Rednern. Selten wird etwas Positives, Verteidigendes geäußert und noch seltener bekennen Menschen – zumindest im deutschen Sprachraum – christliche Fundamentalisten zu sein.<br /><br /><strong><em>Polemik von säkularen Autoren</em></strong><br />Die häufige Gleichsetzung von Fundamentalist und Terrorist wird tendenziell in folgender Äußerung des Philosophie-Professors Niewöhner deutlich: „Alle diejenigen, die von ihrem Glauben, welcher er auch immer sei, überzeugt sind und ihn mit Wahrheitsanspruch verteidigen,<br />sind Fundamentalisten und somit potentielle Terroristen. So einfach ist die Lösung.“(5)<br />In einer Radiosendung zum Thema „Weltethik“ wurde der Fundamentalismus mit globalen Katastrophen gleichgesetzt: „Zu den Katastrophen, die die Weltgemeinschaft zum Umdenken<br />zwingen, gehören neben der Bevölkerungsexplosion, dem Raubbau an den Ressourcen, der Zerstörung des natürlichen Lebensraumes und der unumkehrbaren Klimaveränderung auch die<br />integristischen, evangelikalen und anderen fundamentalistischen Bewegungen, die weltweit ein partnerschaftliches, pluralistisches und am Erwerb des Friedens orientiertes Zusammenleben aller Menschen bedrohen.“(6) In die Nähe der Geisteskrankheiten bzw. Persönlichkeitsstörungen rückt eine psychologische Analyse von Funke die fundamentalistische Grundhaltung, indem er sie als „hochkompatibel […] mit schizoid und zwanghaft strukturierten Persönlichkeiten“ einschätzt.(7)<br /><br /><strong><em>Diskriminierende Äußerungen von historisch-kritischen Theologen</em></strong><br />Ein Dorn im Auge scheinen christliche Fundamentalisten für auch historisch-kritische Theologen zu sein. Dementsprechend heftig sind ihre Vorwürfe und Warnungen. In einem Interview mit Alice Schwarzer in der Zeitschrift ‚Emma‘ äußerte sich die ehemalige Vorsitzende der EKD, Margot Käßmann, wie folgt:<br />„A. Sch.: Und der christliche Fundamentalismus?<br />M. K.: Fundamentalismus ist immer ein Problem. Wer den Wahrheitsanspruch so auf die Spitze treibt, dass alle, die dem nicht genügen, als ‚Feinde‘ ausgegrenzt werden, ist gefährlich.<br />Und Religion ist verführbar für so etwas. Wer sagt: Meine Wahrheit gilt es, notfalls mit Gewalt<br />durchzusetzen, wird auch zu radikalen Lösungen neigen. […] Das ist beängstigend. Auch, weil die<br />ersten im Visier der Fundamentalisten immer die Frauen sind.<br />A. Sch.: Sie sehen den christlichen Fundamentalismus also nicht minder kritisch wie den islamischen?<br />M. K.: Selbstverständlich! Aber in Europa sind die christlichen Fundamentalisten in einer absoluten<br />Minderheit.“(8)<br />Für etwas Krankhaftes hält der Oxforder Theologe Barr den christlichen Fundamentalismus,<br />indem er erklärt, er sei „ein pathologischer Zustand des Christentums“.(9)<br />In einem Vortragsmanuskript der Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenkreises Köln und Region wird folgendes behauptet und gefordert: „Aber es gibt wohl keine scharfe Trennlinie zwischen noch religiösem Fundamentalismus und schon kriminellem Terrorismus. Das macht es für uns alle so dringend, Geschichte und Denkweise des christlichen Fundamentalismus so gründlich zu studieren und auch seine feinsten Formen schon in unserem kirchlichen Alltag aufzuspüren und zu bekämpfen.“(10)<br />Nach Meinung des Konfessionskundlers Prof. Dr. Erich Geldbach (Bochum) geht von den „christlichen Fundamentalisten“ eine Gefahr für den Weltfrieden aus. Wie der Leiter des Ökumenischen Instituts der Evangelischen Fakultät an der Ruhr-Universität Bochum in einem Interview mit der Tageszeitung ‚Heilbronner Stimme‘ über den Glauben in den USA sagte, sei der Unterschied zwischen christlichen und islamischen Fundamentalisten „höchstens graduell“.(11)<br /><br /><strong><em>Evangelikale distanzieren sich vom Fundamentalismus</em></strong><br />Nach F. Jung ist eines von fünf Kennzeichen des ‚evangelikalen Glaubens‘ „die Betonung der<br />absoluten Verbindlichkeit der Heiligen Schrift für Lehre und Leben. Die Bibel gilt als das vom Heiligen Geist eingegebene Wort, ohne dass es eine Übereinstimmung der Evangelikalen über die Art der Inspiration gibt“.(12) Stephan Holthaus nennt als einziges sachgemäßes Unterscheidungs-Kriterium zwischen Fundamentalisten und den Evangelikalen die Tatsache, dass Fundamentalisten von der Verbalinspiration der Heiligen Schrift überzeugt sind und deswegen die Bibel für unfehlbar und irrtumslos halten, während es innerhalb der Evangelikalen eine größere<br />Bandbreite im Inspirations-Verständnis gibt:<br />„Allein sachgemäß erscheint die Nuancierung im Schriftverständnis. Evangelikale haben hier eine<br />größere Freiheit in der Frage nach dem ‚Wie‘ der Inspiration. […] Grundsätzlich können wir festhalten, dass Fundamentalisten in den Grundpositionen mit den Evangelikalen übereinstimmen, in ihrer Gewichtung jedoch mehr den Kampf um die reine Lehre und das rechte Bibelverständnis betonen.“(13)<br />Für die Gegenwart mag diese Definition eine gewisse Berechtigung haben, historisch ist sie jedoch unzutreffend: In der ersten Hälfte des 20. Jhdts war die evangelikale und fundamentalistische<br />Bewegung in Nordamerika nahezu identisch. Auch die neo-evangelikale Bewegung, die 1948 begann, unterschied sich zunächst nicht im Inspirations-Verständnis von den Fundamentalisten, sondern in der „ekklesiologischen und sozialen Theorie“, wie der Initiator der Bewegung, H. J. Ockenga, betont.(14) Der wichtigste Unterschied war die abweichende Haltung zur Zusammenarbeit mit „liberalen“ Kirchen. Trotz dieser inhaltlichen Nähe lassen sich viele Beispiele für heftige, teils polemische Kritik und Abgrenzung seitens evangelikaler Autoren finden.<br />Laut idea-online vertrat der Rektor der FTH Gießen, Helge Stadelmann, zusammen mit dem Kirchenpräsidenten der Pfalz, Eberhard Cherdron, in einer Podiumsdiskussion am 17.10.2008<br />die Auffassung, dass der Begriff „Fundamentalismus“ für die evangelikale Bewegung in<br />Deutschland nicht zuträfe. Manche Splittergruppen verhielten sich fundamentalistisch.<br />Allerdings gebe es auch in Deutschland einige evangelikale Splittergruppen, die trotz ihrer Selbstbezeichnung als bibeltreu andere Christen verletzen und verleumden. Deren aggressive, gesprächsunfähige Geisteshaltung entspreche dem modernen Fundamentalismus-Begriff.(15)<br />Der „Bibelwissenschaftler“ Prof. Helmuth Engelkraut führte auf einer Pfingstkonferenz 2011 in Elbingerode aus, der Fundamentalismus sei in den USA Anfang des 20. Jhdts als Reaktion auf die aus Deutschland kommende liberale Theologie entstanden. Er zeichne sich im weiteren<br />Verlauf durch einen „Anti-Intellektualismus aus, der alles Wissenschaftliche ablehnte“. Die<br />evangelikale Bewegung hingegen sei als positive bibeltreue Gegenbewegung zum Fundamentalismus während und nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entstanden.(16)<br />In einem Interview mit dem damaligen Präses des Gnadauer Verbandes, Christoph Morgner, das in idea spektrum unter dem Titel „Pietisten sind keine Fundamentalisten“ veröffentlicht<br />wurde, wird der Interviewte gefragt: „Und was ist nun der Unterschied zwischen einem Pietisten<br />und einem Fundamentalisten?“<br />Morgner: „Der Pietist sagt: ‚Ich glaube an Jesus Christus, von dem in der Bibel Zeugnis abgelegt<br />wird.‘ Der Fundamentalist glaubt sowohl an Jesus Christus als auch an die Bibel.“(17)<br />Nachdem ein Leserbriefschreiber in idea-Spektrum seine Besorgnis äußerte, in der Emerging Church-Bewegung würde sich „eine Umdeutung des Evangeliums vollziehen“, und sich darüber wunderte, dass das „Forum Wiedenest“ sich nicht dagegen stellen würde, nannte der jetzige Leiter der Bibelschule Wiedenest, Horst Afflerbach, den neuen Fundamentalismus als eine Herausforderung, der man mit dem Evangelium begegnen müsse: „Auf der anderen Seite sind neue Herausforderungen erwachsen, denen wir ebenso mit dem Evangelium begegnen müssen: ein neuer Fundamentalismus, der nur von der Abgrenzung und der Negation lebt und nominalistische Tendenzen, die – statt in die von Christus geschenkte Freiheit – in neue Gesetzlichkeiten führen.“(18)<br /><br /><strong><em>Einige schwimmen gegen den Strom</em></strong><br />Im deutschen Sprachraum kommt es nicht häufig vor, dass Christen sich als Fundamentalisten<br />outen. Dennoch gibt es einige bemerkenswerte Beispiele. 1996 bekannte sich Prof. Dr. Georg<br />Huntemann, der an der STH in Basel lehrte, in einem Idea-Beitrag zu einem christlichen Fundamentalismus, der „im Gegensatz zum hinduistischen, moslemischen und jüdischen Fundamentalismus auf Gewalt und politische Macht verzichtet“. Er nehme die Bibel „ganz wörtlich<br />beim Wort“.(19)<br />In einem Leserbrief führte Jakob Tscharntke<br />(Pastor einer freikirchlichen Gemeinde und Mitglied der Bekenntnisbewegung „Kein anderes<br />Evangelium“) aus, ein Fundamentalist wäre ein Mensch, der die Grundlagen, sprich die Fundamente, seines Glaubens ernst nehme, und folgert:<br />„Lasst uns fröhliche Fundamentalisten sein und das Heil in Jesus Christus ohne Abstriche bezeugen!“(20)<br />1998 wurde ein „Arbeitskreis bibeltreuer Publizisten“ gegründet, ein Zusammenschluss von „Journalisten und Verlegern, die sich als christliche Fundamentalisten verstehen. Zu den Mitgliedern gehören die Verleger Wolfgang Bühne (CLV), Bernd-Udo Flick und Hartmut Jaeger<br />(Christliche Verlagsgesellschaft), der Chefredakteur der Zeitschrift ‚Factum‘, Rolf Höneisen, und der Schriftleiter der Zeitschrift ‚Gemeindegründung‘, Wilfried Plock.“(21)<br />Eine fundamentalismus-freundliche Äußerung stammt von Peter Gauweiler, Mitglied des Bundestages. In einem Vortrag beim Handwerkerverein München behauptete er: „Was nicht<br />Fundamentalist ist, ist Treibsand.“(22)<br />In bedenkenswerter Weise zeichnete der historisch-kritische Theologe, Prof. Dr. Kirsopp Lake, den Fundamentalisten aus: „Nein, der Fundamentalist mag sich irren, und ich glaube, dass er sich irrt, aber wir sind es, die von der Tradition abgewichen sind, nicht er. Und ich bedaure das<br />Los eines jeden, der versucht, mit einem Fundamentalisten zu argumentieren. <em>Die Bibel</em> und das<br />corpus theologicum der Kirche <em>sind auf der Seite der Fundamentalisten.</em>“(23) (Hervorhebung vom<br />Verfasser).<br /><br />Der Artikel wird fortgesetzt mit den Themen:<br />• Entstehung und Entwicklung der fundamentalistischen Bewegung<br />• Der Einfluss John Nelson Darbys<br />• Der Kern der Debatte</p> |
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Quellenangaben |
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<p>FUSSNOTEN/QUELLENANGABEN<br />1) http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/16/0,3672,8300944,00.html (15.08.2011)<br />2) „Ich war ein hingegebener, praktizierender Christ. Heute kann ich mich aber in keinem gegenwärtig bestehenden Zweig der Christenheit wiederfinden. Viele meiner Freunde sagen mir: ‚Ich kann keine Kirche betreten, ohne meinen Verstand an der Tür abzugeben‘. In dieser Hinsicht sind evangelistische, fundamentalistische Kirchen nicht besser als liberale.“(zitiert in http://www.thomasschirrmacher.info/archives/1944 (15.08.2011))<br />3) http://www.fundamentalismusdebatte.de/debatte/ (15.08.2011)<br />4) Kulosa, Christfried: Die Fundamentalismusdebatte und die Evangelikalen. Idea Dokumentation 25/93, S. 19<br />5) Prof. Dr. Friedrich Niewöhner (4.10.2004, Philosophiehistoriker, Lust und Leid der Sekundärquelle, Armstrong, Karen: Im<br />Kampf für Gott, Feuilleton Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2004, Nr. 231/Seite 37), zitiert in http://www.fundamentalismusdebatte. de/debatte/ (18.07.11)<br />6) Sendeprotokoll „Auf der Suche nach einer neuen Moral – Braucht die Welt eine neue Ethik?“, Deutschlandsender – Kultur, Reihe „Weltbilder, gesendet am 17.02.1993, 22.15-23.00, S. 16, zitiert in Kulosa, S. 4<br />7) Funke, Dieter: Das halbierte Selbst. Psychische Aspekte des Fundamentalismus, in Kochanek, H. (Hrsg): Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen, Freiburg 1991, zitiert in Kolusa, S. 13<br />8) http://www.emma.de/hefte/ausgaben-2005/maijuni-2005/top-themen/margot-kaessmann/ (15.08.2011)<br />9) Barr, James: Fundamentalismus, München, 1981, zitiert in Kolusa, S. 9<br />10) http://www.theologie-koeln.de/PDFs/Fundamentalismus.pdf (15.08.2011)<br />11) http://www.aref.de/news/allgemein/2003/fundamentalismus-in-usa.htm (31.10.11)<br />12) Jung, Friedhelm: Die deutsche Evangelikale Bewegung – Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, 3. Auflage, Bonn, 2001, S. 25<br />13) Holthaus, Stephan: Fundamentalismus in Deutschland – Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn, 1993, S. 56<br />14) Ockenga, H.J.: Foreword, in: Lindsell, H.: The Battle for the Bibel, Grand Rapids, 198114, S.11<br />15) http://www.idea.de/nachrichten/nachrichten-des-tages-detailartikel/artikel/deutsche evangelikale-sind-keinefundamentalisten- 1.html (15.08.2011)<br />16) Idea Spektrum Nr. 24, 16. Juni 2011, S. 28<br />17) Idea Spektrum Nr 35, 2009 (http://www.idea.de/e-paper.html)<br />18) Idea Spektrum Nr. 51, 2008<br />19) Idea Spektrum Nr. 24, 2009 (http://www.idea.de/e-paper.html 17.08.2011)<br />20) Idea Spektrum Nr. 36, 2008 (http://www.idea.de/e-paper.html 17.08.2011<br />21) http://www.livenet.ch/news/kirche_und_co/109780 bibeltreue_publizisten_die_bibel_ist_das_wahre_irrtumslose_ wort_gottes.htmlhttp://de.answers.yahoo.com/question/index?qid=20070603033030AA16RXP<br />23) Lake, K.: The Religion of Yesterday and Tomorrow, Boston: Houghton 1926, S. 61, zitiert in Lindsell,H., op.cit., S. 27</p> |