Zeitschrift-Artikel: Legen wir die Bibel richtig aus? - Ryries Standardwerk zur heilsgeschichtlichen Bibelauslegung

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Titel: Legen wir die Bibel richtig aus? - Ryries Standardwerk zur heilsgeschichtlichen Bibelauslegung
Typ: Buchbesprechung
Autor: Gerrit Alberts
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 1919

Titel

Legen wir die Bibel richtig aus? - Ryries Standardwerk zur heilsgeschichtlichen Bibelauslegung

Vortext

Text


Das Buch erschien erstmalig 1965 unter dem Titel „Dispensationalism Today“. 1995 und 2007 wurden jeweils erweiterte und überarbeitete Auflagen publiziert. Das Buch gilt als Standardwerk der heilsgeschichtlichen Bibelauslegung und verhalf diesem Deutungsmuster der Heiligen Schrift „zu einer wesentlichen theoretischen Fundierung“1.

Ryrie (1925–2016) war von 1953 bis zu seiner Emeritierung 1983 mit kurzen Unterbrechungen Professor für Systematische Theologie am Dallas Theological Seminary. Darüber hinaus nahm er zahlreiche Gastdozenturen wahr. Nach seiner Emeritierung war er unter anderem Gastdozent in der Bibelschule Brake, und zwar von 1998 bis 2004. Im deutschen Sprachraum ist er vor allem durch eine allgemein-verständliche systematische Theologie bekannt geworden (dt.: Die Bibel verstehen, Dillenburg, 1996¹, 2015²) und durch die Ryrie-Studienbibel, die weltweit eine Auflage von über 2 Mio erreichte (dt.: Witten, Dillenburg, 2012). Um dem Leser eine bessere Einschätzung der Bedeutung dieses Buches zu ermöglichen, werden hier einige allgemeine Ausführungen zum Dispensationalismus eingefügt.

 

Was bedeutet „Dispensationalismus“?

Warum brachten Menschen nach dem mosaischen Gesetz auf Anordnung Gottes Tieropfer, während im Neuen Testament der Schreiber des Hebräerbriefes feststellt: „Wir haben einen Altar, von dem kein Recht haben zu essen, die der Hütte dienen“ (Hebr 13,10)? Mit dem erwähnten Dienst ist zweifellos der alttestamentliche Tempeldienst gemeint. Warum schreibt Paulus, dass niemand die Christen in Kolossä wegen der Einhaltung des Sabbats richten soll (Kol 2,16), während in 4. Mose 15,32 ein Mann, der am Sabbat Holz auflas, getötet werden sollte?

Diese und viele andere Fragen führen zu der Überlegung, dass Gott zu unterschiedlichen Zeiten nach verschiedenen Grundsätzen und Anordnungen mit Menschen umgegangen ist. Gott verwaltet oder regiert die menschliche Geschichte in aufeinanderfolgenden Stufen, in denen er sich zunehmend offenbart und der Mensch geprüft wird und versagt, worauf Gott sowohl in Gnade als auch durch Gericht handelt. Dispensationalistische Bibelausleger versuchen, diese verschiedenen Phasen oder Epochen der Geschichte des Handelns Gottes mit den Menschen zu beschreiben und ihre Bedeutung für das Verständnis der Heiligen Schrift herauszuarbeiten. In Eph1,10 schreibt Paulus von einer Epoche, die er als die Fülle der Zeiten bezeichnet und erläutert, dass Gott für die Verwaltung (gr.: oikonomia, engl.: dispensation) dieser Zeit vorgesehen hat, alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus. Nach heilsgeschichtlichem (dispensationalistischem) Verständnis ist damit die Zeit des 1000-jährigen Reiches gemeint. Somit reden dispensationalistische Bibelausleger in dem Zusammenhang von der „Dispensation“ oder Haushaltung des 1000-jährigen Reiches.

In Epheser 3 erläutert der Apostel ein Geheimnis, das bis dahin verborgen war, nämlich dass „die aus den Nationen Miterben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium“ (3,6). Mit anderen Worten: Er zeigt, dass es zwischen den Gläubigen aus den Juden und denen aus den Nationen eine völlige Stellungsgleichheit gibt, ein spezifisches Merkmal der christlichen Gemeinde. In diesem Zusammenhang benutzt er erneut das Wort Verwaltung (gr.: oikonomia), indem er ausführt, dass ihm die Gnade gegeben wurde, „alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei“ (3,9). In Anlehnung daran sprechen Dispensationalisten von der Dispensation der christlichen Gemeinde.

Darüber hinaus teilen Dispensationalisten das Handeln Gottes mit den Menschen in verschiedene weitere Epochen oder Haushaltungen oder Dispensionen ein. Die Anzahl dieser Phasen unterscheiden sich bei unterschiedlichen Autoren, bestimmte Prinzipien sind aber allen gemeinsam.

 

Wie entstand die dispensationalistische Bibelauslegung?

In der amerikanischen Literatur wird John Nelson Darby des Öfteren als „father of dispensationalism“ bezeichnet2.

Zweifellos kommt Darby eine große Rolle zu, diese Art der Bibelauslegung systematisiert und gefördert zu haben. Er war allerdings nicht der erste und einzige, der die Heilsgeschichte in verschiedene Zeitalter und Phasen eingeteilt hat. In einer weniger stringenten Form findet man sie bereits bei den Kirchenvätern Justin dem Märtyrer (110– 165), Irenäus (130–200), Tertullian (160–220) und anderen. Irenäus z.B. unterscheidet die Phasen von Adam bis Noah, von Noah bis Mose, von Mose bis Christus, von Christus bis zur Ewigkeit und das 1000-jährige Reich (Millenium).3

Ryrie zeigt, dass eine wachsende Anzahl von Autoren in den 150 Jahren vor Darby unterschiedliche Phasen der Heilsgeschichte benannten, unter ihnen Isaac Watts (1674–1748). In seinem 40-seitigen Aufsatz „The Harmony of all the Religions which God ever Prescribed to Men and all his Dispensations towards them“ (Die Harmonie aller Religionen, die Gott den Menschen vorschrieb, und alle seine Haushaltungen in Bezug auf sie) beschreibt er folgendes Schema der Heilszeiten:

1. Die Haushaltung der Unschuld;
2. Adam nach dem Sündenfall;
3. Die noachitische Haushaltung;
4. Die abrahamitische Haushaltung;
5. Die mosaische Haushaltung;
6. Die christliche Haushaltung.4

Darby studierte an dem Trinity College in Dublin. Theologisch wurde er hauptsächlich beeinflusst von Prof. Richard Graves. Graves glaubte an ein buchstäbliches zukünftiges 1000-jähriges Reich und dass unerfüllte Prophezeiungen wörtlich interpretiert werden müssen. Er war überzeugt von einer nationalen zukünftigen Buße und Wiederherstellung Israels im verheißenen Land und unterschied zwischen der jüdischen und der christlichen

Haushaltung.5
Die Ausführungen Darbys bezüglich der dispensationalistischen Bibelauslegungen findet man überall in seinem umfangreichen Werk verteilt. Einen guten Einblick in seine Denkweise vermitteln folgende Aufsätze: The Apostasy of the Successive Dispensations6 (Der Abfall der aufeinanderfolgenden Haushaltungen); The Hopes of the Church7 (Die Hoffnungen der Kirche) und The Principles Displayed in the Ways of God, Compared with His Ultimate Dealings8 (Die in Gottes Wegen gezeigten Prinzipien verglichen mit seinen schlussendlichen Absichten). Elmore, der in Darby den bedeutendsten und einflussreichsten Autor für das Studium der Prophetie der letzten 150 Jahre sieht, beschreibt den Beitrag Darbys wie folgt:
„Obwohl er kein systematischer Theologe war, war er ein Darsteller der dispensationalen Wahrheiten. Er fügte die erklärenden Wahrheiten zusammen, um die gesamte geschichtliche Linie der Bibel, Gottes Handeln in der menschlichen Geschichte, zu zeigen.“9
Die dispensationalistische Bibelauslegung fand weite Verbreitung über die Brüderbewegung hinaus, vor allem in Nordamerika, wo sie Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter den bibeltreuen Christen zur bevorzugten Art der Bibelauslegung wurde.
Darby war insgesamt sieben Mal in Nordamerika und überzeugte Männer wie James H. Brookes und Adoniram J. Gordon von seinen Prinzipien der Schriftauslegung. Brookes, der selber durch Zeitschriften, Bücher und als

CHREZENSIO
Leiter der Niagara-Bibel-Konferenzen viel zur Verbreitung der dispensationalen Sicht der Prophetie beitrug, war der geistliche Mentor von Cyrus I. Scofield.
Die Scofield-Studienbibel ist bis heute die populärste Studienbibel in der protestantischen Welt und machte vor allem in Amerika Millionen von Menschen mit dem Dispensationalismus bekannt. Scofield hatte wesentlichen Einfluss auf Lewis S. Chafer, der 1924 das Dallas Theological Seminary gründete – die bekannteste Lehranstalt für den Dispensationalismus in der akademischen Welt. Dort lehren bekannte Autoren wie A.T. Pierson, H. A. Ironside, J. Walvoord, D. Pentecost und der genannte Ch. C. Ryrie.
Nach wie vor hat der Dispensationalismus in Amerika eine für europäische Verhältnisse schwer vorstellbare Verbreitung. Die umstrittene Left-behind-Romanserie (dt.: Das Finale – die letzten Tage der Erde, Gerth Medien) von Tim LaHaye und J. B. Jenkins – eine fiktive Darstellung der endzeitlichen Ereignisse aus dispensationalistischer Sicht – erreichte in Amerika eine Auflage von mehr als 50 Mio.10

Welche Merkmale kennzeichnen den Dispensationalismus?

Ryrie und andere Autoren11 nennen drei unabdingbare Merkmale einer dispensationalistischen Bibelauslegung:

1.        Die Unterscheidung zwischen Israel & der Gemeinde. In der reformatorischen Theologie und in der sogenannten Bundestheologie wird davon ausgegangen, dass die alttestamentlichen Verheißungen für Israel auf die Gemeinde übergegangen sind und eine geistliche, in vieler Hinsicht keine wörtliche Bedeutung haben.
Der dispensationalistische Bibelausleger geht jedoch davon aus, dass Israel aufgrund der biblischen Verheißungen eine nationale Zukunft als Volk Gottes hat und im 1000-jährigen Reich eine zentrale Bedeutung auf der Erde haben wird. Der Dispensationalist glaubt, dass Gott seine Absichten mit einem irdischen Volk – den Israeliten – und mit einem himmlischen Volk, der weltweiten christlichen Gemeinde von Pfingsten bis zur Entrückung verfolgt und dass ihre Unterschiede zueinander auch in der Ewigkeit beibehalten werden.
Dieses Verständnis hat große Auswirkungen auf viele Detailfragen, zum Beispiel was die in der Heiligen Schrift angekündigte Entrückung der Gläubigen betrifft und was die zentrale Bestimmung der christlichen Gemeinde ist.

2.               Die wörtliche Schriftauslegung.

Dieses Prinzip der Textinterpretation will sagen, dass der biblische Text im Sinn einer historisch-grammatischen Hermeneutik gedeutet wird oder anders formuliert: Es wird gefragt, welche Bedeutung der Text im ursprünglichen Zusammenhang hat.
Auf jeden Fall ist es eine Auslegung, die den Text nicht von vorne herein vergeistlicht oder allegorisiert, wie dies der Fall ist, wenn man z.B. alttestamentliche Prophezeiungen für Israel auf die Gemeinde umdeuten muss. Damit wird die Berücksichtigung verschiedener Textgattungen wie z.B. Gleichnisse oder Illustrationen und Symbole wie in der Offenbarung nicht ausgeschlossen.

3.        Das einigende Prinzip des göttlichen Handelns mit der Schöpfung: Die Verherrlichung Gottes. Worin besteht die zentrale Absicht Gottes in den unterschiedlichen Heilsepochen oder Haushaltungen? Was ist das Ziel der Geschichte aus biblischer Sicht. Darauf geben unterschiedliche Erklärungsansätze der Bibel verschiedene Antworten. Für die bundestheologische Sicht ist es – so die Darstellung von Ryrie – die Errettung des Menschen.
In der dispensationalistischen Sicht steht jedoch die Verherrlichung Gottes im Mittelpunkt, oder – um es mit Darby zu formulieren – die völlige Offenbarung seines Wesens.12 Dieser Aspekt ist meines Erachtens häufig unterbelichtet. Er markiert den wichtigen Unterschied zwischen einer auf Gott zentrierten und einer auf Menschen zentrierten Sichtweise.

 

Weitere Inhalte des Buches von Ryrie

Neben der sorgfältigen Darstellung des Dispensationalismus, seiner wesentlichen Merkmale und seiner Entstehung, beschäftigt sich Ryrie mit den Auswirkungen in Bezug auf das Verständnis von Gemeinde, Errettung und Prophetie. Er stellt diese Art der Schriftauslegungen dem Konzept der Bundestheologie gegenüber.
Die Bundestheologie ist unter bibelgläubigen Christen das am meisten verbreitete konkurrierende System der Bibelauslegung. Ausführlich versucht Ryrie, zentrale Kritikpunkte am Dispensationalismus zu widerlegen. Außerdem verteidigt er dieses heilsgeschichtliche Konzept der Bibelauslegung gegen die Varianten des Progressiven Dispensationalismus und des Ultradispensationalismus.
Zum Schluss appelliert er an bibelgläubige Christen, die Unterschiede in der Schriftauslegung nicht zu hoch zu hängen und sich an die Übereinstimmung in vielen grundlegenden Fragen zu erinnern.

 

Zum Stil des Buches

Obwohl die Thematik des Buches nicht die einfachste ist, zeichnet sich Ryrie durch eine allgemeinverständliche Ausdrucksweise und einen unpolemischen, sachlichen Stil aus. Er bezieht sich allerdings auf die Diskussion des Dispensationalismus im amerikanischen evangelikalen Milieu. Das macht die Lektüre für Leser des deutschen Kulturkreises manchmal etwas mühsam, weil sich die wenigsten damit auskennen.

Schlussbemerkungen

Die wenigen Bemerkungen zum Dispensationalismus im Rahmen dieses Beitrages wollen andeuten, dass das Konzept der Bibelauslegung durchaus eine große Bedeutung für das Verständnis so wichtiger Themen wie Gemeinde, Prophetie und ewige Bestimmung hat.
Es wäre schön, wenn die Lektüre dieses Buches eine Bestätigung würde für die folgende Aussage des Kritikers der dispensationalistischen Bibelauslegung, G. E. Ladd:
„Es ist zweifelhaft, ob es jemals einen anderen Kreis von Männern (Dispensationalisten, Anm. d. Verfassers) in der amerikanischen Geschichte gegeben hat, die durch ihren Einfluss in Predigt, Lehre und Literatur mehr getan haben, um eine Liebe zum Bibelstudium, einen Hunger nach Gottes Wort, eine Leidenschaft für Evangelisation und einen Eifer für Mission zu fördern.“13

Nachtext

Quellenangaben

Quellenangaben

1    https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_C._Ryrie (04.01.2017)

2    Siehe z.B. die Dissertation von Crutchfield, L.,V.: The Origins of Dispensationalism – The Darby Factor, Boston, 1992, S. 1; Ice, Th.: A Short History of Dispensationalism, S. 6 http://www.pretrib.org/articles/view/short-history-of-dispensationalism (04.01.17)

3    Ice, op. cit., S. 2

4    Ryrie, Ch., C.: Dispensationalismus, Bielefeld, S. 92

5    Elmore, F.: J. N. Darby‘s Early Years, http://www.pre-trib.org/data/ pdf/Elmore-JNDarbysEarlyYears.pdf (05.02.17)

6    The Collected Writings of J. N. Darby, edited by William Kelly, elektronische Ausgabe bei www.presenttruthpublischers.com, Bd. 1,

S. 124–131, Printausgabe S. 192–203

7    Darby, op. cit.,Bd.2, S. 278–383 (elektr. Ausgabe)

8    Darby, op. cit., Bd. 5. S. 383 ff. (elektr. Ausgabe)

9    Zitiert in Ice, op. cit., S. 6

10https://de.wikipedia.org/wiki/Finale_%E2%80%93_Die_letzten_Tage_der_Erde

11Siehe dazu die genannten Werke von Ice, Crutchfield und Elmore

12Darby, op. cit. Bd.2 S. 382 (elektronische Version)

 

13Zitiert in Ice, op. cit. S. 1