Zeitschrift-Artikel: Wie man völlig ungeniert die Bibel lesen kann... - VON DER ENTSCHÄRFUNG BIS ZUR ABSTUMPFUNG IST ES NICHT WEIT

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Titel: Wie man völlig ungeniert die Bibel lesen kann... - VON DER ENTSCHÄRFUNG BIS ZUR ABSTUMPFUNG IST ES NICHT WEIT
Typ: Artikel
Autor: Sören Kierkegaard
Autor (Anmerkung):

online gelesen: 1885

Titel

Wie man völlig ungeniert die Bibel lesen kann... - VON DER ENTSCHÄRFUNG BIS ZUR ABSTUMPFUNG IST ES NICHT WEIT

Vortext

Der dänische Dichter und Denker Søren Kierkegaard (1813–1855) hat in einem seiner Bücher einige sehr geistreiche Gedanken darüber niedergeschrieben, in welcher Haltung man die Bibel lesen sollte und welche Hinterlist wir Christen oft anwenden, um unangenehme Forderungen des NT zu entschärfen oder umzudeuten. Wir geben hier einige dieser Gedanken wieder, die sicher satirisch, aber doch im Zusammenhang mit unserem Thema „Ohne Unterschied?“ nachdenkenswert sind.

Text

„Nimm die Heilige Schrift, schließe die Tür hinter dir zu – nimm dann aber zehn Wörterbücher, fünfundzwanzig Auslegungen: so kannst du die Heilige Schrift ebenso ruhig und ungeniert lesen, wie du den Lokalanzeiger liest. Fällt es dir dann - wunderlicherweise - gerade, wenn du so recht schön dasitzt und eine Stelle liest, zwischendurch ein: „Hab ich dies getan, handle ich hiernach?“ (natürlich nur in Geistesabwesenheit, in einem zerstreuten Augenblick, da du nicht mit dem gewohnten Ernste gesammelt bist, kann dir dergleichen widerfahren), so ist die Gefahr doch nicht eben groß. Denn sieh, vielleicht sind da mehrere Lesarten, und vielleicht wird gerade jetzt eine neue Handschrift aufgefunden, ei, Gott behüte – da ist Aussicht auf neue Lesarten, und vielleicht sind fünf Ausleger der einen Meinung und sieben einer anderen, und zwei einer merkwürdigen Meinung, und drei schwanken oder haben gar keine Meinung, und „ich selbst bin nicht ganz einig mit mir über den Sinn dieser Stelle, oder, um meine Meinung zu sagen, ich bin der gleichen Meinung wie die drei Schwankenden, die keine Meinung haben“ und so weiter... Der Mißbrauch der Gelehrsamkeit Trauriger Mißbrauch der Gelehrsamkeit! Daß es den Menschen so leicht gemacht wird, sich derart selbst zu betrügen! Denk dir ein Land. Es geht ein königliches Gebot aus an alle Beamten und Untertanen, kurz an die ganze Bevölkerung. Was geschieht? Es geht mit allen eine merkwürdige Veränderung vor: alles verwandelt sich in Ausleger, die Beamten verfassen Schriften, jeden Tag erscheint eine Auslegung, die eine immer gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller, tiefsinniger, einfallsreicher, wundervoller, schöner und wunderbar schöner als die andere; die Kritik, welche die Übersicht geben soll, behält kaum die Übersicht über diese ungeheure Literatur – alles ist Ausle- gung. Niemand aber hat das Königsgebot dergestalt gelesen, dass er danach täte... Was meinst du nun, wird dieser König von dergleichen denken? Ob er nicht sagen würde: dass sie dem Gebot nicht nachkommen, das könnte ich ihnen immerhin verzeihen. Fernerhin, falls sie eine Bittschrift bei mir einreichten, dass ich Geduld mit ihnen haben, oder sie vielleicht ganz verschonen möge mit diesem Gebot, das ihnen so schwer falle: ich könnte ihnen verzeihen. Das aber kann ich nicht verzeihen, dass man sogar den Gesichtspunkt für das, was Ernst ist, verschiebt... Sei nicht arglistig Es ist menschlich, Gott zu bitten, er möge Geduld haben, wenn man nicht also gleich kann, was man soll, jedoch so, dass man gelobt, danach zu streben. Es ist menschlich, Gott zu bitten, er möge Mitleid haben, dass einem die Forderung zu hoch ist: will es kein anderer von sich gestehen, ich gestehe, ich tue so. Aber das ist doch nicht menschlich, der Sache eine ganz andere Wendung zu geben, dass ich listig, immer eine Lage über der anderen, Auslegung und Wissenschaft und noch einmal Wissenschaft dazwischenschiebe (ungefähr wie wenn ein Schuljunge ein Kissen oder auch mehrere unter seinen Wams anbringt, wenn er Prügel kriegen soll), dass ich das alles zwischen das Wort und mich schiebe, und dann diesem Auslegen, dieser Wissenschaftlichkeit den Namen von Ernst und Wahrheitseifer beilege, und dann dieses Treiben zu einer solchen Weitläufigkeit anschwellen lasse, dass ich niemals dazu komme, einen Eindruck von Gottes Wort zu empfangen, niemals dazu komme, mich im Spiegel zu beschauen. Es sieht aus, als zöge all dieses Forschen und Grübeln und Sinnen und Ergründen Gottes Wort ganz nahe an mich heran. Die Wahrheit ist, dass ich eben damit, aufs Allerlistigste, Gottes Wort so weit als nur möglich von mir entferne, unendlich viel weiter, als es dem ist, welchem vor Gottes Wort so angst und bange ist, dass er es so weit als nur möglich fortschleuderte... Lass dich nicht betrügen – oder, sei nicht selber arglistig. Denn wir Menschen, wir sind Gott und Gottes Wort gegenüber gar so listig, selbst der Dümmste unter uns ist gar so listig – ja, Fleisch und Blut und Eigenliebe sind gar listig... Bist du also ein Gelehrter, so gib am Ende acht, dass du nicht über allem diesem gelehrten Lesen (welches kein Lesen von Gottes Wort ist) vergessest, Gottes Wort zu lesen. Bist du ungelehrt, oh, sei nicht neidisch auf den anderen, freue dich, dass du ohne Verzug dazu kommen kannst, Gottes Wort zu lesen! Und gibt es da nun einen Wunsch, einen Befehl, dann eile flugs davon, um danach zu tun.“

Nachtext

Quellenangaben