Zeitschrift-Artikel: "...wie ein streunender Hund"

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Titel: "...wie ein streunender Hund"
Typ: Artikel
Autor: Viktor Leskow
Autor (Anmerkung):

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Titel

"...wie ein streunender Hund"

Vortext

Auf unserer letzten Sibirienreise lernten wir in einer Novosibirsker Gemeinde einen jungen Bruder kennen, der uns durch sein starkes Interesse an Gottes Wort auffiel, obwohl seine Tätowierungen eine kriminelle Vergangenheit vermuten ließen. Wir erfuhren dann, daß er 13 Jahre Haft hinter sich hat und erst im Früh­jahr dieses Jahres aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Eines Abends luden wir ihn ein, aus seinem Leben zu erzählen und hörten dann eine bewegende Geschich­te, die ich hier nacherzählen möchte. W.B.

Text

Viktor Leskow ist mein Name und ich bin heute 29 Jahre alt.
An meine Kindheit habe ich nur schmerzliche Erinne­rungen. Wir waren acht Kinder zu Hause, aber wir kannten unsere verschiedenen Väter nicht. Mutter war eine Trinkerin und so wuchsen wir ohne Liebe in zerütteten Verhältnissen auf. Zu Essen hatten wir kaum etwas, aber dafür stand immer eine Flasche Alkohol auf dem Tisch.
Wenn auch in unserer kümmerlichen Wohnstube eine Ikone stand, so kannten wir doch Gott nicht. Schnaps war unser Gott.
Um meinen Hunger zu stillen, begann ich schon früh wie ein streunender Hund durchs Dorf zu laufen, um etwas Essbares zu stehlen.
Als ich neun Jahre alt war, wurde meiner Mutter das Erziehungsrecht entzogen und ich in ein Erziehungs­heim gesteckt. Damals wurden in der ehemaligen UDSSR die Kinder relativ gut versorgt. Lenin wurde als "Freund der Kinder" verehrt. Aber dort, wo ich mich befand, wurden wir bei jedem kleinsten Vergehen ge­prügelt. Wir hatten ständig Hunger und bekamen keine Kleidung. So riß ich auch hier immer wieder aus um zu stehlen, wurde aber stets wieder eingefangen.
Bereits als 12jähriger trank ich regelmäßig Alkohol, den ich mir durch Stehlen oder Umtausch von Diebesgut besorgte.
Oft sprang ich auf einen fahrenden Güterzug, um nach stundenlanger Fahrt irgendwo in einer unbekann­ten Stadt zu landen und mich dort als Dieb durchzuschlagen, bis ich wieder mal von der Polizei erwischt und eingefangen wurde.


Die erste Haftstrafe

Als ich allerdings 14 Jahre alt wurde, war ich alt genug für die Jugendstrafe. Ein Güterzug hatte mich bis nach Novosibirsk gebracht und dort wurde ich beim Diebstahl erwischt und schließlich zu 3 Jahren Jugendgefängnis verurteilt.
Auch hier gab es Prügel, wenn die Arbeitsquoten nicht erfüllt wurden und wir Jüngeren wurden von den Älteren grausam terrorisiert. In dieser Umgebung schwor ich mir, ein neues Leben anzufangen, wenn ich dieses Gefängnis verlassen würde. Vielleicht konnte ich als Soldat bei der Armee einen neuen Anfang ma­chen.
Am Tag meiner Entlassung stand überraschend mei­ne Mutter am Tor, die ich lange nicht gesehen hatte. Sie nahm mich mit in ihr Dorf und dort unter den Alkoholi­kern und Spielern gab ich alle guten Vorsätze auf. Ich wollte nicht stehlen und trinken, aber ich schaffte es nicht. ich war - wie die Bibel es sagt - ein Sklave der Sünde.
Wenn ich wieder einmal eine Ikone gestohlen hatte, schaute ich manchmal des Nachts hinauf zum Sternenhimmel. Ob es dort wirklich jemand gab, der Interesse an meinem Leben hatte?


Tabletten, Alkohol, Opium...

Bei einem Autodiebstahl wurde ich ertappt und be­kam dafür 3 Jahre schwere Haft. In diesem Lager wurde mit Geschick und Fleiß Drogen und Tabletten gehan­delt und bald gehörte ich zu denen, die glaubten, mit Drogen der Wirklichkeit entfliehen zu können.
Inzwischen hatte mich das Gefängnisleben hart und brutal gemacht. Ich lehnte mich gegen jede Autorität auf, obwohl ich damit immer den Kürzeren zog und zur Strafe die Isolierhaft kennenlernte. In dieser Umge­bung, unter abgebrühten Verbrechern, lernte ich mit 19 Jahren die letzten Tricks kennen, um meine Karriere als Dieb erfolgreicher als bisher fortzusetzen.
Damals saß auch der bekannte Nikolai Baturin in diesem Gefängnis, der um seines Glaubens willen dort eingeliefert wurde. Das sprach sich unter den Gefange­nen schnell herum, aber ich schenkte dem keine Beach­tung.
Das schlechte Essen in diesem Gefängnis und die Tatsache, daß ich nur 30 Minuten pro Tag an die frische Luft durfte, führte dazu, daß ich an TBC erkrankte. Im Gefängniskrankenhaus stellte man ein bereits fortge­schrittenes Stadium fest, aber die Behandlung blieb aus. So trank und rauchte ich weiter.
Wieder einmal kam der Tag der Entlassung. Dieses Mal stand Mutter nicht am Tor und mein ganzer Besitz bestand aus 40 Rubeln, die ich bei der Entlassung bekommen hatte. In meiner Einsamkeit und Ausweglosigkeit spürte ich den Drang, in eine orthodo­xe Kirche aufzusuchen. Vielleicht hatte Gott irgendetwas mit meiner Not zu tun.
Als ich die Türe öffnen wollte, erkannte ich, daß die Öffnungszeit abgelaufen war. "Komm Morgen!", rief mir mürrisch der Pope von innen zu. "Ich will aber heute Gott anbeten!" war meine verzweifelte Antwort. Wie gerne hätte ich ein Kreuz oder eine Kerze gekauft, aber die Tür blieb verschlossen.
Weil ich keinen anderen Ausweg wußte, suchte ich wieder das Dorf meiner Mutter auf, wo sich der bekann­te Kreislauf wieder einstellte: stehlen und trinken.
Wenn ich des Nachts unruhig aufbrach um zu stehlen, merkte ich, daß auch dieser Drang eine Sucht war. Ich konnte nicht mehr anders. Ich war wie besessen.
"Vier Jahre Gefängnis" lautete der nächste Richterspruch, nachdem ich eine Wohnung leer ge­räumt hatte. Im Knast traf ich alte Bekannte wieder und da ich die Arbeit verweigerte, bekam ich verschärfte Haft. Ich mußte auf dem Fußboden schlafen und bekam nur jeden zweiten Tag etwas zu essen.
Aus Wut darüber, daß mir der zuständige Häftling keine Antwort gab, als ich ihn nach Post für mich fragte, stach ich ihm zweimal mit einer Elektrode in die Lungen. Das brachte mir ein Strafverfahren wegen Körperverletzung und zusätzliche 3 Jahre Haft ein, sodaß nun 7 Jahre Gefängnis vor mir standen.
Auch in diesem Novosibirsker Gefängnis änderte ich meinen Lebensstil nicht. Nikotin, Haschisch, Alkohol, oft monatelange Einzelhaft wegen schlechter Führung.
Eines Nachts hörte ich im Traum eine Stimme: "Geh zu einem Geistlichen!" Der einzige Christ, den ich im Gefängnis kannte, war der alte Kornelius Kröker, der um seines Bekenntnisses zu Christus willen hier saß. Ich ging zu ihm, erzählte ihm meinen Traum und meine Not. Seine Antwort war: "Du kennst Jesus Christus nicht, deswegen kommst du aus den Problemen nicht heraus." Doch seine eindringlichen Worte blieben ohne Einfluß auf mein Leben.
Als meine Krankheit schlimmer wurde, kam ich in ein Gefängnis für TBC-Kranke. Dort begann ich Opium zu spritzen. Dieses Rauschmittel wurde eingeschmuggelt und durch Spielen usw. finanziert.

Die Macht eines geklauten Evangeliums

Drei Jahre war ich nun krank, lag abgemagert meist in Einzelhaft und dachte oft über Gott nach, den ich schließlich anklagte, daß er mir trotz aller "Vater un­ser"-Gebete nicht half, sondern alles nur noch schlim­mer wurde.
Als ich 1989 aus der Einzelhaft entlassen wurde, las ich am schwarzen Brett eine Mitteilung, daß Christen zu Besuch ins Gefängnis kommen würden. Das war völlig neu für uns und eine Folge der Perestroika.
In dieser Veranstaltung traf ich zu meiner großen Überraschung Kornelius Kröker wieder, den man in­zwischen rehabilitiert hatte. Nun war er als Prediger hier und sprach über die Knechtschaft der Sünde. Die­ser Vortrag hat mich aufgewühlt und zwei Monate lang quälte mich die Gewißheit, daß ich ein Sklave der Sünde war.
Ich sammelte alle Traktate auf, die ich im Gefängnis finden konnte und verschlang den Inhalt. Schließlich klaute ich einem Gefangenen ein Johannesevangelium, um mehr über Gott zu erfahren. Ich las dieses Evange­lium in einem Zug durch und war tief davon beein­druckt.
Da mich mein Gewissen quälte, gab ich das gestohle­ne Evangelium dem Gefangenen zurück und bat ihn um Verzeihung. Er selbst hatte bisher noch nicht darin gelesen, so daß ich ihm sagte: "Lies darin, das ist ein starkes Buch!"
Leider fand ich keinen Gläubigen unter den Häftlingen, aber bald durfte ich einmal für einen Au­genblick eine Bibel in der Hand halten und dachte: "Wahnsinn, solch ein Buch!"
Als ein weiterer Einsatz der Christen im Gefängnis durchgeführt wurde, bekam ich ein Neues Testament geschenkt. Es war eine riesige Freude für mich. Ich las, daß Jesus von sich sagte: "Ich bin das Licht der Welt" und wurde mir bewußt, daß in mir alles finster war. Meine Sehnsucht, ein neuer Mensch zu werden, wuchs.
Abends im Bett, während um mich herum die Gefan­genen lachten und spielten, betete ich: "Gott hilf mir, daß ich vom Rauchen loskomme!" Gott half mir. Aller­dings war mein TBC inzwischen so fortgeschritten, daß die Ärzte zur Operation rieten. Ich zögerte zunächst.
Inzwischen hatte ich das NT gelesen und auch weitere Besuche von Christen bekommen, die mir auch nach der Operation etwas zu essen mitbrachten.


Ein neues Leben

Nachdem ich wieder zu Kräften gekommen war und arbeiten konnte, kniete ich eines Tages während der Arbeit nieder und bekannte Gott mein verlorenes, sündiges Leben und bat ihn, um Jesu willen mir zu vergeben. Ich kann nicht beschreiben, welche Last von mir fiel und welche Freude über mich kam, als ich wußte: Gott hat mein Gebet erhört und meine Schuld vergehen. Das war im Jahr 1991.

Bald darauf erhörte Gott auch mein nächstes Gebet: Er befreite mich vom Fluchen. Als Kornelius Kröker darauf wieder einen Besuch bei uns machte, sprach ich mit ihm und ging vor den Gefangenen nach vorne, um noch einmal öffentlich mein Leben dem Herrn zu über­geben. Es sollte ein öffentliches Bekenntnis zu Jesus Christus sein.
Februar '93 wurde ich entlassen, nachdem ich insge­samt 13 Jahre im Gefängnis zugebracht hatte. Am 28.2.93 ließ ich mich taufen und wurde in einer Ge­meinde in Novosibirsk aufgenommen, wo der Sohn von Kornelius Kröker, der ebenfalls Kornelius heißt, einer der Ältesten ist.


Ohne Gott - keine Überlebenschance!
Weil ich wegen meiner 4 Haftstrafen keine Arbeit bekomme, habe ich weder Geld noch ein Zimmer, so daß ich völlig auf die Hilfe Gottes angewiesen bin. Kleidung und Essen bekomme ich von verschiedenen Christen aus der Gemeinde und meist schlafe ich im Gemeindesaal. Wenn Gott nicht wäre, gäbe es für mich keine Überlebenschance.
Manchmal überfällt mich der Gedanke, wieder ins alte Leben zurückzukehren, um wie früher zu stehlen. Aber das Wort Gottes hat mich bisher gehalten.
Tagsüber versuche ich den Christen beim Bau usw. zu helfen. Aber meine größte Freude ist es, in die Gefäng­nisse gehen zu können, um dort das Wort Gottes zu verbreiten und den Herrn zu bezeugen.
Wenn ich etwas Geld bekomme, schnüre ich meinen Rucksack mit Bibeln, Traktaten und Büchern und ma­che mich auf, um eines der vielen sibirischen Dörfer zu besuchen. Manchmal begleiten mich zwei oder drei junge Brüder aus der Gemeinde, aber meist gehe ich allein. Während sich die Menschen in der Großstadt bereits dem Evangelium langsam wieder verschließen, sind die Menschen auf den Dörfern sehr offen. Ich besuche dann Haus für Haus und verteile handgeschrie­bene Einladungen. Dann predige ich auf dem Markt­platz oder - wenn es sich ergibt - in einem öffentlichen Raum. Meine Predigt ist ungehobelt und schlicht, aber diese Leute verstehen mich und manchmal kommen 70 oder über 100 Menschen, um zuzuhören. Meist laden mich die Leute anschließend zum Essen ein und oft bieten sie mir auch einen Schlafplatz an. Ich bleibe dann 2 - 4 Tage in einem solchen Dorf, um dann weiterzuziehen oder zu meiner Gemeinde zurückzu­kehren und zu erzählen, was ich erlebt habe, damit die Gemeinde beten kann.
Leider sind bisher keine Geschwister bereit, die Nacharbeit zu übernehmen und manche meinen sogar, daß diese Arbeit sinnlos sei. Doch Kornelius, der trotz seiner 12köpfigen Familie und der vielen Gemeindear­beit wie ein Vater für mich sorgt, tröstet und ermutigt mich immer wieder, meinen Rucksack zu packen und auf die Dörfer zu gehen.
Ich vertraue darauf, daß Er, der mich gesucht und gefunden hat, auch erhalten, bewahren und ans Ziel bringen wird.

Nachtext

Quellenangaben