Zwei Jahre nach dem 1. Gemeindekongreß fand in den gleichen Messehallen ein weitere Konferenz statt. Hatte im Jahr 1991 hier der "Schulterschluß" und die "Versöhnung" zwischen (einem Teil) der Evangelikalen und den Charismatikern stattgefunden, so wurde diese Konferenz von dem Gebet um "eine evangelistische Ökumene aller Christen" begleitet.
Bereits Monate vor der Veranstaltung hatte das "Visionsteam" des Kongresses, zu dem u.a. F. Aschoff, K. Eickhoff, 0. Schweitzer und W. Simson gehörten, verkündigt: "Wenn wir den prophetischen Worten und Bildern glauben dürfen, dann wird Gott wunderbar an uns handeln. Er hat gezeigt, daß Er den wundbedeckten Leib unseres Volkes in heilendem Öl baden und reinigen wird." Trotz intensiver Werbung, trotz bekannter Redner (Bill Hybels als "Leiter der schnellstwachsenden Gemeinde der westlichen Welt"; Mike Bickle als "prominentester Vertreter der Prophetenschule in Kansas City"; Graham Kendrick, als "weltweit bekannter Musiker" und Initiator der "Jesus-Märsche", so wie der Schweizer Pfarrer Gerhard Keller, "dem bekanntesten und vollmächtigsten Seelsorger Europas") kamen in diesem Jahr mit etwa 3.200 Dauerteilnehmern wesentlich weniger Besucher zu diesem Kongreß als vor 2 Jahren. Vielleicht haben die Tagungskosten (180.- DM für die gesamte Konferenz, 90.- DM für die Tageskarte und 30.- DM für eine Abendveranstaltung) oder eine allgemeine Konferenzmüdigkeit manchen davon abgehalten, diese Veranstaltung zu besuchen. Jedenfalls haben Tagesgäste teilweise sehr deutlich ihren Unmut über die hohen Preise geäußert. Auch sonst wurde der Kongreß von einem Ereignis begleitet, das sicher nachdenklich gemacht hat und die Euphorie in Grenzen hielt: bei Konferenzbeginn konnte man in den Schlagzeilen der Nürnberger Tagespresse die Nachricht lesen, daß ein bekannter Leiter einer charismatischen Gemeinde Nürnbergs, der für die "Prophetenkonferenz '92" in Nürnberg mitverantwortlich war, samt seiner Frau "unter dem Verdacht sexueller Nötigung und Freiheitsberaubung" verhaftet worden war. Etwa 60% der Teilnehmer kamen aus der evangelischen Kirche, ca. 25 % aus Freikirchen, nur knapp 2% kamen aus der röm.-kath. Kirche, die übrigen Besucher hatten keine Kirchenzugehörigkeit angegeben. Es wurden 7 Seminare angeboten, von denen die Seminare "Leben im Heiligen Geist", "Der prophetische Dienst" und "Kirche für Entkirchlichte" am besten besucht wurden.
Ein Kongreß voller Kontraste
"Erlebe die prickelnde Atmosphäre des Gemeindekongresses in Nürnberg, spüre das Feuer des Glaubens,..", mit diesen "prophetischen" Worten hatte ein bekannter evangelikaler Verlag auf den Kongreß aufmerksam gemacht. In den Plenumsveranstaltungen mit Bill Hybels ging es allerdings zunächst überraschend nüchtern zu. Das bescheidene, auf Show verzichtende Auftreten dieses freundlichen Amerikaners mit dem leidenschaftlichen Anliegen, "Entkirchlichte" mit dem Evangelium zu erreichen, war überzeugend. Als konservativer Evangelikaler, der von der Unfehlbarkeit der Bibel überzeugt ist und auf "Power evangelisrn" verzichtet, gab Hybels der Konferenz eine unerwartete Prägung. Klaus Eickhoff, dem man wohl neben Jürgen Kroll die Einladung Bill Hybels nach Deutschland verdankt, schlug in seinem Vortrag im Anschluß an die Pastorenkonferenz in die gleiche Kerbe. Er bezeichnete die gegenwärtige "kirchliche Harmlosigkeit" als das "Gefährlichste, was sich zur Zeit in Deutschland ereignet". Er rief auf, zunächst Gottes Gericht zu predigen, um dann auch die Gnade Gottes wirksam verkündigen zu können. Keine Rede von der anbrechenden großen Erweckung, in welcher Deutschland eine wichtige Rolle spielen soll, sondern von dem "Schweigen Gottes" über Deutschland, als Gottes Antwort auf die Harmlosigkeit und Gleichgültigkeit der Kirche. Wären diese Vorträge nicht von - nach meinem Empfinden - etwas flippigen "Lobpreiszeiten" unter der Leitung von Graham Kendrick und Thomas van Dooren umrahmt worden, hätte man glauben können, in einer Konferenz in Dillenburg, Bad Blankenburg oder Bad Liebenzell zu sitzen. Nach dem Vortrag von Klaus Eickhoff war die Betroffenheit so groß, daß nicht einmal geklatscht wurde.
Prophetie oder Hellseherei?
Stunden später, in dem Seminar "Der prophetische Dienst" unter der Leitung des GGE - Vorsitzenden Friedrich Aschoff, schien man auf einer anderen Konferenz zu sein. Hier wurde von den "Cansas City Propheten" Mike Bickle, John Paul Jackson und Phil Elsten über prophetisches Reden referiert und "Prophetie" wurde demonstriert und eintrainiert. Redner war hier vor allem Mike Bickle, der von sich berichtete, dreimal im Wachzustand die Stimme Gottes akustisch gehört und auch Heimsuchungen von Engeln erlebt zu haben. Am Freitag spürte er während des Seminars ein Brennen in der Magengegend und ein Heißwerden seiner Hände. Das war für ihn ein Zeichen Gottes, daß der Heilige Geist als das "Feuer Gottes" unter den Seminarteilnehmern wirksam werde. Die Teilnehmer, die nun ebenfalls ein Brennen feststellten, sollten nun aufstehen und sich von ihren Nachbarn unter Gebet die Hände auflegen lassen, weil der Heilige Geist nun in einer besonderen Weise an oder durch sie wirken würde. Die beiden anderen "Propheten" demonstrierten ihre Fähigkeit, Bilder, Visionen und Eindrücke, die sie über einzelne Teilnehmer des Seminars bekommen hatten, zu deuten und auszusprechen. Phil Elsten z.B. bat die betreffenden Leute jeweils aufzustehen und ihre Handflächen zu zeigen, weil Gott ihm dadurch besondere Einsichten gäbe. Im Anschluß daran wurde Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der betreffenden Personen gedeutet bzw. "prophezeit". Es wurde gelehrt, daß "innere Bilder", Schmerzen in einer Körpergegend usw. in Verbindung mit der Person, über welche ein prophetisches Wort ausgesprochen werden sollte, Hinweise über den Inhalt der Prophetie geben. So sei z.B. das innere Bild eines Schlüsselbundes ein Hinweis darauf, daß die entsprechende Person einen Dienst an Gefangenen, Drogensüchtigen usw. bekomme, um deren Gefangenschaft zu brechen. Oder der "kirchliche Kragen" sei ein Hinweis darauf, daß es sich um einen "Mann Gottes" handle. Jackson prophezeite u.a. dem anwesenden Pastor H.C. Rust, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises "Gemeinde und Charisma" im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten), daß Gott ihn gebrauchen werde, in einem "apostolischen Dienst" die Baptisten in ganz Deutschland zu beeinflussen, und daß er eine "neue Salbung zum Lehren" und einen neuen Dienst in Frankreich bekommen werde. Die meisten Prophezeiungen wurden anschließend nach Rücksprache mit dem Leiterteam des Seminars von den Betroffenen bestätigt bzw. erläutert.
Psychologisches Spiel oder mediale Fähigkeit?
Natürlich kommt an dieser Stelle die Frage auf, ob es sich hier bei den "Propheten" a) um ein leichtsinniges Spiel mit inneren Bildern, Eindrücken bzw, Visionen, b) um eine mediale Fähigkeit, also eine Art Hellseherei, oder c) um eine Gabe Gottes handelt.
Die in Nürnberg vorgestellte Art von Prophetie kann ich nach meinem Verständnis der Bibel nicht als eine Gabe des Heiligen Geistes bewerten. Zur Zeit der Apostel, als das NT noch nicht vollständig vorhanden war, benutzte Gott die Gaben der Prophetie und der Erkenntnis, um Seinen Willen und Seine Gedanken deutlich zu machen, weil die junge Gemeinde damals darauf angewiesen war und nicht wie wir Christen heute auf die neutestamentlichen Schriften zurückgreifen konnte. Jetzt aber werden wir davor gewarnt, dem Wort Gottes etwas hinzuzufügen oder hinwegzutun; vgl. Gal. 1,9: "Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt, entgegen dem, was ihr empfangen habt: er sei verflucht." Oder Offbg. 22,18: "Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind" (siehe auch 2. Petr. 1,19-21; Hebr. 1,1 und 2,1-4). Daher muß "Prophetie" im Sinne einer Offenbarungsquelle neben dem Wort Gottes entschieden abgelehnt werden. Ein prophetischer Dienst kann laut 1. Kor. 14,3 heute nur mit der Bibel in der Hand geschehen, indem wir das geschriebene Wort Gottes unter der Leitung des Heiligen Geistes hautnah auf die Situation der Zuhörer anweden, so daß sie in ihrer persönlichen Situation "erbaut, ermahnt und getröstet" werden. Jeder andere "prophetische Dienst" steht in Gefahr, von "falschen Aposteln" (2. Kor. 11,13-15) und "falschen Propheten" (2. Petr. 2,1-3; Apg. 20,3) praktiziert zu werden, egal ob ihre "Prophezeiung" eintrifft oder nicht.
Im Wechselbad der Emotionen
Die Plenumsveranstaltung am Samstagabend bescherte den Teilnehmern ein Wechselbad von Eindrücken. Zunächst wurden die ca. 4.000 Zuhörer unter Anleitung der sehr professionell auftretenden Musik- und Gesanggruppe in eine ausgelassene, tanzende und jubelnde Menge verwandelt, die eine Stunde später unter der Predigt von G. Keller über das Lamm Gottes in Offbg. 14 "anbetend" zusammenschmolz und in dieser - für mein Empfinden - unnüchternen, mystischen Atmosphäre aufgefordert wurden, sich das "Lammessiegel"(Offgb. 14,1) geben zu lassen - ein seltsamer Gegensatz zu der tanzenden Menge vor wenigen Minuten. Auch die Abschlußveranstaltung am Sonntag war voller Kontraste. Zunächst stellte F. Aschoff mit Bezug auf Joel 3 seinen Traum vor: In den nächsten Monaten sollte der "Jesus-Marsch" fortgesetzt werden, indem kleine Gruppen die Orte der Kriegsgreuel und Israel besuchen sollten, um dort stellvertretend für das Volk Buße zu tun und um Vergebung zu bitten. Klaus Eickhoff bekannte dagegen in seinem Schlußwort sehr ehrlich: "Wir haben kein brennendes Herz und das kann man nicht überspielen durch Entertainment. Wir können uns nicht einheizen..." und forderte auf, über den persönlichen Zustand Buße zu tun und "mit ganzem Herzen zum Gekreuzigten umzukehren".
Eindrücke und Bedenken
Neben einigen bereits geschilderten positiven Eindrücken, zu denen ich noch die erfreuliche Beobachtung nennen möchte, daß einige der anwesenden Charismatiker und Gemeindebauer bescheidener, selbstkritischer und gesprächsbereiter geworden sind, möchte ich meine Eindrücke und Bedenken abschließend zusammenfassen:
1. Selten ist mir die manipulierende Wirkung von Musik und Gesang auf Menschenmassen so deutlich demonstriert worden wie in Nürnberg. Verwechselt man hier Stimulierung durch Musik mit dem Wirken des Heiligen Geistes?
2. Die Menge der Teilnehmer schien mir recht unkritisch jeden Beitrag - mochte er auch kontrovers zum Vorredner sein - mit Beifall zu quittieren. Die Einflußnahme auf die Zuhörer durch Aufforderung zum Nachsprechen, zu gemeinsamen Erklärungen, Beifallskundgebungen usw. schien mir gruppendynamisch sehr wirksam, aber dadurch verantwortungslos zu sein.
3. Den leichtsinnigen, unbiblischen, an Hellseherei erinnernden Umgang mit "Prophetie" und die Tendenz, die Teilnehmer nicht zum Bibelstudium, sondern zum Hören und Erkennen von Stimmen, Bildern, Eindrücken, Visionen usw. zu schulen, halte ich für eine Bestätigung der Sorge, daß durch diese Praxis -bei aller Betonung der Wichtigkeit der Heiligen Schrift - in Wirklichkeit das Wort Gottes zu Gunsten von Träumen usw. in den Hintergrund gerückt wird (vgl. Jer. 23) und die betreffenden Personen in die Irre geführt werden.
4. Die von F. Aschoff zelebrierte "Abendmahlsfeier" im Anschluß an die Abendveranstaltung erinnerte in ihrem sakramentalen Charakter so stark an eine katholische Messe, daß mir erweckte "Noch-Katholiken" später sagten, sie seien entsetzt gewesen und hätten aus diesem Grund nicht an dem "Abendmahl" teilgenommen. Die Sympathie und Nähe Aschoffs zu einigen röm.-katholischen Auffassungen und Praktiken wurde hier deutlich. Unbegreiflich war für mich, wie unbesorgt Referenten aus dem freikirchlichen Lager F. Aschoff bei der Austeilung des Abendmahles assistierten.
5. Die wiederholte Aufforderung, Buße für die Sünden der Vergangenheit zu tun und dazu Orte aufzusuchen, an denen Greuel geschehen sind, scheint mir unnüchtern zu sein und den Blick dafür zu vernebeln, für welche Sünden der Gegenwart das Volk Gottes heute wahrlich Grund genug hat Buße zu tun: Verweltlichung, mangelnde Bibelkenntnis, Gebetslosigkeit, Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit, Harmlosigkeit, Kompromißfreudigkeit, Materialismus usw.
6. Wir sog. "Nichtcharismatiker" haben weithin durch unsere Lauheit und mangelnde Hingabe an Christus keine überzeugende, biblische Alternative geboten. Daher tragen wir Mitschuld daran, daß viele Geschwister auf solchen Konferenzen vergeblich suchen, was wir ihnen nicht vorgelebt haben: Ein Leben in der Kraft des Heiligen Geistes zur Ehre unseres Gottes.
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