„Wie schön, dass wir jetzt ein Jahr der Stille vor uns haben!“ – so grüßte mich in der ersten Januar-Woche ein vielbeschäftigter Freund, der täglich meist mehr als 10 Stunden arbeitet. Und es sieht nicht so aus, als würde sich im neuen Jahr viel daran ändern. Ein „Jahr der Bibel“ hatten wir bereits 2003, ein „Jahr der Ökumene“ liegt Jahre zurück und gleichzeitig vor uns: Das Jahr 2010 wird von vielen Kirchen als „Jahr der Ökumene“ mit dem Höhepunkt des 2. Ökumenischen Kirchentages vom 12.-16. Mai in München angekündigt. Nichts gegen sondern alles für die Stille. Dass es aber nötig geworden scheint, Selbstverständlichkeiten geistlichen Lebens derart betonen zu müssen, macht deutlich, auf welchem Niveau wir als Christen angekommen sind. Atmen, Essen und Trinken sind lebensnotwendig und selbstverständlich. Dazu sollte man nicht aufgefordert werden müssen. Ebenso ist Stille vor dem Herrn – um sein Wort zu lesen, darüber nachzudenken und im Gebet Gott anzubeten, zu danken und in der Fürbitte für andere zu stehen – ein ganz normales Bedürfnis des neuen Lebens. Doch nun flattern jede Woche neue Prospekte, Ideenhefte, Zeitschrift-Sonderausgaben usw. mit Anregungen und Angeboten zum „Jahr der Stille“ ins Haus. Auch erste kritische Veröffentlichungen machen die Runde und sorgen für Unruhe in manchen Gemütern. Es wird wohl kaum ein stilles Jahr werden ...
So fing alles an ...
Die freundliche und glaubwürdige Schwester – damals noch Mitarbeiterin in der „Stiftung Christliche Medien“ – hat wohl kaum geahnt, was ihr Vorschlag ausgelöst hat, ein „Jahr der Stille“ einzuführen: „Leiter verschiedener Organisationen und Kirchen setzten sich zusammen, ein bunt besetzter Arbeitskreis entstand ... inzwischen haben sich über achtzig Kirchen und Gemeindeverbände, christliche Werke und Seminarveranstalter, Retraitenhäuser und Verlage in Deutschland und in der Schweiz zusammengeschlossen, um das ´Jahr der Stille 2010´ zu fördern und mit guten Inhalten zu versehen“– so lauten jedenfalls die offiziellen Informationen, nachzulesen im „Ideenheft“. Kaum eine Freikirche, die nicht mitarbeitet, fast alle Gemeinschaftsverbände sind dabei. Vorstandsmitglieder der Deutschen Evangelischen Allianz findet man im Leitungskreis, ebenso Verlagsleiter bekannter evangelikaler Verlage. Pietisten, Charismatiker, Ökumeniker und Katholiken machen mit. Missionswerke jeder Schattierung, Einkehrstätten, Communitäten und Klöster lutherischer, katholischer und charismatischer Prägung bieten Exerzitien, Einkehrtage, Schweigetage, Meditations-Kurse usw. an. Nun also auch so etwas wie eine „große Koalition für die Stille“!
Ein „Drahtseil-Akt“
Der gemeinsame Nenner des Arbeitskreises ist nicht ein Glaubensbekenntnis, sondern die gemeinsame Erkenntnis, dass ein „Jahr der Stille“ allen teilnehmenden Gruppen geistlich gut tun würde. Das bedeutet natürlich auch, dass nicht alle im „Ideenheft Jahr der Stille 2010“ vorgestellten Stille- und Meditationsübungen usw. von allen mitarbeitenden Gruppen für biblisch oder empfehlenswert gehalten werden. Aber um des gemeinsamen Anliegens willen geht man das Risiko ein, dass auch esoterische, mystische und bibelkritische Personen, Bücher und Praktiken in den offiziellen Veröffentlichungen vorgestellt werden. „Ein Drahtseil- Akt“ – wie einer der verantwortlichen Initiatoren in einem persönlichen Gespräch zugab. Dabei drückte er aber auch gleichzeitig die Hoffnung aus, dass positive und biblische Impulse auf diese Weise in Kreise gelangen, die man bisher kaum mit einer biblisch-klaren Verkündigung erreichen konnte. Ob diese sicher gut gemeinte, recht pragmatische, aber auch etwas blauäugige Zielsetzung (die meiner Überzeugung nach biblische Prinzipien eindeutig ignoriert) das geistliche Klima in Deutschland wirklich positiv verändern kann, scheint eher unwahrscheinlich.
Eine Rolle rückwärts?
Während vor fast 500 Jahren die Nonnen und Mönche aus katholischen Klöstern in die evangelische Freiheit flüchteten, werden heute die Evangelikalen ermutigt, den umgekehrten Weg einzuschlagen und Gottesbegegnungen in der Stille katholischer Klöster und Einkehrhäuser zu suchen. Eine Rolle rückwärts in die Mystik und in die sinnliche „Gotteserfahrung“? Die meisten bekannten evangelikalen Verlage haben fleißig vorgearbeitet. Wer alle Bücher zum „Jahr der Stille“ lesen möchte, wird bis zum Jahresende wohl kaum zur Ruhe kommen. „Stille-Hörbücher“, jede Menge CDs mit meditativen Themen- und „Anbetungsliedern“, Mini-Bücher mit Schlüsselanhängern usw. Etwas peinlich mutet es an, wenn ein „Raum der Stille“, zusammenklappbar mit Kerze und Kreuz als „Holzkästchen“ für € 29,95 angeboten wird – als „Bastelset“ sogar nur für € 10,-! „Christliche“ Ohrstöpsel für das „Jahr der Stille“ bleiben bis jetzt allerdings noch eine Marktlücke. Unter der Vielzahl der Neuerscheinungen oder Neuauflagen zum Thema sind durchaus auch solche, die wertvoll und wirklich lesenswert sind. Aber ebenso werden auch mehr als fragwürdige Autoren wie Brian McLaren und Anselm Grün empfohlen, die das Sühneopfer Jesus Christi am Kreuz in Frage stellen, bzw. ablehnen und die Wunder der Bibel mehr oder weniger nur als Bilder oder Mythen sehen, die psychoanalytisch zu entschlüsseln sind und – wie Anselm Grün – eine „Spiritualität von unten“ propagieren. Auch Kerstin Hack ist dabei (Verlegerin und Autorin) mit ihren Neuerscheinungen „Die Hütte und ich“ und „In seiner Hütte“. Begeistert von dem esoterisch geprägten Bestseller „Die Hütte“ bietet sie sich als Rednerin für eine „Die Hütte Impulstour“ in den kommenden Wochen an und empfiehlt im „Ideenheft Jahr der Stille“ esoterische Rituale und „Stilleübungen“ (1).
Meditativer Tanz und Stilleübungen
Die Exerzitien-Leiterin einer evangelischen Kommunität macht Reklame für „meditativen oder sakralen Tanz“ und argumentiert: „Äußere Impulse von Musik und Rhythmus sollen die Hinwendung zu Gott bewirken oder unterstützen. Der Körper drückt dann in seiner Sprache aus, was der Mensch gerne mitteilen möchte ...“ (2) Dr. Manfred Gerlach, „Pfarrer für Meditation und geistliches Leben“ der Ev. Kirche gibt ausführliche Anweisungen und Impulse die helfen sollen, „sich dem Geheimnis der Gegenwart Gottes zu öffnen“. Er empfiehlt u.a.: „Bevor Sie sich auf ihren Platz niederlassen, beginnen Sie in den Knien zu wippen, zunächst langsam und dann immer heftiger, bis der ganze Körper in eine Schüttelbewegung kommt. Streifen Sie mit den Händen den Körper ab und hauchen Sie alle verbrauchte Luft aus. Führen Sie die Handflächen vor der Brust zusammen und verneigen Sie sich vor dem Geheimnis der Gegenwart Gottes ...“ (3) Muslimische Sufis und Derwische, sowie Hindus und Buddhisten werden erstaunt und erfreut sein, dass ihre uralten Praktiken nun auch von der Christenheit adaptiert und eingeübt werden. Auch das „Herzensgebet“ empfiehlt der gleiche Autor für Pilger, die alleine oder gruppenweise unterwegs sind: „In der ständigen Wiederholung eines kurzen Gebetswortes, z.B. des Herzensgebetes ´Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner´ oder Bibelworte beim Gehen, in dem es nicht um ein Nachdenken geht, rutscht das Gebetswort vielleicht vom Kopf ins Herz, das heißt in die Mitte der Person und wirkt dort reinigend, klärend, ermutigend und tröstend.“ (4) Hier scheint der Pfarrer zu suggerieren, dass laufend wiederholte Gebete und Bibelworte unter Ausschaltung bewussten Nachdenkens – ähnlich wie bei einem Mantra - eine geheimnisvolle Kraft auf Geist und Seele ausüben.
Meditation und „Hörendes Gebet“
Bruder Paulus, ein Kapuzinermönch aus dem Kloster „Käppele“, gibt seine Erfahrungen mit der Meditation weiter: „In der Meditation versenke ich mich in das Wesen meines geliebten Gegenübers – meines Gottes. Seine Gegenwart genieße ich, wenn ich einfach da bin und immer wieder beim Einatmen bete: Von dir zu mir. Und beim Ausatmen: Von mir zu dir.“ Und zum Thema „Schweigen“ meint er: „Schweigen gibt mir Gelegenheit, auf meine innere Stimme zu hören.“ (5) Hermann Rhode, Mitarbeiter von „Campus für Christus“, zeigt praktische Schritte für „Hörendes Gebet“ 6 und Pfarrerin Astrid Eichler schreibt in „Aufatmen – Sonderheft Stille 2010“ unter der Überschrift „Wenn die Ohren des Herzens taub geworden sind“: „Jesus Christus ist das Wort Gottes! In Jesus Christus hat Gott zu uns geredet – und in Jesus Christus redet er auch heute zu uns. Dass wir das Buch des Herrn nur nicht mit dem Herrn des Buches verwechseln! Dass wir das Buch des Herrn nur nicht einsperren zwischen Buchdeckeln und meinen, für alle Zeiten zu wissen, was er geredet hat! Nein, natürlich wird er uns heute nichts sagen, womit er sich selbst in seinem Wort widerspricht. Aber es geht doch darum, dass wir Gott heute und jetzt in unser Leben hinein reden hören – mitten in unseren Alltag.“ (7) Diese Aussagen sind zumindest sehr missverständlich. Glaubt Astrid Eichler, dass Gott heute noch neue Offenbarungen gibt, wie es z.B. in der „Prophetenbewegung“ behauptet wird? Kann man Jesus Christus von seinem Wort trennen? Was bedeutet es, dass unser Herr Jesus Christus „das Wort Gottes“ ist (Offb 19,13)?
An Jesus glauben – aber nicht an sein Wort ?
Man hört immer öfter Sätze wie diesen: „Ich glaube nicht an die Bibel, sondern an Jesus Christus!“ Ein bekannter evangelikaler Redner und Autor provozierte im letzten Jahr seine Zuhörer während einer Konferenz mit den Worten: „Wer an die Bibel glaubt ist ein Götzendiener!“ Möglicherweise hat dieser Bruder die Schwere seiner Aussage nicht bedacht und wollte „nur“ deutlich machen, dass man nicht an ein Buch, sondern an den Sohn Gottes glauben soll. Aber solche Gedanken und Aussprüche sind problematisch und können zu gefährlichen Schlussfolgerungen führen, wenn man in diesem Zusammenhang nicht deutlich erklärt, was man unter „an die Bibel glauben“ versteht – vergleiche Joh 5,24; 7,38; 5,39. Luther, der in der Auseinandersetzung mit Thomas Münzer und den „Zwickauer Propheten“ auf ähnliche Argumente eingehen musste, schrieb damals deutliche Worte: „Diejenigen, welche Offenbarungen und Träume im Mund führen und suchen, sind Gottes Verächter, da sie mit seinem Wort nicht zufrieden sind. Ich erwarte in geistlichen Dingen weder eine Offenbarung noch Träume; ich habe das klare Wort; deshalb mahnt Paulus (Gal 1,8), man solle sich dranhängen, auch wenn ein Engel vom Himmel anders lehrte.“ (8) Luther in seiner drastischen Sprache warnte deutlich vor diesen mystischen Geistern: „Deshalb mahne ich euch vor solchen verderblichen Geistern – die sagen, ein Mensch empfängt den Heiligen Geist durch stilles Sitzen in der Ecke – auf der Hut zu sein. Hunderttausend Teufel wird er empfangen und nicht zu Gott kommen.“ (9) Das Fundament unseres Glaubens besteht nicht in Eindrücken, Träumen, Erfahrungen und Gefühlen, sondern in den Verheißungen und Anweisungen Gottes, die er uns in seinem schriftlichen Testament hinterlassen hat und auf die wir uns verlassen sollen und können.
Ein Letztes ...
Unser Herr Jesus Christus hat einmal die Juden seiner Zeit mit Kindern verglichen, die miteinander spielen. Einer von ihnen, der den Ton angibt, flötet – und die zuschauenden Kinder reagieren darauf mit Tanzen. Nachdem sie ein Weile getanzt haben, verzieht der Anführer sein Gesicht und fängt an, jämmerlich zu heulen, worauf die Kinder ebenso mit verstellten Stimmen zu weinen beginnen (Lk 7,31-32). Manchmal hat man den Eindruck, dass es heute nicht viel anders ist. Da flötet einer oder einige in Holzgerlingen, Wetzlar, Witten oder anderswo: „Jahr der Bibel“ und die Evangelikalen reagieren gehorsamst und öffnen ihre Augen für das Wort Gottes. Jahre später lautet das Motto: „Jahr der Stille!“ – und man zieht ein mehr oder weniger meditativ-träumerisches Gesicht und schließt die Augen. Wirkliche Stille vor dem Herrn und vor seinem Wort haben wir alle dringend nötig, um im Stimmengewirr der Welt und in der Meinungsvielfalt der Evangelikalen Kurs halten zu können. Doch Aktionen und Programme werden uns wohl kaum in die Gegenwart Gottes führen. „Brüder, werdet nicht Kinder im Verständnis ...“ mahnte Paulus die Korinther (1Kor 14,20) und gibt im gleichen Kapitel einige Verse weiter den Schwestern ein Anweisung, über die es sich vielleicht lohnt, im „Jahr der Stille 2010“ auch einmal zu meditieren ...
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