Er ist durch und durch ein Skeptiker, dieser geistvolle junge Mann von zartem Körperbau, mit rundem, rosigen Gesicht, lachenden braunen Augen und einem dichten Schopf von kastanienbraunem Haar. In seinem Unglauben liegt etwas Trotziges. Er ist der Sohn eines Congregationalisten-Pastors in Massachusetts, der insgeheim die Hoffnung hegt, daß sein hochintelligenter Junge eines Tages in seine Fußstapfen tritt. Aber der Sohn weiß es besser als sein Vater. In der Schule und an der Universität hat er sich ohne Schwierigkeiten durchgesetzt. Seine Lehrer staunen darüber, mit welcher Leichtigkeit er seine Triumphe erringt. Bei jeder Prüfung und jedem Wettstreit ist Adoniram Judson der erste, seinen Mitschülern weit überlegen. Seine phantastischen Erfolge haben in ihm ein stolzes und alles überragendes Selbstbewußtsein geweckt. Die Siege, die seine verblüffende intellektuelle Begabung auch in Zukunft feiern wird, regen seine Phantasie zu den aufregendsten Träumen an. Das war 1803, und in diesem Jahr hatte die hektische und erstaunliche geistige Bewegung von Tom Paine gerade ihren Höhepunkt erreicht, Auf jedem akademischen Lehrstuhl hielt man es für richtig, das Christentum lächerlich zu machen. Es heißt, daß damals in Yale jeder Student ein überzeugter Atheist war. Die Studenten nahmen sogar nach ihrem Examen die Namen von großen französischen und englischen Atheisten an und ließen sich mit Vorliebe mit diesen Namen anreden. Der stolze Geist Judsons wurde rasch von dieser Krankheit angesteckt. Im Providence College war in der Klasse über ihm ein junger Mann mit Namen E. Er war ein seltenes Genie, eine liebenswerte Persönlichkeit und hatte einen sprühenden Geist und hohe Bildung. Er fühlte sich mächtig zu Judson hingezogen, und dieser war durch die Freundschaft mit E. fasziniert und geschmeichelt. Dieser ältere Student war jedoch einer der führenden Köpfe der neuen Weltanschauung, und durch den Umgang mit ihm und sein Vertrauen öffnete sich Judson immer mehr einem kühnen und aggressiven Unglauben.
DIE BEKEHRUNG
In dieser Zeit scheinen die Träume seines Vaters, aus ihm eines Tages einen Pastor zu machen, in weite Ferne gerückt. Der skeptische junge Student beschließt, eine Reise zu Pferd durch die Nordstaaten der USA zu machen, Gegen Abend sucht er in einem Gasthaus am Weg nach einem Quartier. Der Wirt erklärt unter vielen Entschuldigungen, daß das einzige Zimmer, das er noch anbieten könne, an eine kleine Wohnung angrenze, in der ein junger Mann schwer krank darniederliege und vielleicht bald sterben müsse. Judson versichert dem Gastwirt, daß ihm das überhaupt nichts ausmache. Der Tod, so sagt er, bedeute ihm nichts, und außer daß er ein wenig Mitleid mit dem unglücklichen Kranken habe, werde ihn dieser Umstand in keiner Weise stören. Die Trennwand zwischen den zwei Zimmern erweist sich jedoch als furchtbar dünn. In der Stille der Nacht liegt Judson wach und hört das Stöhnen des sterbenden Mannes, ein Stöhnen voller Angst, und wie er sich einbildet, manchmal voller Verzweiflung. Dieses Seufzen dreht ihm das Herz um und erschüttert ihn zutiefst. Aber dann reißt er sich wieder zusammen. Was würden wohl seine Kommilitonen sagen, wenn sie von seiner Schwachheit erfahren würden? Und vor allem, was würde der hochintelligente, geistsprühende E. dazu sagen? Wie könnte er nach diesen schmählichen Gefühlen E. überhaupt wieder unter die Augen treten? Aber alle diese Überlegungen nützen nichts. Das herzzerreißende Stöhnen aus dem Nachbarzimmer hört nicht auf, und obwohl Judson sich die Decke über den Kopf zieht, hört er alles mit und erschaudert bis ins Innerste! Endlich jedoch wird alles still. Im Morgengrauen steht er auf, sucht den Gastwirt und fragt nach seinem Zimmernachbarn. "Ja, der ist tot!" sagt der Wirt kurz und bündig. "Tot?!" erwidert Judson. "Wer war das denn eigentlich?" "Ach", erklärt der Wirt fast gelangweilt, "so ein Student vom Providence College, eigentlich ein sehr netter Kerl, er hieß, glaube ich, E." Judson steht da wie vom Donner gerührt. Er spürt, daß er die geplante Reise nicht fortsetzen kann. Er kehrt um und reitet zurück zu seinem Elternhaus, schüttet seinem Vater und seiner Mutter das Herz aus und bittet sie, ihm zu einem Glauben zu verhelfen, der in den Prüfungen des Lebens und im Tod, in Zeit und Ewigkeit standhält. Den Kopf voll mit all den Worten und Ratschlägen, die ihm seine Eltern mitgeben, zieht er sich in die Stille von Andover zurück. Dort, wo ihn nichts ablenken kann von den lebenswichtigen Fragen, die ihm auf der Seele brennen, liefert er sich feierlich Gott aus. Er spürt ohne den geringsten Schatten eines Zweifels, daß er eine neue Kreatur in Jesus Christus geworden ist. Dann kehrt er nach Hause zurück, und alle freuen sich, als er ihnen von seiner großen Entscheidung erzählt. In dem Jahr, in dem er volljährig wird, schließt er sich der Gemeinde seines Vaters an. In diesen denkwürdigen Tagen der Krise und Hingabe an Gott hat sich ein überwältigender Gedanke in seinem Geist festgesetzt und läßt ihn nicht mehr los: Die Liebe Christi! Die Liebe, die ihn in der Zeit seines arroganten Stolzes und seines selbstsüchtigen Ehrgeizes nicht hinausgestoßen, die sich nicht von ihm zurückgezogen hatte wegen seiner Widerspenstigkeit, ihn auch nicht fallen gelassen hatte in seinem schreienden und übermütigen Unglauben, die Liebe, die ihm überallhin gefolgt war und die ihn nie verlassen würde!
DER RUF IN DIE MISSION
"Die Höhe und die Tiefe der Liebe Christi" -Judson wußte wohl etwas von den Tiefen, aus denen sie retten, und von den Höhen, zu denen sie einen Menschen emporheben konnte. Aber "die Länge und Breite der Liebe Christi", das war für ihn noch kein Begriff. Die Länge und Breite! Das schien doch die ganze weite Welt zu umfassen. Und doch wußte die Welt nichts davon! Dieser Gedanke setzte sich so tief in ihm fest, daß er an nichts anderes mehr denken konnte. Er wurde verfolgt von Visionen, daß ganze Völker in der Finsternis sterben müßten. Er schreckte nachts aus dem Schlaf hoch bei dem Gedanken an Indien, Afrika oder China. Diese Situation belastete ihn so sehr, daß er nicht mehr weiter studieren konnte. Und dann kam ein Tag, den er sein Leben lang nicht mehr vergaß. Als er einen einsamen Waldspaziergang machte, schien es ihm, als ob der Heiland selbst sich ihm näherte und sagte: "Geh hin in alle Welt und predige das Evangelium aller Kreatur!" Von nun an war sein Kurs klar! Ganz egal, welche Stürme toben und welche Hindernissesich ihm in den Weg stellen sollten, er mußte gehen! Aber wie? Damals gab es noch keine Missionsgesellschaft, an die er sich hätte wenden können. Er besprach die Sache mit seinen Kommilitonen , bis ein halbes Dutzend von ihnen genauso eifrig wie er darauf erpicht war, einen solchen Dienst zu beginnen. Gemeinsam richteten sie einen Antrag an die Leiter ihrer Gemeinden. Diese waren ratlos und wußten nichts anderes, als die Sache der Kirchenleitung vorzulegen. Zur Überraschung aller Beteiligten kam einiges Geld aus Spenden zusammen, und die neugegründete Gesellschaft war bald in der Lage, die Gruppe von Missionaren auszurüsten und jeden Mann mit einem Jahresgehalt im voraus auszusenden. Bevor Judson sein Heimatland verließ, heiratete er noch. Er und seine junge Frau segelten am 18. Februar 1812 in Salem ab, und vier Monate später wurden sie in Kalkutta von William Carey begrüßt. Nach einem kurzen Aufenthalt fuhren sie weiter nach Burma, und im Juli 1813 erreichten sie Rangoon.
ALS MISSIONAR IN BURMA
Ihr erstes gemeinsames Zuhause war eine roh gezimmerte Hütte in einem Sumpfgebiet außerhalb der Stadtmauern. Wilde Tiere schlichen darum herum. Links davon, ganz in der Nähe, war die Grube, in die aller Abfall aus der Stadt gekippt wurde; und rechts davon war die Stelle, wo die Einwohner ihre Toten verbrannten. Judson und seiner Frau wurde beinahe schlecht bei diesem ekligen Anblick und Gestank. Als sie ankamen, war die arme Frau Judson so krank, daß sie nicht einmal gehen oder reiten konnte. So mußte sie in ihr nicht gerade einladendes Haus getragen werden. Und doch murrten sie nicht und waren nicht unzufrieden. Beide lächelten über die primitiven Wohnbedingungen, mit denen sie sich abfinden mußten, und mit tapferem Herzen versprachen sie feierlich, ihr ganzes Leben bei diesen barbarischen und unfreundlichen Menschen zu verbringen. Und sie hielten Wort, obwohl der Preis, den sie dafür zahlen mußten, manchmal so entsetzlich hoch war, daß man es kaum in Worten ausdrücken kann. Einmal sehen wir Adoniram Judson, fast zum Skelett abgemagert und mit Ketten gebunden, wie er durch die glühend heiße Wüste geschleppt wird, bis sein Rücken unter den Schlägen der Peitsche blutet und seine Füße zerschunden sind vom heißen Sand. Zu Tode erschöpft bricht er zusammen und betet, doch durch einen schnellen Tod erlöst zu werden. Ein andermal ist er fast zwei Jahre lang in einer feuchten und stinkenden Höhle eingesperrt. Seine Gefangenschaft wird noch verschlimmert durch alle möglichen Qualen, die sich seine barbarischen, brutalen Peiniger nur ausdenken können. Unter diesen furchtbaren Qualen wäre er zweifellos innerlich und äußerlich zusammengebrochen, wenn seine Frau nicht jeden Tag, oft im Schutze der Dunkelheit, zum Eingang der schrecklichen Höhle geschlichen wäre und ihm zu essen gebracht hätte. Drei Wochen allerdings blieb sie einmal dem Gefängnis fern, aber als sie dann wiederkam, hielt sie ein kleines Kind im Armund konnte damit ihre Pflichtvergessenheit erklären. Kurz danach wurde das letzte bißchen an Komfort aus dem Missionarshaus herausgeholt. Jetzt blieb Frau Judson nicht einmal mehr ein Stuhl oder Hocker übrig. Dazu kam noch, daß Mary, ihr älteres Kind, an Pocken erkrankte. Unter dieser schrecklichen Belastung war die arme Mutter nicht mehr fähig, ihr kleines Kind zu stillen, und sein erbärmliches Schreien vergrößerte nur noch ihre Angst. In purer Verzweiflung besticht sie die Gefängniswärter, daß sie ihren Mann doch wenigstens für eine oder zwei Stunden freilassen. Und während sie sich um das kranke Kind kümmert, das sich im Fieber der gefürchteten Krankheit hin- und herwirft, trägt der Vater das Baby ins Eingeborenendorf und bittet die stillenden Mütter dort, sich doch zu erbarmen und das Kind zu ernähren. Die Krise geht vorüber; aber bald schon folgen andere. Es wird mitgeteilt, daß Judsons Gefangenschaft ein Ende haben soll. Er soll hingerichtet werden. Das genaue Datum und die Uhrzeit wird verkündet, und er und seine Frau bereiten sich auf ihren tragischen Abschied vor. Doch in der Zwischenzeit wird er heimlich fortgebracht, und seine verstörte Frau hat nicht die leiseste Ahnung, was aus ihm geworden ist. In einem der traurigsten und erschütterndsten Berichte in der Geschichte der christlichen Mission wird beschrieben, wie Judson schließlich zu seiner schwergeprüften Familie zurückkehrt. Er selbst ist mit Narben überzogen, zum Krüppel geworden und ausgemergelt von einem langen Leiden. Seine Frau ist so erschöpft und verhärmt, daß er sie kaum wiedererkennt. Alle ihre glänzenden schwarzen Locken sind ihr bis auf die Kopfhaut abgeschnitten worden. Sie ist nur noch mit Lumpen bekleidet, das einzige, was man ihr zum Anziehen gelassen hat. Um sie herum spricht alles von unsäglichem Jammer und Elend. Noch vor Ende seines vierzehnten Jahres in Burma mußte Judson seine Frau und alle seine Kinder dort begraben. Und dennoch, selbst in diesem unvorstellbaren Leiden zweifelt er nie auch nur einen Augenblick an der Wirklichkeit und dem Reichtum der Liebe Christi.
DIE SAAT GEHT AUF
Aber neben den Schmerzen gab es auch Freuden. Es war ein großer und herrlicher Tag, an dem Judson nach sechs langen Jahren eifriger Arbeit den ersten Burmesen zu Christus führen durfte. Er vergaß nie, was für ein Gefühl es war, als er und seine Frau das Abendmahl zusammen mit einem Einheimischen feierten, der das Wunder der Liebe Christi erkannt hatte, und dadurch tiefgreifend verändert worden war. An jenem Tag setzte sich Judson zwei hohe Ziele. Er betete darum, daß er noch so lange leben möchte, bis er die ganze Bibel in die Landessprache übersetzt hätte, und daß er eine Eingeborenengemeinde leiten könnte, die mindestens hundert Mitglieder zählen sollte. Und beide Ziele durfte er erreichen. Er übersetzte nicht nur die Bibel vollständig ins Burmanische, sondern schrieb auch zusätzlich viele gute Traktate in der Landessprache. Und noch bevor er zwanzig Jahre in Burma verbracht hatte, konnte er seinen hundertsten Christen dort taufen. Nach mehr als 30 Jahren besuchte er zum ersten Mal wieder sein Heimatland. "Denkt viel über die Liebe Christi nach!" Das war der Grundton seines ganzen Lebens. Nach seiner Amerikareise kehrte er in sein geliebtes Burma zurück, aber er war nicht mehr der alte. Seine Gesundheit war angeschlagen, seine Kraft verbraucht. Es war offensichtlich, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Aber in einer Hinsicht blieb er unverändert. Er predigte noch öfter, mit noch größerer Leidenschaft und Freude, von der Liebe seines Herrn, die noch größer war als der Tod. Sein Biograph fügt hinzu: "Wenn irgend etwas sein Bewußtsein trübte und ihm seine Freude an der Liebe Christi nehmen wollte, ging er in den Dschungel und lebte dort eine Zeitlang völlig zurückgezogen, bis er wieder den starken Trost des Glaubens empfand."
HEIMGANG
Er starb auf hoher See. Im Verlauf seiner letzten Reise, die er wegen seiner schwachen Gesundheit unternahm, schnitt er immer wieder sein Lieblingsthema an. Thomas Tanney, der ihn begleitete, erzählt, daß Judson immer wieder den einen Bibelvers wiederholte: "Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr euch untereinander lieben." "Wie ich euch geliebt habe", rief er dann aus, "genauso wie ich euch geliebt habe!" Und dann rief er voller Begeisterung: "Ach, die Liebe Christi, die Liebe Christi!" Später, als er in seiner Kajüte liegen mußte, sprach er von nichts anderem mehr. "Ach, die Liebe Christi, die Liebe Christi!" murmelte er oft vor sich hin. Seine Augen waren dabei noch voller Begeisterung, und Tränen liefen ihm über die Wangen. "Die Liebe Christi, ihre Breite und Länge und Tiefe und Höhe, wir können sie hier nicht begreifen, aber wir haben ja die ganze Ewigkeit, um sie zu studieren!" Auch noch, als er nicht mehr sprechen konnte, formten seine Lippen die vertrauten Worte: "Die Liebe Christi, die Liebe Christi!" Ein paar Tage bevor er starb, sprach er mit offensichtlicher Freude darüber, daß er auf offener See begraben werden würde. Er sagte, das gebe ihm das Gefühl der Freiheit und der Weite, ein angenehmer Gegensatz zu den dunklen und engen Gräbern, in die er so viele der Menschen, die er liebgehabt hatte, legen mußte. Der riesige blaue Ozean, in den ein oder zwei Tage später sein Leichnam hinabgesenkt wurde, schien ihm in seiner sterbenden Phantasie wie ein Symbol für die unergründliche und grenzenlose Liebe seines Heilandes, für die Liebe, die alles Verstehen übersteigt, die weder Maß noch Ziel kennt und keine Schranken oder Grenzen hat. In Malden, einem Ort in Massachusets, findet man eine bescheidene Marmortafel, auf der folgendes steht:
Zum Gedenken an Rev. Adoniram Judson geboren am 9.August 1788 gestorben am 12.April 1850. Malden war sein Geburtsort, der Ozean sein Grab: Burmanische Gläubige und die burmanische Bibel sind sein Denkmal. Sein Name ist im Himmel angeschrieben.
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