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Autor: Wolfgang Bühne
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Erfahrungen einer Gefängnisevangelisalion

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Die Verhältnisse im Gefängnis scheinen einfach optimal zu sein - sicher nicht für die Gefan­genen, aber in den meisten Fällen für diejeni­gen, die dort das Evangelium weitersagen möchten.

Hier stimmen die Proportionen. Nicht wie in vielen Evangelisationen, die zu 90% von Insidern besucht werden. Nein, hier sind unter 100 Zu­hörern vielleicht fünf, die sich für Christ en halten.

Hier stimmt auch die Atmosphäre: Es darf ge­lacht und geweint werden, es wird gepfiffen und geklatscht. Zustimmung und Ablehnung werden machmal erschreckend pietätlos geäu­ßert. Langeweile gibt es jedenfalls hier nicht. Entweder die Christen gestalten das Programm und die Jungens hören zu, oder aber - wenn den ersteren das Wort im Hals stecken bleibt - die Gefangenen gestalten das Programm und dann bekommt man die weniger angenehme Kehrseite der anwesenden Proportionen zu spüren!

Aber das Schönste: Hier im Knast hat jeder Zeit, keiner schaut auf die Uhr, es sei denn, daß man bedauert, wieder "auf Hütte" gehen zu müssen.

Dann die Lesefreudigkeit! Zwar weiß man nicht immer genau, ob die wie warme Semmeln gie­rig gegriffenen Bücher und Schriften wirklich auch so eifrig gelesen, oder aber als Zigaret­tenpapier oder "Schorre" (Tauschobjekte) zweckentfremdet werden. Kurzum: Im Knast geht es rauh und manchmal auch herzlich zu, und in diesem Klima halten sich Scheinheilige nicht über einen längeren Zeitraum. Auch Christen, die "Kamine" machen, müssen sich schon mächtig anstrengen, um Haltung und Maske zu wahren.

Hier in Siegburg also, dem größten und be­kanntesten Jugendgefängnis Deutschlands, wurde im November '89 eine Evangelisation durchge­führt. Fünf Tage lang konnten wir unter dem Motto "Knacki - das war ich mal" mit Lied, Zeugnis und Verkündigung Den bezeugen, Der uns erlöst und befreit hat - Jesus Christus! Welch eine herrliche Botschaft vor diesem Publikum.

Wir - das ist zuerst einmal die Gefährdeten­hilfe Hückeswagen mit ihren vielen Mitarbei­tern, die schon seit vielen Jahren mit großer Treue und Beständigkeit in diesem Gefängnis arbeitet; das sind die Gefängnisseelsorger He­beler und Bornemann, die uns eingeladen haben; das ist die Familie Wedel, die ihr musikalisches Talent einsetzt, um das Rahmenprogramm zu gestalten; das sind einige weitere Geschwister, die ihre Aufgabe in der Betreuung von Gefan­genen sehen und schließlich darf ich dazu ge­hören mit der Aufgabe, jeden Abend mit schlotternden Knien, die man glücklicherweise hinter einem Pult verstecken kann, eine evan­gelistische Botschaft zu halten.

Nun, das von Hans Eichbladt vorgeschlagene Thema "Knacki - das war ich mal" macht es leicht, biblische Themen für die Abende zu finden, denn "Knackis" gibt es auch in der Bibel reichlich.

Aber nun möchte ich versuchen, der Reihe nach den Ablauf eines Einsatztages zu schildern:

Um 15.00 Uhr steigen etwa 15-30 Mitarbeiter aus den Autos, die sich mit Büchern, belegten Brötchen, Kaffeekannen und Salattellern bela­den vor der Pforte sammeln. Unter den Mitar­beitern sind Jugendliche wie Debora mit 15 Jahren und etwas ältere wie Berti mit über 70 Jahren. Alle aber mit dem brennenden Wunsch im Herzen, die erfahrene Liebe Gottes in das Gefängnis hineinzutragen und das Licht des Evangeliums dort aufleuchten zu lassen.

Hans, eines Hauptes höher als das übrige Volk, geht mit seinem Schlachtruf "Lobe den Herrn" voran, sorgt dafür, daß alle Mitarbeiter an der Pforte ihre Ausweise abgeben, gezählt werden und geduldig vor den verschlossenen Türen warten, bis einer der beiden Pfarrer kommt und wir ihm durch zahlreiche Türen, Flure und über Treppen folgen, bis der Schlüssel mit dem typischen Krachen endlich die letzte Tür zum riesigen Kirchensaal öffnet, der mal wieder nicht geheizt ist.

Nachdem alle Utensilien abgelegt worden sind und man sich ein wenig warm gelaufen hat, werden die letzten Instruktionen gegeben, es wird gemeinsam gebetet und dann wird eine Tür am anderen Ende des Saales geöffnet, durch die jetzt nach und nach einzelne Gefangene kommen. Knapp zwei Stunden haben wir Zeit, um Einzelgespräche mit ihnen zu führen. Der Einsatz beginnt also nicht mit der Verkündigung, sondern mit Einzelgesprächen solcher Männer, die sich am Vortag in eine Liste für Gespräche eingetragen haben. Zu diesen Einzelgesprächen kommen pro Nach­mittag zwischen 18 und 45 junge Männer, die nun die Möglichkeit haben, sich ausführlich mit den anwesenden Mitarbeitern zu unterhalten.

Natürlich kommen nicht alle, um geistliche Probleme zu besprechen. Sicher sind viele da­bei, die einfach nur einmal aus ihrer Zelle heraus möchten, um ein Gespräch mit Men­schen von "draußen" zu führen, oder um ein paar Mädchengesichter zu sehen. Und doch entwickeln sich Gespräche, in denen es letzten Endes um Gebundenheiten und persönliche Nöte, um Schuld und Vergebung geht. Oft sieht man, wie in den Bänken lebhafte Gespräche geführt werden, oder auch miteinander gebetet wird. Es kommt auch vor, daß ein solches Gespräch schon nach wenigen Minuten zu Ende ist, aber in den meisten Fällen freuen sich die Jungen, daß Leute gekommen sind, die ihnen zuhören können und etwas Mitgefühl mitgebracht haben.

Nach etwa zwei Stunden müssen die Gefange­nen dann wieder zum Abendessen auf ihre Zelle und wir haben Zeit, uns ebenfalls leiblich zu stärken. Inzwischen sind auch die Wedels ein­get rof fen, die ihre Musikinstrumente stimmen und die Verstärkeranlage testen, und bald wird es wieder lebendig. Etwa 50-80 Gefangene kommen laut schwatzend in den Saal. Oft abenteuerliche Gesichter. Viele im Unterhemd, um ihre Muskeln und Tätowierungen zur Schau zu stellen, fast alle aber mit einem grinsenden Gemisch von Verlegenheit, Skepsis, Neugierde und Erwartung auf den Gesichtszügen, das je­doch von Tag zu Tag geringer wird und einer echten Offenheit und Herzlichkeit Platz macht.

Nach der Begrüßung durch den Pfarrer zeigt zunächst einmal die Familie Wedel ihr Können. Sie singen, begleitet von Klavier, Gitarren, Akkordeon, Geige und anderen Instrumenten ihre frisch-fröhlichen und doch gehaltvollen Lieder, die bei den Gefangenen sehr gut an­kommen und mit Beifall quittiert werden. Zwischen den Liedern werden Bücher vorge­stellt, die am Schluß der Veranstaltung ko­stenlos mitgenommen werden können, und an jedem Abend erzählt einer, der auch einmal Knacki war, die Geschichte seiner Bekehrung. Manchmal wird es dann ganz still unter den Zuhörern, die sich ansonsten immer ein wenig unterhalten, und man spürt die Betroffenheit. Schließlich kommt dann die Verkündigung, etwa 20 Minuten lang. Viele der Mitarbeiter beten, und es ist gut zu wissen, daß an machen Orten Geschwister jetzt die Hände falten, um für uns zu beten. So fällt dann alle Sorge und Angst weg, und der Herr schenkt Freude und Kraft zum Reden.

Eigentlich ist eine evangelistische Botschaft im Knast viel leichter zu halten, als in einer üb­lichen Evangelisation. Man kann viel ungezwun­gener sprechen, weil man keine Rücksicht auf Bildung oder Ästhetik nehmen muß. Die Zuhö­rer gehen mit, sie reagieren oft spontan, so daß man nicht vor eine Wand predigt, und nicht selten kommen Zwischenrufe, die eine solche Evangelisation spannend halten. Dennoch ist es jedesmal ein Wunder, wenn der Herr Mi­nuten schenkt, wo es total ruhig wird und man spürt, daß der Geist Gottes wirkt.

Etwas verwirrend ist, daß auch nach der Ver­kündigung geklatscht wird. Zuerst fragt man sich, ob man falsch verstanden worden ist, aber mit der Zeit merkt man, daß es sich hier nicht um Beifall für eine Show handelt, son­dern, daß auf diese Weise signalisiert wird: Wir haben dich verstanden! Nach einem besinnlichen Schlußlied der Familie Wedel betet noch einer der Mitarbeiter, und dann haben die jungen Männer Gelegenheit, sich am Ausgang in die Listen für die Einzelgespräche am nächsten Nachmittag einzutragen. Man hat noch einige Minuten Zeit, um mit einzelnen Gefangenen ein paar Worte zu wechseln, aber dann wird es Zeit für sie und auch für uns, den Raum zu verlassen. Wieder werden Türen krachend ge­öffnet und zugeschlossen. Schließlich werden an der Pforte die Ausweise wieder ausgehändigt und nach einem kurzen Austausch und Gebets­gemeinschaft fahren wir müde aber dankbar nach Hause und denken an die Jungen, die nun einsam in ihrer Zelle sitzen. Werden sie die mitgenommenen Bücher lesen? Werden sie endlich anfangen, in ihrer ausweglosen Situ­ation zu Gott zu rufen?

Ziemliche Sorge bereitete uns, daß zur Zeit der Evangelisation die okkulte Welle auch durch dieses Gefängnis rollte. In den Einzelgesprä­chen erfuhren wir von den Praktiken, die auf den Zellen durchgeführt werden: Tischerücken, Gläserrücken, Totenbefragung usw. Einer von denen, die sich offen zum Okkultismus bekann­ten, zeigte mir das Buch von dem bekannten Satanisten Alister Crowley mit dem Titel "Das Buch der Lügen", welches inzwischen durch viele Hände gewandert war. Bei einigen Ge­fangenen spürten wir deutlich den verheerenden Einfluß okkulter Praktiken. Aber wir durften auch erleben, daß einige dieser Männer zum Nachdenken kamen. Einer bekam gleich nach der ersten Abendversammlung eine solche Angst, daß er alle okkulten Gegenstände aus seinem Zimmer entfernte und überall christli­che Bücher und Schriften ausbreitete, um auf diese Weise - wie er meinte - den okkulten Mächten wehren zu können.

Erschreckend auffallend war, daß fast alle Ge­fangenen, mit denen wir sprachen, aus kaput­ten, geschiedenen Ehen kamen. Viele haben nie ein normales Familienleben kennengelernt. Interessant war auch die Beobachtung, daß bei einigen Gefangenen eine tiefe Reue und Ein­sicht über ihre Straftaten vorhanden war, wäh­rend andere völlig kaltblütig zu sein schienen. Einer, der seinen Stiefvater ermordet hatte, erzählte mir, daß er deswegen noch keine schlaflose Nacht hatte und die Tat jederzeit wiederholen würde.

Sehr erfreulich war die große Offenheit. Viele der jungen Männer hatten bisher noch nie eine
Bibel in der Hand gehabt, und manche hörten hier zum ersten Mal in ihrem Leben von Jesus Christus. Einige von ihnen bekannten im Lauf der Tage, ihre Sünden dem Herrn Jesus bekannt und Ihn als Retter und Herrn angenommen zu haben. Die Zeit wird zeigen, ob es nur eine oberflächliche Entscheidung war, oder ob das Wort Gottes wirklich in den Herzen Wurzeln schlagen konnte.

Der letzte Abend war ziemlich bewegend. Ir­gendwie hatte man die Kerle liebgewonnen und beim Abschied haben sich auf beiden Seiten manche nicht ihrer Tränen geschämt. "Wann kommt ihr wieder?", "Ich habe nie geahnt, daß die Sache mit der Bibel und Jesus so interes­sant sein könnte!", "Gut, daß ihr gekommen seid. Ich habe zum ersten Mal über mein Le­ben und meine Zukunft nachgedacht."

An diesem Abend hatten wir den Eindruck -eigentlich müßte die Evangelisation jetzt erst richtig losgehen! Mit Furcht und Zittern hatten wir diese Woche begonnen und jetzt nahmen wir mit etwas wehmütigen Herzen Abschied. Doch die Arbeit geht weiter. Jede Woche fin­den einige Kontaktgruppen statt, die seitdem sehr gut besucht werden und wo nachgearbeitet werden kann.

Sechs Wochen später, am "Heiligen Abend", sahen wir uns wieder. Diesmal war der Teestubenchor der Gefährdetenhilfe mit etwa 70 jungen Leuten dabei. Vormittags konnten wir mit Gesang, Zeugnissen und einer Botschaft davon berichten, daß Gott Mensch wurde, um die Mauer der Schuld zwischen uns und Ihm einzureißen. Fast alle Gefangenen, die über Weihnachten keinen Ausgang hatten, waren anwesend. Nach dieser Veranstaltung wurde in einem der langen Flure ein sagenhaftes kaltes Büffet aufgebaut, zu dem alle Gefangenen eingeladen wurden und wo sie sich nach Herzenslust bedienen konnten. Dabei hatten wir viel Zeit, um miteinander zu sprechen und "alte" Bekanntschaften aufzufrischen.

Wie viele junge Männer dort hinter verschlosse­nen Türen die wirkliche Freiheit in Jesus Chri­stus gefunden haben, weiß Gott allein. Doch für uns war es eine große Ermutigung, wenn Gefangene sagten: "Vielleicht mußte ich in diesen Knast nach Siegburg kommen, weil ich sonst Jesus Christus nie kennengelernt hätte."

Nachtext

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