Zeitschrift-Artikel: Das Wort war bei Gott!

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Titel: Das Wort war bei Gott!
Typ: Artikel
Autor: Christoph Grunwald
Autor (Anmerkung):

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Titel

Das Wort war bei Gott!

Vortext

Text

Das Johannes-Evangelium ist das einzige Evangelium, welches – neben einer Vielzahl von Besonderheiten – ohne eine „formale“ Einleitung beginnt. Die anderen Evangelien führen den Leser teils über eine konkrete Einleitung (Lukas), über ein Geschlechtsregister (Matthäus) oder wenigstens über einen einleitenden Satz (Markus) an den jeweiligen Inhalt heran. Nicht so Johannes. Schon sein erster Satz ist trotz sprachlicher Schlichtheit von immensem Informationsgehalt und theologischer Tiefe:

„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“ (Joh 1,1).

Dieser Vers ist ein fundamentaler Ausgangspunkt für den Rest des Evangeliums. Mit dieser unbeweisbaren Aussage schafft Johannes eine konkrete Grundlage für das, was folgen wird. Er setzt direkt an den Anfang, worum es geht: das Wort, Gott und die Beziehung zwischen beiden.


Drei Aspekte in Joh 1,1

In dem zitierten Vers werden uns drei Aspekte über das Wort mitgeteilt, die den Verlauf und das Thema des Evangeliums entscheidend bestimmen:

Das Wort war im Anfang – ein zeitlicher (oder eben nicht zeitlicher Aspekt); das Wort war bei Gott – ein örtlicher Aspekt; das Wort war Gott – ein wesensmäßiger Aspekt.
Gerade der erste und der letzte Punkt werden im Johannes-Evangelium zwischen Jesus, seinen Jüngern und auch anderen Personen (-gruppen) oft und kontrovers diskutiert. Schon im ersten Kapitel unterstreicht Johannes der Täufer die Bedeutung des ersten Aspektes, in dem er vom Evangelisten gleich dreimal mit den Worten „der n a c h mir kommt, ist v o r mir gewesen …“ zitiert wird (1,15.27.30). Für die Juden sorgte Jesu Behauptung, dass er war, bevor Abraham wurde (a), so sehr für Empörung, dass sie ihn fast steinigten (8,58.59).

Der dritte Aspekt – die Wesensgleichheit des Wortes mit Gott – ist sicher der am stärksten betonte im Johannes-Evangelium und gibt am meisten Anlass zur Ablehnung Jesu (z.B.: Kap 5,17.18; 6,60-66; 7,26-30.43-52, 8,48-59;9,16.33; …). Die Frage, welche die Juden in 8,25 stellen: „Wer bist du?“ – ist die zentrale Frage des Johannes-Evangeliums. Die Antwort
auf diese Frage motivierte Johannes, sein Evangelium zu schreiben (20,31).

Aber auch der zweite Aspekt, der „räumliche“, spielt eine Rolle im Johannes-Evangelium.
Auch dieser Punkt wird im ersten Kapitel mehrfach aufgegriffen (schon im folgenden Vers, sowie 1,18, als auch 3,31; 6,33.41.42; 7,27; …). Die Frage lautet hier: Woher kommt der Christus?


Warum ist das Wort bei Gott?


Johannes bezeugt in seinem ersten Vers, dass das Wort bei Gott war. Aus den weiteren Versen des ersten Kapitels wissen wir, dass das Wort der Sohn Gottes, Jesus Christus, ist. Aber warum wird betont, dass das Wort bei Gott ist?

Ist es überhaupt berechtigt, eine solche Frage zu stellen? Ist es nicht selbstverständlich, dass die zweite Person der Dreieinheit in Gemeinschaft und Einheit mit den anderen Personen der Gottheit ist und dass der Sohn daher zwangsläufig bei Gott sein muss?

Es gibt mindestens zwei Gründe, warum diese Frage gerechtfertigt scheint:

1. Wenn es wirklich selbstverständlich wäre, würde Johannes nicht davon sprechen. Selbstverständliches wird nicht erwähnt. Johannes aber erwähnt es.
2. Daher ist es nicht nur nicht selbstverständlich, sondern offenbar auch wichtig. Es fällt nämlich auf, dass Johannes im zweiten Satz seines Evangeliums genau diese Tatsache wiederholt: „Dieses war im Anfang bei Gott.“ Vers 2 wiederholt den ersten (den zeitlichen) Aspekt und den zweiten (den örtlichen) Aspekt, ohne jedoch eine weitere Information hinzuzufügen – also eine reine Wiederholung von bereits Gesagtem. Auch in Vers 18 hebt Johannes – diesmal in etwas direkterer Form – diesen Aspekt hervor: „… der Sohn, der in des Vaters Schoß ist …“. Johannes gibt also mindestens aufgrund der Wiederholung Anlass, die Frage als berechtigt zu akzeptieren.

Schwieriger wird es mit der Antwort. Ist eine solche Frage überhaupt beantwortbar? Oder trifft hier Erich Sauers Feststellung zu: „Alle endlichen Deutungsversuche seines unendlichen Seins durch den menschlichen Geist sind ewig vergeblich.“? (1)

Im Letzten sicher. Trotzdem können die Bemühungen, Antworten auf diese Fragen zu finden, lohnenswert sein, da sie uns dazu bringen, über Gott selbst nachzudenken. Eine Übung, die uns aus der Falle der Egozentrik zum eigentlichen Inhalt unseres Glaubens erhebt und heute leider immer mehr in den Hintergrund rückt. Im Folgenden der Versuch, einige Antworten zu geben:


Die Notwendigkeit einer Ausgangssituation

Eine Antwort erschließt sich daraus, dass im weiteren Verlauf des Prologs von Johannes dargestellt wird, dass das Wort Mensch wurde und seinen ursprünglichen Zustand verließ. Gerade das zeichnet den Spannungsbogen des Prologs aus – und ist somit also doch eine tatsächliche Einleitung zum Johannes-Evangelium. Er deutet an, dass zwar im übrigen Teil vom Menschen Jesus gesprochen werden kann, aber dennoch überall hervorleuchtet, dass er tatsächlich Gott ist. Der Evangelist erwähnt in den ersten 18 Versen viermal, dass das Wort auf die Welt gekommen ist und Fleisch wurde (9.10.11.14). Um deutlich zu machen, dass das Wort einen tatsächlichen
Ortswechsel vollzog, ist es natürlich notwendig, eine Ausgangssituation zu schildern.
Wenn Johannes also schreibt, dass das Wort bei Gott war, ist dies in erster Linie eine Beschreibung der Ausgangssituation. Somit sind die ersten zwei Verse hinsichtlich des weiteren Verlaufes und der Gesamt-Argumentation immens wichtig.


Eine würdige Alternative?

Eine weitere Antwort lässt sich am besten mit einer Gegenfrage erschließen: Wo sollte das Wort sonst sein? Die Antwort mag schmerzhaft banal klingen – der dahintersteckende Gedanke ist es aber bei weitem nicht! Die Tatsache, dass das Wort bei Gott ist, sagt etwas über Gott aus.

Die Frage „Wo sollte das Wort sonst sein?“ gibt hierfür einen entscheidenden Hinweis. Denn was für uns selbstverständlich klingt, muss nicht selbstverständlich sein:

Gottes Vorzüglichkeit!

Was wäre, wenn das Wort nicht bei Gott wäre? Die Frage scheint vielleicht hypothetisch – wir können uns natürlich nicht vorstellen, dass eine Person, die Gott ist, nicht bei Gott ist. Aber im
eigentlichen Sinne ist dies doch ein Zustand, den wir im Menschsein Jesu vorfinden. Er gipfelte am Kreuz mit der völligen Verlassenheit von Gott (Mt 27,46).

Wenn das Wort nicht bei Gott wäre, bedeutete dies, dass es eine würdige Alternative zu Gott gäbe. Wenn es aber irgendeinen Ort gäbe, an dem das Wort ebenso oder in gesteigertem Maße glücklich wäre, dann gäbe es etwas Gleichwertiges oder Besseres als Gott. In dem Moment, wo Gott selbst eine würdige Alternative neben sich hat, über die er sich ebenso freuen kann, wie über sich selbst, wäre dieser Gegenstand wenigstens gleichwertig oder sogar vorzüglicher (im eigentlichen Wortsinn) als er selbst! Wenn es aber etwas geben würde, was gleichwertig oder vorzüglicher wäre als Gott, dann muss folgen, dass dieses ‚Etwas‘ (in mindestens einer gewichtigen Hinsicht) genauso gut oder besser wäre als Gott – und damit Gott sein muss. (Wir verehren Gott ja als Gott, weil er die letzte Instanz, die absolute Endgültigkeit in allen Dingen ist. Wenn es etwas neben oder über ihm geben würde, das gleichwertig oder besser als er wäre, würden/könnten/müssten wir dieses ‚Etwas‘ berechtigt als Gott anbeten, schließlich wäre dieses ‚Etwas‘ dann ja die letzte Endgültigkeit, der sich auch Gott unterordnen müsste, bzw. die er neben sich akzeptieren müsste!)

Wenn Johannes also schreibt, dass das Wort bei Gott war, unterstreicht er damit indirekt die Vorzüglichkeit der Dreieinigkeit Gottes – es gibt keine Alternative! Dieser Vers ist daher eine Umschreibung der Glückseligkeit des dreieinigen Gottes, der Tatsache, dass er sich an sich selbst
mehr erfreut, als an allen anderen Dingen! John Piper schreibt dazu: „Gott ist das herrlichste aller Wesen. Ihn nicht zu lieben und nicht an ihm seine Freude zu finden ist ein großer Verlust für uns und beleidigt ihn.“ (2) 


Ein Gott-loser Anfang?

Es gibt auch deshalb keine Alternative, weil alles bei Gott beginnen muss. Er ist die Ausgangsbasis und das Zentrum von allem. Das Wort muss daher bei Gott sein, da bei Gott alles entspringt, von Gott alles ausgeht. Wo sollte ein Anfang definiert werden, wenn nicht bei Gott? Auch hier gilt wieder – wenn irgendwo ein Anfang, ein Grund gelegt werden könnte ohne Gott – dann könnte irgendetwas neben Gott existieren, was offenbar mindestens gleichwertig zu Gott wäre.
Ein „Gott-loser“ Anfang kann daher aber laut Gottes Selbstoffenbarung nicht existieren (vgl. z.B. Jes 45,22; 1Tim 6,15; Jud 4) – weil Gott Gott und Ursprung aller Dinge ist (Röm 11,36; 1Kor 8,6;
Offb 1,8)! Das Wort, welches im Anfang war, (das da war als ein Anfang „definiert“ wurde), muss
also auch bei (und gleich!) dem Ursprung des Anfangs sein.

Johannes weist auf diese Zentralität Gottes hin, indem er sein Evangelium mit Gott beginnt. Er geht von Gott aus – er setzt ihn (genauso wie 1Mo 1,1) einfach voraus. Keine Diskussion über
die Herkunft Gottes – er ist einfach da. Gott ist Voraussetzung! (b)


Lektionen für uns?

Liegt hierin vielleicht eine Lektion für uns moderne Christen? Wo ist unser Ausgangspunkt, unsere Startvoraussetzung? Welche Basis legen wir unserem Tun zugrunde? Was leitet uns in unseren Aktivitäten? Ist es Gott – als Start und Ziel, oder sind es andere Dinge? Streben wir danach, dass Gott das Zentrum unseres Lebens, unserer Anbetung und unserer Verkündigung ist,
oder verzichten wir sukzessiv auf die absolute Vorherrschaft Gottes? Gehen wir in unserem Handeln manches Mal von einem „Gott-losen Anfang“ aus?
Aber liegt nicht auch in der vollkommenen Glückseligkeit Gottes selbst eine Lektion für uns? Wenn es keine Alternative gibt, wo das Wort sein könnte – wie kann es dann für uns Alternativen geben? Machen wir nicht täglich im Großen und Kleinen deutlich, dass es für uns doch Dinge gibt, die wir für eine würdige Alternative zu Gott halten? Sehnen wir uns so sehr nach Gott, nach einer engen Gemeinschaft, einem Platz bei und vor dem Höchsten, dass alles andere für uns nichtig wird (vgl. Ps 27,4; 63,2-4; 73,25.28)? Jedes Mal wenn wir einer Sache den Vorzug geben, jedes Mal wenn wir uns über die Gabe mehr freuen als über den Geber, machen wir deutlich, dass wir sehr wohl etwas vorzüglicher oder zumindest genauso gut finden wie Gott. Noch einmal John Piper: „Wir wurden für die Betrachtung Gottes und die Freude an ihm erschaffen. Alles weniger als dies wäre ihm gegenüber Götzendienst und eine Enttäuschung für uns.“ (3)


Der Ort, wo wir sein werden …

Jesus sagt in Joh 17,11: „Vater, ich will, dass die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin …“. Wo ist dieser Ort? Bei Gott! Es ist nicht nur der Ort, wo das Wort im Anfang war, sondern wo auch wir am Ende sein werden! Dort ist der Himmel – nirgendwo sonst.

C.S. Lewis schrieb treffend: „Es lässt sich sogar die Meinung vertreten, dass im Augenblick, wo ‚Himmel‘ nicht mehr die Vereinigung mit Gott und ‚Hölle‘ nicht mehr die Trennung von Ihm bedeutet, der Glaube an beide ein schändlicher Aberglaube ist;“ (4)

Der junge David Brainerd schrieb am 14. Januar 1743 in sein Tagebuch: „Wie die Hölle selbst erschien es mir, worin ich eingeschlossen war. Jegliches Empfinden von Gottes Nähe war mir geraubt […]. Dies war eine Qual, ähnlich der, welche die Verdammten in der Hölle empfinden müssen, und es war schlimmer als alles, was ich bisher erlebte. Ihre Qual wird, da bin ich sicher, zu einem großen Teil darin bestehen, losgelöst zu sein, fern zu sein von Gott und damit von allem Guten.“ (5)

Der Himmel ist der Ort, wo es keine Krankheit, Trauer, Schmerz, aber dafür Friede, Glückseligkeit, ewige Freude gibt. Und er ist das alles, weil dort der Ort der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott ist. Und nur an diesem Ort – in der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott – wird jede Sehnsucht erfüllt, jegliches Glück ungetrübt und alle Freude ewig sein. Es ist nicht die in
diesen einzelnen Qualitäten liegende Schönheit, die den Himmel zum Himmel macht, es ist Gott
als der Quell dieser Qualitäten, der den Himmel himmlisch macht.

Es ist dieser Ort – bei Gott – der vorzüglicher ist als alle anderen „Orte“ (oder Situationen oder
Gegenstände oder Personen oder …), weil Gott soviel vorzüglicher ist als alles, was existiert, existiert hat und existieren wird.

Wenn das so ist – welche Motivation hatte der Sohn, diesen Ort zu verlassen? Ohne diese Frage zu beantworten gibt uns schon das Nachdenken über diesen Umstand ein noch größeres Gefühl für die unglaublichen Worte des Prologs.
Unglaublich, weil es für uns nicht vorstellbar ist, dass jemand, der sich an dem Ort größter
Glückseligkeit, Freude und Zufriedenheit aufhält, freiwillig in die Finsternis kommt, um dort das Schlimmste auf sich zu nehmen, was überhaupt vorstellbar ist – die Verlassenheit von Gott! Darin wird die Entfernung zwischen den beiden Antipolen – der Gemeinschaft und intimen Nähe zu Gott und der völligen, wortwörtlichen Gottverlassenheit – noch extremer, noch unvorstellbarer. Und unsere Dankbarkeit dafür, dass Christus diese unüberwindbare Distanz überbrückt hat, hoffentlich noch größer, noch tiefer, noch lebensverändernder …

Nachtext

(a) Dabei ist hervorzuheben, dass Jesus nicht davon spricht, dass er vor Abraham erschaffen wurde, sondern dass er vor Abraham „ist“. Der Evangelist unterscheidet sowohl an dieser Stelle als auch sonst sehr sorgfältig zwischen zwei Verben: ‚eimi‘ („sein“) wird immer eingesetzt, wenn es um Christus geht – in diesem Verb steckt kein Gedanke von „werden“, es transportiert viel mehr die ewige Existenz, während Johannes das Verb ‚ginomai‘ („werden, zeugen, erschaffen“) verwendet, um vom Geschöpf zu sprechen (vgl. A.T. Robertson, Word Pictures).

(b) Das gleiche Vorgehen findet sich im ersten Johannesbrief.
Die ersten vier Verse leiten zu der Botschaft hin, die Johannes mitteilen will und die er so lebendig einleitet. In Vers 5 wird dann verkündigt: „Und dies ist die Botschaft … dass Gott Licht ist.“ Man würde vielleicht erwarten, dass Johannes die gute Nachricht von der Rettung des Menschen o.ä. beschreibt. Stattdessen ist die zentrale Botschaft Johannes‘ eine Botschaft über Gottes Wesen!

 

Quellenangaben


(1) Sauer, Erich; „Vom Morgenrot der Welterlösung“; Brockhaus; Wuppertal; 9. Aufl 1998; S. 17

(2) Piper, John; „The Pleasures of God“; Multnomah Books; Colorado Springs 2000; S. 43; eigene, freie Übersetzung

(3) Ebd. S. 42

(4) C.S. Lewis; „Das Gespräch mit Gott – Gedanken zu den Psalmen“; Benzinger Verlag;
2. Aufl 1981; S. 57

(5) Edwards, Jonathan; „The Life and the Diary of the Rev. David Brainard“; Übersetzung:
Gudrun Dresbach; Waldbröl 2006