Zeitschrift-Artikel: Den Griechen ein Grieche

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Titel: Den Griechen ein Grieche
Typ: Artikel
Autor: Gerard H. Kramer
Autor (Anmerkung):

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Titel

Den Griechen ein Grieche

Vortext

Text

Dachten Sie bis jetzt auch, dass die Überschrift dieses Artikels geradewegs ein Bibelzitat wäre? Dann sind Sie demselben Irrtum erlegen wie ich. Dennoch ist dieser Ausdruck der Bibel entnommen, und zwar den Worten »Ich bin den Juden geworden wie ein Jude, um die Juden zu gewinnen (...), und denen unter Gesetz wie unter Gesetz (...) allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten« (1Kor 9,20-22). Wie Paulus das in die Praxis umsetzte sehen wir in Apg 17, wo seine Kon­takte mit den Athenern beschrieben werden. Sehr lehrreich — auch für Christen im Jahr 1999!


Erregung


Der Apostel Paulus war nicht in Athen, um dort Urlaub zu machen. Er wartete dort auf Silas und Timotheus, die in Beröa zu­rückgeblieben waren und betrachtete in­zwischen aufmerksam seine Umgebung. Dennoch lesen wir nicht, dass er in Verzük­kung über die architektonischen Glanz­stücke geriet, die dort errichtet worden waren. Er kam zu einer anderen Diagnose: Er sah, dass die Athener Götzendiener wa­ren, und das nicht zu wenig! AIs er die ko­lossalen Tempel, die monumentalen Altäre und die enormen Götzenbilder sah, impo­ nierte ihm das nicht, sondern empörte ihn dieser Anblick. Sein Geist wurde in ihm er­regt, als er sah, dass die Stadt voll Götzen­bilder war (V. 16).
Hieß das, dass er sich über die Athener aufregte, dass seine Erregung den Bewoh­nern dieses Handels- und Wissenschafts­zentrums galt? Es scheint doch so, dass Paulus nicht auf die Menschen böse war sondern auf die durch sie verehrten abgöt­tischen Mächte. Was die Völker opfern, opfern sie den Dämonen und nicht Gott (1Ko 10,20). Ihre Gemeinschaft mit den Dä­monen war es, die den Apostel empörte.


Kontakt und Konfrontation

Immer, wenn der Apostel Juden begeg­nete, konnte er im Kontakt mit ihnen auf die Heilige Schrift des Alten Testaments zurückgreifen. In der Synagoge legte er diese Schriften aus, um so zu zeigen, dass der Jesus, den er ihnen verkündigte, der Christus war. So hatte er es kurz vorher in Thessaloniki (Apg 17,1-3) und in Beröa (Apg 17,10f), und ebensogut und sicher in der Synagoge von Athen (V.17) getan. Wenn er aber mit ethnischen Griechen sprach, hatte er keinen solchen Bezugs­punkt. Dann konnte er nicht zurückkom­men auf gemeinsame historische Wurzeln oder Schriften, die sowohl sie als auch er als die göttliche Autorität anerkannten. Das hieß aber nicht, dass der Apostel in sol­chen Fällen schwieg. Er suchte genauso nach Möglichkeiten, um Zugang zu seinen griechischen Mitmenschen zu finden.
In Athen suchte er die erste direkte Kon­frontation auf dem Markt. Bei dem Wort Markt denken wir sehr schnell an einen Platz, auf dem Verkaufs­aktivitäten stattfinden. Im Altertum war der Markt aber der verwaltungsmä­ßige, juristische und gottesdienstliche Mittel­punkt einer Stadt. Er war das Zentrum des gesell­schaftlichen Lebens und deshalb ein interessanter Ort, um Menschen zu be­gegnen. Auf dem Markt in Athen unterhielt Paulus sich jeden Tag mit denen, die er dort antraf (V.17). In den Säulengängen, die es dort gab, wurde oft Unterricht in griechischer Philosophie erteilt. Der Markt konnte so auch ein intel­lektuelles Zentrum sein. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die epiku­räischen und stoischen Philosophen Kenntnis nehmen konnten von der Bot­schaft des Paulus. Bis dahin waren sie die einzigen, welche den Massen geistliche Orientierung zu vermitteln versuchten. Jetzt schienen sie aber Konkurrenz zu be­kommen von jemand, der mit ihrer Denk­welt vertraut zu sein schien, aber gleichzei­tig davon radikal Abstand nahm.


Reaktion

Es ist für Prediger frustrierend, wenn Menschen höflich zuhörend oder mit glasi­gen Augen vom Evangelium Kenntnis nehmen, aber weiter keine Reaktion zei­gen. Lieber Feindschaft als Gleichgültig­keit! Ich erinnere mich, wie ein Evangelist, mit dem ich früher oft unterwegs war, ein­mal einen Mann, der das soeben überreich­te Traktat zerriss, fragte: »Ist das eine Gewissensache?« So kam hinterher noch ein Gespräch in Gang, das vielleicht nie stattgefunden hätte, wenn der Mann das Blättchen höflich in Empfang genommen und später in's Altpapier geworfen hätte. Noch besser ist es natürlich, wenn Men­schen wirklich durch die Botschaft getrof­fen werden und ein Interesse zeigen, das weiter geht als bloße Neugier.
Die erwähnten Epikuräer und Stoiker reagierten auf jeden Fall nicht gleichgültig, aber weiter als berufsmäßige Neugier ging ihr Interesse auch nicht. Sie meinten, es mit dem Vertreter der soundsovielten philoso­phischen Strömung zu tun zu haben. Sie nannten Paulus wenig ehrenvoll einen "Körnerpicker" und "Nachschwätzer" (V.18). Mit diesem Wort zeigten sie an, dass sie Paulus als jemanden einschätzten, der Mangels eigener Originalität Plagiat be­trieb und aus al­lerlei götzendie­nerischen und philosophischen Systemen einzel­ne Brocken her­ausgepickt hatte, die er nun zusam­mengefügt als philosophischen "Second-Hand­"-Lehrstoff ver­kündigte. Sie be­griffen wenig von Paulus' Worten oder haben einfach nur schlecht zugehört. Auf jeden Fall dachten sie, dass er ihnen zwei neue Gottheiten verkündete: Jesus und Anastasis. Mit letztgenanntem Wort zielte Paulus auf die Auferstehung ab, was aber die gelehrten Herren nicht begriffen. Sie dachten, dass er mit dem weiblichen Wort eine ihnen unbekannte Gottheit be­zeichnete.

Sie nahmen Paulus mit zum Areopag. Dieses Wort bedeutet "der Hügel des Ares (= Mars)" und war sowohl eine Bezeich­nung für einen Hügel in Athen als auch für das darauf oder anderswo in der Stadt ver­sammelte Gericht. Die Frage, welcher Art dieses Gericht war, und ob es eine normale oder eine außerordentliche Sitzung betraf, ist interessant, würde uns aber zu weit führen. Dass das Wort "Areopagos" nicht lediglich einen Platz, sondern auf jeden Fall ein Richterkollegium bezeichnete, ist daraus abzuleiten, dass weiter unten ein gewisser Dionysius ausdrücklich ein "Areopagit" genannt wird (V. 34).


Verantwortung

Von der Weise, in der Paulus sich auf dem Areopag verantwortete, können wir viel lernen. Was direkt auffällt, ist die posi­tive Art, mit der er seine Zuhörer anspricht. Von seiner anfänglichen Erregung haben sie jedenfalls nichts gemerkt. Er erzählt, dass er an allem gesehen habe, dass »sie den Göttern sehr ergeben« seien, oder, wie auch übersetzt wird »einen überdurch­schnittlichen Respekt vor allem Göttli­chen« haben (V.22). Im weiteren Verlauf erwähnt er den Altar mit der Aufschrift "Ei­nem unbekannten Gott", der ihm aufgefal­len war. Der Apostel geht direkt auf die von den Athenern selbst genannte Lücke ihrer Erkenntnis ein: Diesen unbekannten Gott konnte er ihnen verkündigen! Zuerst erzählt er, dass Gott der Schöpfer ist, der die Welt geschaffen hat und alles, was in ihr ist — der Herr des Himmels und der Erde. Für die Griechen war das eine höchst be­merkenswerte Mitteilung, denn sie glaub­ten, dass die Welt ewig wäre. Einige hatten die Vorstellung von einer Gottheit, die als >Demiurg<, d.h. als Fachmann oder Hand­werker der ewigen Materie Form gab, aber viele sahen in dem Demiurg lediglich eine mystische Bezeichnung für >die Vernunft<, einen ordnenden Grundsatz, der seit aller Ewigkeit in der Weit vorhanden war. Die Welt war deshalb wohl im Werden, aber sie war niemals entstanden.

Was die Griechen auch glaubten war, dass das göttliche, ordnende Prinzip planmäßig zu Werke ging. Alles hatte also ein Ziel.  Und der Mensch, als einziges le­bendes Wesen mit >der Vernunft< begabt, muß darauf achten, dieses Ziel zu entdekcken. Es war dem Menschen gegeben, mit seinem Verstand etwas von diesem PIan zu begreifen. Paulus sagte, dass auch er davon überzeugt war, dass die Schöpfung einen bestimmten Sinn, ein bestimmtes Ziel hat:
Die Schöpfung weist auf den Schöpfer. Diese Ziel-Gerichtetheit, dieses Sinn-voll­sein hat Gott selbst der Schöpfung gege­ben, und er wünscht, dass dies auch durch die höchsten Geschöpfe bemerkt wird, die Menschen. Sie sind es, die vom Schöpfer dort hinein gesetzt wurden, »damit sie Gott suchen, ob sie ihn wohl tastend fühlen und finden möchten, obgleich er nicht fern ist von einem jeden von uns.« (V.27) Dieses tastende Suchen nach Gott suggeriert die Finsternis des Heidentums, ohne dass das Licht der Gottesoffenbarung vorhanden wäre.


Anschluß

Paulus zeigt seinen Zuhörern, dass Gott ihnen näher ist als sie denken: »Denn in ihm leben wir und bewegen wir uns und sind wir« (V.28). Oder anders gesagt: Un­ser Leben, unser Funktionieren als lebende Wesen, ja, unsere ganze Existenz ist un­trennbar mit Gott verbunden und auf ihn hin bezogen. An diesem Punkt angelangt zeigt Paulus wieder, was es heißt, den Grie­chen ein Grieche zu sein. Zur Stützung des gerade Gesagten zitiert er zwei griechische Dichter(1), damit die Athener hören konn­ten, dass bestimmte Elemente auch in ihrer eigenen Literatur vorhanden waren.
Paulus kennt die Lebens- und Denkwelt seines Publikums! Er weiß, dass einige grie­chische Dichter geschrieben haben: >Denn wir sind auch sein Geschlecht.< Diese Wor­te sind sowohl bei Kleanthes in seiner >Hymne an Zeus< (± 300 v.Chr.) als auch bei Aratus in seinem Lehrgedicht >Phaenomena< (± 270 v.Chr.) zu finden. Dass beide Dichter mit ihren Versen auf den griechischen Hauptgott Zeus wiesen muß man nicht extra betonen. Was Paulus deutlich machen wollte ist, dass auch Hei­den wie Kleanthes und Aratus schrieben, dass der Mensch einen göttlichen Ur­sprung hat und in permanenter und direk­ter Beziehung zu einer höheren Welt steht. Im weiteren Verlauf zeigt der Apostel, dass die Griechen aus diesem wichtigen, von Dichtern signalisierten Punkt nicht die richtige Schlußfolgerung gezogen haben. Ein Gott, der in so direkter Beziehung zu seinen Geschöpfen steht und ihnen alles gibt, kann nicht in einem >Gebilde der Kunst und der Erfindung des Menschen< dargestellt und verehrt werden: Der Mensch ist nicht der Maßstab für Gott!


Bekehrung

Paulus fasst die langen Jahrhunderte des Heidentums zusammen als >die Zeiten der Unwissenheit< (V.30) Das mußten die Athener sich gefallen lassen. Sie kriegen nun zu hören, dass Gott nicht allein der Schöpfer, sondern auch der Richter ist. Und dass Gott darüber hinaus eine Bot­schaft an alle Menschen hat: Alle müssen sich überall bekehren, denn das Urteil kommt! Dabei kann Paulus auf den hin­weisen, über den er schon auf dem Markt­platz gesprochen hatte, den er hier nicht mit Namen nennt: einen Mann, durch Gott aus den Toten auferweckt, der zu Gottes Zeit einmal das Gericht durchführen wird (V.31) Das führt zu spottenden Reaktio­nen, aber auch zu Bekehrungen einiger, von denen zwei namentlich erwähnt wer­den.


Schlußfolgerung

Was können wir aus diesem Abschnitt lernen? Gehen wir die Punkte von Paulus' Handlungsweise durch:
1. Paulus trug den Unterschieden zwi­schen Menschen Rechnung: Mit Juden ging er anders um als mit Griechen.
2. Paulus »bürstete seine Zuhörer nicht ge­ gen den Strich«, sondern ging positiv auf sie zu.
3. Paulus suchte Anknüpfungspunkte in der Lebens- und Denkwelt seiner Zuhö­rerschaft: Er hatte sich in ihren Lebens­raum, ihren Gottesdienst und ihre Lite­ratur vertieft.
4. Paulus wußte dadurch, wie er seine Bot­schaft präsentieren mußte: Er betonte darum gerade in Athen Ursprung, Sinn und Ziel der Schöpfung durch Hinweis auf den Schöpfer.
5. Paulus sprach nicht ausführlicher als nötig: Er wies sehr knapp auf die Not­wendigkeit der Bekehrung, auf das kommende Gericht und auf den aufer­standenen Herrn, der von Gott bevoll­mächtigt wurde, dieses Urteil zu vollzie­hen.
6. Paulus wußte, wann er aufhören mußte: Der Zeitpunkt war gekommen, als eini­ge spotteten und andere höflich Interes­se heuchelten.
7. Paulus fühlte, wenn die Reise weiter­ging; er hatte zwar in Athen auf Silas und Timotheus gewartet, aber diese tra­fen Paulus bald wieder, als er von Athen nach Korinth gereist war.

Aus: Bode van het Heil in Christus, Juni/Juli 1998, S.10, Übersetzung: Ralf Müller



Nachtext

Quellenangaben

(1) Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass auch die Worte »Denn in ihm leben wir und be­wegen wir uns und sind wir« einem Gedicht des kretischen Dichter Epimenides entlehnt sind (der ± 500 v. Chr. in Athen blieb), den der Apostel auch in Tit 1,12 zitiert. Der Text dieses Gedichts ist übrigens lediglich durch Rekonstruktion bekannt. Zeus' Sohn Minos sagt da folgendes zu seinem Vater:
>Sie haben dir ein Grab bereitet, allerhöch­ste Gottheit, sie, die Kreter, immer Lügner, böse Tiere, faule Bäuche, aber du bist nicht gestorben, sondern lebst und bist allezeit, denn in dir leben wir, bewegen wir uns und sind wir.<