Zeitschrift: 136 (zur Zeitschrift) Titel: Sinnvolles Leiden? Typ: Artikel Autor: Joni Eareckson Tada Autor (Anmerkung): online gelesen: 2495 |
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Titel |
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Sinnvolles Leiden? |
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Vortext |
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<p>Das folgende Interview mit Joni Eareckson Tada wurde im Oktober in der amerikanischen Zeitschrift<br />„Tabletalk“ veröffentlicht.</p> |
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Text |
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<p><strong>TT:</strong> Würdest du unseren Lesern, die deine Geschichte nicht kennen, erzählen, wie du querschnittsgelähmt wurdest?<br /><strong>JT</strong>: Jahrelang gehörte ich zu denen, die sich sicher waren: Behinderungen passieren anderen, nicht mir. Das änderte sich an einem heißen Julinachmittag 1967, als ich mit meiner Schwester<br />Kathi an einem Strand der Chesapeake- Bucht schwimmen ging. Das Wasser war trüb, und ich dachte nicht daran, die Wassertiefe zu überprüfen, als ich mich auf einen Schwimmsteg hochzog. Ich machte einen Kopfsprung und fühlte plötzlich, wie mein Kopf auf etwas Hartes aufschlug. In meinem Hals knackte es und ich spürte einen fremdartigen, elektrischen Schock.<br />Ich war noch unter Wasser, betäubt und nicht in der Lage, zum Luftholen an die Oberfläche zu<br />kommen. Zum Glück merkte Kathi meine Notlage und kam sofort zu meiner Rettung herbei.<br />Als sie mich aus dem Wasser zog, sah ich meinen Arm auf ihrer Schulter liegen, konnte ihn aber nicht spüren. Da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert war. Später im Krankenhaus erfuhr ich, dass mein Rückenmark durchtrennt war. Ich würde den Rest meines Lebens querschnittsgelähmt sein und alle vier Gliedmaßen nicht mehr bewegen können. Ich war am Boden zerstört.<br /><strong>TT</strong>: Was ging dir durch den Kopf als du zum ersten Mal realisiert hast, dass du deine Arme und Beine nie mehr würdest verwenden können? Wie bist du damit fertig geworden?<br /><strong>JT</strong>: Als ich im Krankenhaus lag fiel mir ein, dass ich erst einige Monate zuvor Gott gebeten hatte, mich näher zu ihm zu ziehen. Jetzt, ans Bett gefesselt, fragte ich mich, ob die Lähmung seine Antwort auf mein Gebet war. Wenn das die Art und Weise war, wie er junge Christen behandelte – wie konnte ich ihm jemals in weiteren Gebeten vertrauen? Offensichtlich waren Gottes Wege ganz anders als meine, und dieser Gedanke erschreckte und deprimierte mich eine ganze Zeit lang. Aber wohin konnte ich mich sonst wenden? Wohin sollte ich gehen? Ich erinnere mich, dass ich gebetet habe: „Gott, wenn ich nicht sterben kann, dann zeig mir, wie ich leben soll!“. Viele Tage später saß ich vor meiner Bibel, hielt einen Stab zwischen meinen Zähnen, blätterte durch die Seiten und betete, dass Gott mir helfen möge, die Puzzlestücke meines Leids zusammenzusetzen.<br /><strong>TT</strong>: Welche Bibelabschnitte haben dir besonders Mut gegeben während der Kämpfe mit der Behinderung und dem Krebs?<br /><strong>JT</strong>: Psalm 79,8 sagt: „Lass uns deine Erbarmungen bald entgegenkommen, denn sehr schwach sind wir geworden!“ Eigentlich wache ich fast jeden Morgen mit einem verzweifelten Bedürfnis nach Jesus auf. Von damals angefangen, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, durch alle vier Jahrzehnte im Rollstuhl hindurch – es ist immer noch das gleiche. Der Morgen dämmert und ich merke: „Herr, ich habe nicht die Kraft, weiter zu gehen. Ich habe keine Mittel. Ich schaffe es keinen Tag mehr mit meiner Querschnittslähmung, aber ich vermag alles durch dich, wenn du mich kräftigst. Bitte zeig mir dein Lächeln für den Tag, ich brauche dich dringend!“ Das ist, wie ich entdeckt habe, das Geheimnis meiner Freude und Zufriedenheit.<br />Jeden Morgen zwingt mich meine Behinderung – und neuerdings mein Kampf gegen den Krebs – mit leeren Händen und geistlicher Armut zu dem Herrn Jesus zu kommen. Aber das ist ein guter Ort, denn Jesus sagt: „Glückselig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“<br />(Mt 5,3). Ein anderer Anker ist für mich 5Mo 31,5, wo Gott mir sagt: „Sei stark und mutig. Fürchte<br />dich nicht (vor der Querschnittslähmung, chronischen Schmerzen oder vor Krebs), denn der Herr dein Gott geht mit dir. Er wird dich nicht versäumen noch verlassen.“ Ich bin überzeugt, dass ein Gläubiger jedes Maß an Leid ertragen kann, solange er sich sicher ist, dass Gott im Leid bei ihm ist. Zudem haben wir den Mann der Schmerzen, der von Gott verlassen war wie kein anderer, sodass er im Gegenzug zu uns sagen kann: Ich werde dich nicht verlassen. Gott schrieb ein Buch über Leid und nannte es Jesus.<br />Das heißt, dass Gott uns versteht. Er ist bei mir. Mein Schwimmunfall war in der Tat eine Antwort auf mein Gebet, er möge mich zu sich ziehen.<br /><strong>TT</strong>: Wie wichtig ist für eine Person mit einer Behinderung die Unterstützung der Familie und der Gemeinde in solchen Zeiten?<br /><strong>JT</strong>: Gott hat nie beabsichtigt, dass wir alleine oder umsonst leiden sollen. Daher ist geistliche Gemeinschaft so wichtig für jemanden, der eine schwere Verletzung erlitten hat oder eine Krankheit durchlebt. Seine Familie und die Gemeinde halten ihn in Verbindung mit der Realität und helfen ihm, dem Leiden etwas Positives abzugewinnen, bringen ihn aus der sozialen Isolation und weisen hin auf den, der alle Antworten in seiner Hand hält. Ohne Familie und Gemeinde ist eine Person mit einer Behinderung verloren im Meer der Hoffnungslosigkeit. Das dürfen wir nicht zulassen.<br /><strong>TT</strong>: Wie würdest du jemanden ermutigen, bei dem kürzlich eine schwere Krankheit oder Behinderung diagnostiziert wurde?<br /><strong>JT</strong>: Als erstes: Es ist in Ordnung zu weinen. Es ist wichtig zu trauern. Römer 12,15 zeigt uns, dass Gott nicht erwartet, dass wir alle Tränen zurückhalten, also sollten wir es auch nicht voneinander<br />erwarten. Es ist hart, eine schlechte medizinische Diagnose schlucken oder die Geburt eines behinderten Kindes verkraften zu müssen. Und es braucht Zeit, die Realität zu verdauen. Aber früher oder später müssen wir die Taschentücher beiseitelegen und anfangen zu denken, anfangen nach Gottes Absicht in dieser Sache zu suchen, weil es nicht genug ist, nur irgendwie damit fertig zu werden und sich damit abzufinden. Gott möchte, dass wir seine Ziele mit dem Leid als gut und richtig annehmen (Röm 12,2b).<br /><strong>TT</strong>: Was ist der beste Weg, um nicht-behinderten Menschen zu helfen, in behinderten Menschen mehr als die Summe ihrer Behinderungen zu sehen?<br /><strong>JT</strong>: In jeder Person, die im Rollstuhl sitzt, einen Blindenstock oder eine Gehhilfe benutzt, steckt jemand wie du: ein Mensch mit Hoffnungen und Träumen, Vorlieben und Abneigungen, Meinungen und Ansichten, Erinnerungen an die Vergangenheit. Versuche, hinter den durch das<br />Schicksal gekennzeichneten Körper, die blinden Augen oder den Rollstuhl zu sehen und zu erkennen, dass dieser Mensch das Bild Gottes trägt – eine Person mit menschlicher Würde und<br />Lebenspotential. Überlege, wie du dieser Person helfen kannst, ihren angeborenen Wert und<br />Lebenssinn zu entdecken – und sei dir bewusst, dass sie dir helfen kann, den deinen zu entdecken.<br /><strong>TT</strong>: Dein neustes Buch heißt: „Ein Ort der Heilung – Ringen mit den Geheimnissen von Schmerz, Leid und Gottes Souveränität“. Warum hast du dieses Buch geschrieben?<br /><strong>JT</strong>: Über zehn Jahre lang habe ich mit einem chronischen Schmerz gekämpft (was sehr ungewöhnlich ist für Querschnittsgelähmte wie mich). Das kam noch zu meiner Lähmung dazu, und es gab Zeiten, wo das alles zu viel für mich zu tragen schien. Also habe ich noch einmal meine Ansichten über göttliche Heilung überprüft, und wollte erkennen, was ich noch lernen könnte.<br />Ich habe entdeckt, dass Gott noch immer das Recht behält, zu heilen oder nicht zu heilen, wie er es für richtig hält. Und anstatt verzweifelt zu versuchen, dem Schmerz zu entfliehen, lernte ich neu die Lektion, dem Leid zu erlauben, mich tiefer in die Arme Jesu zu drängen. Ich mag es, mein Leiden als einen Schäferhund zu betrachten, der mich in die Fersen beißt, um mich die Straße nach Golgatha zu treiben, die ich von Natur aus nicht geneigt wäre zu gehen.<br /><strong>TT</strong>: Wie prägt und verändert das ‚Joni & Friends international disability center‘ heute die Welt?<br /><strong>JT</strong>: Ich darf ein begabtes Team von gleichgesinnten Gläubigen führen, die leidenschaftlich dafür einstehen, Jesus für Leute real werden zu lassen, die an irgendeiner Krankheit oder Behinderung<br />leiden – und das auf der ganzen Welt. In unserem Programm „Räder für die Welt“ reisen begabte Therapeuten mit uns in Entwicklungsländer, um Rollstühle maßgeschneidert an die Bedürfnisse der Behinderten anzupassen. Darüber hinaus geben wir ihnen Bibeln weiter und führen Behinderten-Trainings-Programme in Ortsgemeinden durch. Joni & Friends unterhält auch eine Reihe von Rückzugsorten für Familien in den USA und auf der ganzen Welt, die für über dreitausend Kinder, Erwachsene, Familienmitglieder und freiwillige Helfer zur Verfügung stehen.<br />Ich bete, dass Gott mir noch viele Jahre Stärke und Ausdauer schenkt, um die Arbeit zu tun, zu der er mich berufen hat. Darum „ist mir mein Leben nicht teuer, dass ich doch nur den Lauf vollenden und den Dienst erfüllen möge, den Jesus mir gegeben hat – das Evangelium von Gottes Gnade zu bezeugen“. Das ist meine Version von Apostelgeschichte 20,24 – und das<br />ist es, was mich jeden Morgen mit einem Lächeln aufstehen lässt.</p> |
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Nachtext |
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Quellenangaben |
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<p>Tabletalk Magazine Okt 2011 © Ligonier Ministries und R.C. Sproul |www.ligonier.org; Abdruck mit freundlicher Genehmigung, übersetzt von William Kaal</p> |