Zeitschrift-Artikel: Chinas andere Art von Verfolgung

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Titel: Chinas andere Art von Verfolgung
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
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Titel

Chinas andere Art von Verfolgung

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In Abständen liest oder hört man in den Medien immer wieder von einer angeblichen Christenverfolgung in China von Seiten der chinesischen Regierung, die in den letzten Monaten zugenommen haben soll. Natürlich ist es schwer, ein halbwegs realistisches Bild von der Situation in China zu bekommen. Dazu ist dieses Land zu riesig, die vielen christlichen Gruppierungen und Gemeinden zu verschieden und zu zahlreich. Wenn es aber stimmt, dass nach vorsichtigen Schät- zungen allein etwa 100 – 120 Millionen Chinesen (also etwa 8% der Bevölkerung!) zur evangelikalen „Unter- grundkirche“ gezählt werden, dann wird man mit pauschalen Einschätzungen vorsichtig. Wobei man nicht buchstäblich von „Untergrund“ reden kann, sondern von illegalen, nicht registrierten Gemeinden, die dem Staat höchstwahrscheinlich sehr gut bekannt sind.

› Worauf die Regierung empfindlich reagiert ...

Solange diese Gemeinden sich nicht politisch äußern und sich loyal zur Regierung verhalten, lässt man sie in Ruhe. Vielleicht gibt es hier und da Ausnahmen, aber die Staatsführung ist intelligent genug und hat meiner Mei- nung nach aus der Vergangenheit gelernt, dass es Torheit ist, die besten, eißigsten und ehrlichsten Bürger und Steuerzahler zu unterdrücken oder gar zu verfolgen. Allerdings hat es in der Vergangenheit nicht wenige Fälle gegeben, wo bestimmte Pastoren oder Gemeinden zum Widerstand gegen den Staat oder sogar zu Demonstrationen aufgerufen haben. Und darauf reagiert die Regierung äußert emp ndlich und manchmal auch brutal. Aber diese Härte richtet sich meist nicht gegen das Christentum an sich, sondern gegen die politische Haltung dieser Leute oder Gemeinden, die als potentielle Gefahr für den Staat eingeschätzt werden. Auch in diesem Sommer haben wir unterschiedliche „illegale“ Gemeinden in China besucht und dort Vorträge und Seminare gehalten. Vor allem aber haben wir viele persönliche Besuche gemacht oder empfangen, um ein weitgehend realistisches Bild von der Situation und den Problemen unserer Geschwister zu bekommen. Unsere Besuche fanden in den Millionenstädten im Süd-Osten Chinas statt. Städte, in denen vor 150 Jahren Hudson Taylor und seine Mitarbeiter sehr viel evangeli- siert haben und vor dem zweiten Weltkrieg Watchmann Nee und die durch ihn geprägten „Little Flock“-Gemeinden deutliche Spuren hinterlassen haben. Aber wir konnten auch Gespräche mit Brüdern führen, die im weiteren Umkreis dieser Städte Kontakte zu Gemeinden pflegen und unsere Eindrücke weithin bestätigt haben: Von echter Christenverfolgung in China kann zur Zeit keine Rede sein!

› Die neuen Gefahren

Es ist ja eine bekannte Erkenntnis aus der Kirchengeschichte, dass offene und aggressive Christenverfolgung das geistliche Leben der Christen befruchtet haben. „Je mehr Druck, je mehr Wachstum!“ pflegte Samuel Lamb zu sagen, der wegen seines Glaubens über 20 Jahre in Chinas Straflagern verbringen musste und im Jahr 2013 im hohen Alter heimgegangen ist. Wenn wir ihn in den vergangenen Jahren besucht haben, erinnerte er uns immer wieder daran, dass der mäßige Druck von Seiten der Regierung ein „Segen“ Gottes ist. Er prophezeite, wenn es in China einmal uneingeschränkte Freiheit für das Christentum gäbe, dann würde der Materialismus die geistliche Kraft und Hingabe der Christen brechen und die Gemeinden würden wie in Westeuropa und den USA verweltlichen. Diese Gefahr ist tatsächlich jetzt schon deutlich zu erkennen.

› Der Einfluss durch Verwandschaft und Gesellschaft

Diese Gefahr, die zu allen Zeiten und überall in der Welt auf Christen lauert, ist in China besonders akut, weil die chinesische Kultur und Prägung dafür einen besonders günstigen Nährboden bildet. Der Einfluss der Familie oder der Sippe spielt in China eine enorme Rolle. Die Meinungen und Ratschläge der Eltern oder Verwandten werden sehr geachtet und Autoritäten werden allgemein respektiert und geehrt. Dadurch, dass die Eltern durch das Gesetz der „Ein- Kind-Familie“ – das erst vor wenigen Monaten von der Regierung etwas gelockert wurde – fast durchgehend nur ein Kind haben, investieren die Eltern und oft noch die Großeltern materiell enorm viel in ihren Nachwuchs; aller- dings vor allem in die Bildung und den gesellschaftlichen und materiellen Status. Dahinter steht natürlich auch der Gedanke, dass das eine Kind als Erwachsener dann spä- ter als Gegenleistung ebenfalls die Eltern versorgt, wenn diese alt oder krank werden. Wenn nun die Eltern oder Großeltern keine Christen sind, kann man sich vorstellen, welche Kon ikte sich erge- ben können, wenn das eine Kind – auch wenn es bereits erwachsen ist – Christ wird und biblische Prinzipien der Nachfolge Jesu für die Lebensgestaltung praktizieren möchte. Das stößt dann oft auf totales Unverständnis der Eltern, die sich verachtet und undankbar behandelt fühlen.

› Das „Gesicht“ nicht verlieren!

In den letzten Jahrzehnten wurden Chinesen von klein auf vom Staat und der Gesellschaft dazu erzogen, Spitzenleistungen zu vollbringen und mehr oder weniger rücksichtslos die Karriereleiter zu erklimmen. Enormer Fleiß, Ehrgeiz, Selbstbeherrschung und Zielstrebigkeit werden gefordert und gefördert. Leider führt das aber auch zu Egoismus, Materialismus und Rücksichtslosigkeit. Als weitere Folge kann dazu sehr schnell auch die Neigung oder Versuchung zur Bestechlichkeit, Unehrlichkeit, Unaufrichtigkeit und Heuchelei kommen. Diese Entwicklung wird inzwischen auch von Politikern erkannt. So werden inzwischen immer mehr Stimmen von nichtchristlichen Sozialforschern und Politikern laut, die für die chinesische Gesellschaft eine neue Ethik fordern, weil Bestechung, Vetternwirtschaft und Korruption auf fast allen Ebenen praktiziert wird. Welche Auswirkungen diese vor allem durch das kommunistische System geprägte Lebenshaltung auch auf bekennende Christen haben kann, soll folgendes Beispiel deutlich machen: An einem Tag bekommen Jin Wei, mein chinesischer Freund und Übersetzer, und ich Besuch von einem Ehe- paar mit ihrem etwa 6-jährigen Sohn. Sie hatten unsere Vorträge gehört und wollten ein paar Fragen stellen. Beide sind überzeugte und engagierte Christen in einer vor allem aus Akademikern bestehenden illegalen Gemeinde. Der Ehemann kam mit einer Studierbibel in der Hand. Er ist von Beruf Oberarzt in einem Krankenhaus und ansons- ten in der Gemeinde im Lehrdienst und in der Verkündigung aktiv. Seine Frau arbeitet als Krankenschwester. Der Sohn erwies sich als ein überaktiver, nicht zu bändigender kleiner Raudi, der in Minutenschnelle unser Hotelzimmer auf den Kopf stellte und auf keine Bitte oder Anordnung reagierte. Die Frau hatte folgende Frage: Als geschätzte Krankenschwester wird von ihr erwartet, dass sie sich stetig weiterbildet, bestimmte Prüfungsarbeiten abliefert, um die Kariereleiter Stufe für Stufe zu erklimmen. Sie hat zur Zeit eine solche Arbeit abzuliefern und fragt, ob es falsch sein könnte, wenn sie sich diese geforderte Arbeit für etwa 1.000 Dollar kaufen würde, weil es ihr schwer fällt und sie auch nicht Zeit und Lust hat, diese Arbeit selbst zu erledigen. Das sei unter Krankenschwestern in China nicht unüblich. Unsere Antwort: „Das wäre ein Betrug, ein Plagiat. Kann man als Christ nicht machen!“ Die Frau: „Und wenn mein Mann die Arbeit schreibt?“ Antwort: „Dann ist das genauso Betrug, wobei dann zusätzlich auch noch Dein Mann betrügt!“ „Aber das machen doch fast alle so!“ „Als Christen dürfen wir das nicht sondern sind der Wahrheit verpflichtet!“ „Was soll ich dann tun?“ „Verzichte auf Deine Beförderung und sei zufrieden mit Deinem jetzigen Status!“ „Das ist unmöglich. Alle Kollegen würden mich verachten und ich würde in meinen Aufgaben und im Gehalt herabgestuft.“ „Dann sei damit zufrieden und mache mit einem fröhlichen Gesicht die niedrigen Arbeiten, die keine Ehre bringen, aber auch gemacht werden müssen. Das wird deine Kolleginnen beeindrucken und zum Nachdenken bringen.“ „Dann könnte ich aber meinen Job verlieren!“ „Vielleicht hast Du dann mehr Zeit für die Erziehung Eures Sohnes.“ Während ihr Mann mit der Bibel in der Hand lächelt, schüttelt seine Frau verständnislos über unsere Ansichten und Vorschläge den Kopf. Dass eine gläubige Ehefrau bewusst keinen Beruf ausübt, sondern zu Hause bleibt, um als Mutter und Ehefrau dem biblischen Muster zu entsprechen, ist auch unter den Christen in China eine absolute Seltenheit. Für uns ist diese Haltung, die Furcht vor Verachtung und Geringschätzung von Seiten der Kollegen, Nachbarn und Verwandtschaft schwer nachzuvollziehen. In China aber leider ein großes Problem, über das man nicht gerne spricht.

› Was wird aus der nächsten Generation?

Das war eines von vielen ähnlichen Beispielen, mit denen wir konfrontiert wurden. Aber nicht nur der Druck im Beruf, sondern auch die Erwartung in der Gemeinde, aktiv zu sein, kann das Ehe- und Familienleben und auch das persönliche Glaubensleben gefährden. Wöchentliche evangelistische Hauskreise, Gebetsstunden, Seminare usw. lassen in vielen Gemeinden, die Jüngerschaft betonen, kaum Raum und Zeit für die Pflege der Ehe und Familie. Auch hier entsteht leicht ein Leistungsdruck, der dazu führen kann, dass für die persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn kaum noch Zeit und Kraft bleibt. Die Norm ist, dass beide Eltern arbeiten, um das nötige Geld zu verdienen und die Wünsche des einen Kindes zu erfüllen. Das eine Kind wird von klein auf vom Staat erzogen und sieht abends die Eltern nur kurz. Kommt es in die Schule, dann kommen mit den Jahren enorme Hausaufgaben dazu. Wie schwer es dann ist, diese heranwachsende Generation für den Herrn und die Gemeinde zu gewinnen, liegt auf der Hand. Dementsprechend fehlen in manchen Gemeinden Kinder, Teenies und Jugendliche – oft auch mit der Begründung, dass die Kleinen für Unruhe sorgen und die Konzentration auf die Predigt oder Bibelarbeit stören könnten.

› Aber es gibt auch positive Beispiele!

Als wir gebeten wurden, am Tag unseres Rück uges in einer der „Little-Flock“-Gemeinden zwei Predigten zu halten, haben wir mit gemischten Gefühlen zuge- sagt. Wir waren müde, nur der Vormittag stand noch zur Verfügung und am Nachmittag sollte der Rückflug starten. Dazu kam, dass wir zum ersten Mal eine dieser Gemeinden besuchen sollten, um dort zu predigen. Wir hatten leitende Brüder aus diesen Gemeinden bereits auf einer Mitarbeiter-Konferenz kennen und schätzen gelernt. Aber wir hatten Sorge, ob wir in der Lage waren, diesen als sehr konservativ und exklusiv geltenden Geschwistern eine Hilfe sein zu können. Wir waren völlig überrascht: Um 9:00 Uhr morgens (es war ein Familienfeiertag) war der schlichte Gemeindesaal mit etwa 200 Geschwistern überfüllt. Die Frauen mit ihrer typischen, schwarzen Kopfbedeckung saßen auf der linken Seite, die Männer rechts. Aber was uns verwunderte und außerordentlich erfreute, war die große Anzahl jugendlicher Zuhörer, die aktiv und mit großem Interesse dabei waren und sich offensichtlich gut in der Bibel auskannten. In dieser Gemeinde konnte man – zumindest auf den ersten Blick – kein Generationenproblem erkennen. Allerdings sagte uns einer der Ältesten kurz vor unserem Abschied, dass der Materialismus mit allen negativen Fol- gen auch vor dieser Gemeinde nicht Halt gemacht hat und sie mit Sorge in die Zukunft blicken. Wenn es in Zukunft durch den Geist Gottes gelingt, diese unglaublich große, oft begabte Menge an entschiedenen Christen in China zu einem an Gottes Wort orientierten Leben in Familie, Beruf und Gemeinde zu bewegen, dann könnte das nicht nur eine gewaltige Herausforderung für die 1,4 Milliarden Menschen in China sein, sondern auch eine enorme Unterstützung für die Mission in aller Welt. Beten wir dafür!

Nachtext

Quellenangaben