„Es waren aber in Antiochien, in der dortigen Versammlung, Propheten und Lehrer: Barnabas und Simeon, genannt Niger, und Luzius von Kyrene und Manaen, der mit Herodes, dem Vierfürsten, großgezogen war, und Saulus. Während sie aber dem Herrn dienten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir nun Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie berufen habe.“ (Apg 13,1-2)
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Die junge Gemeinde in Antiochien war, wie wir schon gesehen haben, unter dem gesegneten Dienst von Barnabas und Saulus in erstaunlich kurzer Zeit zahlenmäßig und geistlich gewachsen. Das großartige Ergebnis dieser einjährigen Bibelunterweisung fand ihren Ausdruck darin, dass „die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt wurden“ (Apg 11,26). Christus-Ähnlichkeit in den Jüngern war also die Frucht dieser gemeinsamen Arbeit und genau das sollte immer das höchste Ziel und die Frucht jeder geistlichen Arbeit sein.
Geistliche „Zöglinge“
Erstaunlich ist, dass durch den Dienst der beiden Apostel in kurzer Zeit geistlich reife und begabte Brüder heranwuchsen, die in der Gemeinde als „Propheten“ und „Lehrer“ anerkannt waren. Neben Barnabas und Saulus werden „Simeon, genannt Niger, Luzius von Kyrene und Manaen, der mit Herodes, dem Vierfürsten, großgezogen war“ (Vers 1), aufgezählt. Hier wird deutlich, dass Barnabas und Saulus die jungen Brüder geistlich gefördert und begleitet haben, denen Gott eine Geistesgabe gegeben hatte und die nun auch verantwortlich in der jungen Gemeinde mitarbeiteten. Man bekommt den Eindruck, dass die beiden Apostel bewusst auf dieses Ziel hin gearbeitet haben, um sich selbst entbehrlich zu machen und nicht langzeitig in der Gemeinde als Führer zu dominieren. Schade, dass man dieses weise und weitsichtige Verhalten heute selten in unseren Gemeinden beobachten kann. Statt dessen bekommt man leider oft den Eindruck, dass begabte Brüder ihre führende Position zu zementieren versuchen, anstatt den eigenen Platz freizumachen und jüngere Brüder zum Dienst heranzubilden und nachrücken zu lassen.
Eine „multi-kulturelle“ Gemeinde
Wenn man die kurzen Bemerkungen in der Aufzählung der Propheten und Lehrer in Antiochien beachtet, dann fällt auf, dass hier Brüder aus sehr verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen trotzdem harmonisch zusammen gearbeitet haben. Simon war offensichtlich ein farbiger Afrikaner, Manaen scheint aus einer gehobenen, vornehmen Gesellschaftsschicht zu stammen, von Luzius ist uns nur bekannt, dass er aus Kyrene stammt, Barnabas war ein mittelloser ehemaliger Levit, während Saulus ein sowohl philosophisch als auch theologisch hochgebildeter ehemaliger Pharisäer war. Doch diese sehr unterschiedlich geprägten Brüder dienten in großer geistlicher Harmonie dem Herrn, so dass der Heilige Geist zu ihnen reden und seine Absichten mit Barnabas und Saulus deutlich machen konnte. Auffallend auch, dass Saulus, der offensichtlich begabteste unter diesen Brüdern, an letzter Stelle erwähnt wird. Er hat die Demut gelernt, seine Herkunft nicht als Machtmittel zu missbrauchen und unter den Brüdern der Geringste zu sein. Welch ein Segen würde es auch heute für die Gemeinden bedeuten, wenn Geschwister in gegenseitiger Liebe und Achtung miteinander verbunden wären, obwohl ihre soziale Position und ihre kulturelle Prägung eine Menge Streitpotential bieten könnte. Gerne denke ich in diesem Zusammenhang an eine noch recht junge Gemeinde in Nowosibirsk, in welcher die verantwortlichen und aktiven Brüder mit wenigen Ausnahmen u.a. daran erkannt werden, dass sie mit Tätowierungen bedeckt sind. Es sind ehemalige Schwerverbrecher, die alle eine Langzeitstrafe hinter sich haben, im Gefängnis zum Glauben gekommen sind und trotz ihrer Vergangenheit und Verschiedenheit Aufnahme und Annahme in der Gemeinde gefunden haben.
„Herz und Herz vereint zusammen ...“
Ein leuchtendes Vorbild in der Kirchengeschichte ist die junge Herrnhuter Gemeinde, in der sich um das Jahr 1727 sehr verschiedene Geschwister – meist Immigranten aus allen möglichen Ländern – tummelten. Gebildete und Analphabeten, Adelige und Kuhhirten, schroffe und weiche Charaktere, cholerische und sanguinische Gemüter fanden sich hier ein. Auch die geistliche Prägung war sehr unterschiedlich und gab viel Anlass zu Diskussionen und Streitigkeiten. Aber der Geist Gottes konnte nach anfänglichen Auseinandersetzungen und Mißstimmungen diese bunte Schar von Geschwistern so einen, dass sie das Werkzeug Gottes für die kommende Erweckung in Deutschland, England und Amerika wurden und in einer Generation Hunderte von jungen Leuten als Missionare in alle Welt ausgesandt werden konnten. Auch in der frühen „Brüderbewegung“ in England kann man ein ähnliches Bild beobachten: Alle Bildungs- und Standesunterschiede verschwanden unter der Wirkung des Wortes und des Geistes Gottes, da man als „Bruder unter Brüdern“ miteinander lebte und dem Herrn diente. Dass es heute u.a. „russland-deutsche“, „chinesische“, koreanische“, „brasilianische“ und „spanische“ Gemeinden gibt, die der Gefahr erlegen sind, neben der Bibeltreue auch Kultur- und Traditionspflege einen hohen Stellenwert zu geben, ist sicher kein Ruhmesblatt für das Zeugnis der Gemeinde in unserer Zeit und schadet der Glaubwürdigkeit. Solche Gemeinden, die manchmal wie ein frommes „Biotop“ oder „Reservat“ wirken, machen deutlich, dass leider kulturelle Schranken und menschliche Traditionen unter uns Christen nicht überwunden sind und wir uns von dem Idealbild des Neuen Testamentes weit entfernt haben. „Der Gott des Ausharrens… gebe euch gleichgesinnt zu sein untereinander. Deshalb nehmt einander auf, so wie Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit!“ (Röm 15,7) – das sollte auch in unserer Zeit der allein gültige, verbindliche und verbindende Maßstab für Gemeinschaft sein.
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