Zeitschrift-Artikel: Adoniram Judson Niedergeworfen – aber nicht besiegt Teil4

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Titel: Adoniram Judson Niedergeworfen – aber nicht besiegt Teil4
Typ: Artikel
Autor: Christoph Grunwald
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Titel

Adoniram Judson Niedergeworfen – aber nicht besiegt Teil4

Vortext

„Glück besteht nicht in äußeren Umständen.“1 „Schlaf, kleiner Liebling, schlaf still an der Mutter Brust; Lass rauher Ketten harter Klang nicht stören dir die süße Rast! Schlaf, kleiner Liebling, schlaf. Heil dir, noch kennst du nicht das Weh, das deine Eltern traf, noch ihren tiefen Schmerz.“ Adoniram Judson2

Text

Trotz der notwendigen Vorsicht, erzwungen durch den gescheiterten Versuch, beim König eine Art Religionsfreiheit zu erwirken, wuchs die kleine Gemeinde in Rangoon stetig weiter. Im Stillen missionierten die Judsons und die zehn Bekehrten ihre Umgebung, so dass Judson schon am 18. Juli 1820 die Taufe des 18. burmesischen Christen in sein Tagebuch eintragen konnte. Die Taufe wurde in Eile durchgeführt, da Judsons schon am nächsten Tag ihre Reise nach Kalkutta antraten. Anns Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Monaten stark verschlechtert und Hoffnung auf Besserung war nur in einem gemäßigteren Klima realistisch. Sie erreichten Kalkutta Mitte August und blieben bis Ende November dort. Ann hatte sich erholt und schien gesund genug, um die Arbeit in Rangoon wieder aufzunehmen. Zurück in Rangoon erreichte sie die erfreuliche Nachricht, dass der frühere Vizekönig wieder eingesetzt worden war. Ann hatte zu seiner Frau ein freundschaftliches Verhältnis und der König war dem Christentum gegenüber tolerant eingestellt – aufgrund seiner hohen Meinung über die Judsons. Die Missionsarbeit in der Zayat konnte also wieder aufgenommen werden. In die Freude über die guten Entwicklungen in Ran- goon mischte sich schnell eine enttäuschende Feststellung: Ann war nicht wirklich gesund, ihre Leberbeschwerden traten nach kurzer Zeit in unverminderter Intensität auf. Schon in Kalkutta hatte ihr Arzt eine grundlegende Klimaveränderung empfohlen, was nichts anderes als eine Heimreise in die USA bedeutete. Judsons hatten gezögert, und da sich vorerst Besserung eingestellt hatte, diese Reise als nicht mehr notwendig betrachtet. › Ho nungsvolle Reise in die USA Am 21. August schiffte sich Ann nun doch mit Emily nach Bengal ein, um von dort in die USA zu reisen.a) Adoniram blieb allein zurück – er kommentierte den schmerzlichen Abschied in einem Brief an Hough mit den Worten: „Ich fühle mich, als wenn ich auf dem Schafott wäre und sozusagen mein eigenes Todesurteil unterzeichnen würde. Wie auch immer, zwei Jahre werden irgendwann vergangen sein. [...] Ich war damit beschäftigt den Entschluss zu fassen, mir meinen rechten Arm abhauen und mein rechtes Auge ausreißen zu lassen, denn der Arzt sagt, dass beides notwendig sei, um den Verfall und das Absterben des ganzen ehelichen Leibes zu vermeiden.“3 Ann erreichte Kalkutta in kritischem Zustand, fand aber keine Überfahrt in die USA und musste nach England ausweichen. Dort wurde sie von Joseph Butterworth, einem methodistischen Parlamentarier, aufgenommen und beherbergt. Erst im folgenden Jahr, 1822, brach Ann nach Philadelphia auf und erreichte ihren Heimatort Bradford. Nach zehn anstrengenden, unruhigen Wochen zog sie für den Rest ihres Aufenthaltes in das wärmere Baltimore zu Elnathan, Adonirams Bruder, wo sie sich rasch erholte. Während dieser Zeit schrieb sie ihrem englischen Wohltäter Butterworth eine Reihe von Briefen über die burmesische Mission, die später als Buch unter dem Titel „Ein Bericht über die amerikanische, baptistische Mission im burmesischen Königreich“ veröffentlicht wurde.4 Unter anderem lernte Ann in Baltimore auch den Geistlichen Francis Wayland kennen, bei dem sie einen tiefen Eindruck hinterließ.b) Wayland schrieb nach Adonirams Tod die erste und „offizielle“ zweibändige Biographie über Judson. › Zweite Begegnung mit dem König Während Ann in England und den USA weilte, kam Ende 1821 Familie Price als Unterstützung nach Rangoon. Dr. Price, ein „großgewachsener, hagerer Mensch, mit Haaren und Ideen, die gleicherweise nach allen Richtungen strebten“ 5, war Arzt und eröffnete sogleich eine Praxis, in der er Augenkrankheiten behandelte.c) Sein Spezialgebiet war die Entfernung von grauem Star, was ihm den Ruf eines Wunderheilers einbrachte. Es dauerte nicht lange, bis der König in Ava davon hörte und den „Zauberer“ einbestellte. Zwar hatte sich Price als ein Mensch, der einen Gedanken schon äußerte bevor er ihn formte, die Sprache spielend angeeignet, konnte aber dennoch unmöglich allein reisen. Daher begleitete Adoniram ihn, als er am 28. August 1822 ein Schiff auf dem Irrawaddy bestieg, um vor die „goldenen Füße“ zu treten. Adoniram reiste mit gemischten Gefühlen zum König. Doch seine Sorge war unbegründet. Der König hatte die Begebenheit von vor zwei Jahren offenbar gründlich vergessen und erkannte Adoniram nicht. Sein Augenmerk galt dem hageren Price und dessen Künsten. Dem Arzt wurde ein Grundstück zugewiesen, auf dem er ein Backsteinhaus errichtete und medizinisch tätig wurde. Adoniram knüpfte Beziehungen zu den Offziellen des Landes, unter anderem zu dem ältesten Halbbruder seiner Majestät. Überall schlug ihm Sympathie und Interesse entgegen und irgendwann äußerte auch der König ausdrücklich, dass Judson auch seine Frau nach Ava bringen sollte. Ihm wurde ebenfalls ein kleines Grundstück zugesprochen, auf dem er ein Gebäude errichten durfte. Vorerst reiste er jedoch nach Rangoon zurück, um dort die Übersetzung des NT fertigzustellend) und Ann zu erwarten. Am 12. Juli 1823 schloss er das NT ab. › Umzug nach Ava Ann traf am 5. Dezember 1823 in Rangoon ein – in Begleitung von Ehepaar Wade, die in die Missionsarbeit einstiegen. Zweieinhalb Jahre war Ann nun fort gewesen, aber viel Zeit, die neu gewonnene Gemeinsamkeit zu genießen, hatten sie nicht. Schon acht Tage später brachen Judsons nach Ava auf. Die Wades blieben mit Houghs in Rangoon und sollten dort die Missionsarbeit weiterführen. Adoniram richtete seine Perspektive auf die Königsstadt. Die Aussichten waren bei Adonirams Abreise aus Ava äußerst vielversprechend gewesen. Der König selbst hatte ihn eingeladen und er hatte Kontakte und Beziehungen in die allerhöchsten Kreise. Anns Berichte aus Kalkutta warfen jedoch erste Schatten an den Horizont. In der indischen Metropole wurde viel von Krieg gesprochen. In den letzten zwei Jahren war es immer wieder zu gewalttätigen Konflikten zwischen Burma und den angrenzenden, von den Engländern kontrollierten Staaten gekommen. Die Burmesen lebten in einer völligen Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse. Sie spotteten über die Engländer, die – wie sie meinten – auf einer kleinen Insel in einem anderen Teil der Welt lebten und ahnten wohl kaum etwas von der militärischen Stärke, die das Commonwealth als damalige Supermacht aufzubieten hatte. Protestbriefe des englischen Admirals Sir Archibald Campbell gegen die Übergriffe durch burmesische Einheiten wurden – wie die zögerliche Haltung der Grenzposten gegen Übergriffe – als Schwäche gewertet. Inzwischen waren in Ava auch einige hochstehende Berater in Ungnade gefallen und durch andere ersetzt worden, die eine kriegerische Auseinandersetzung forcierten. Als Adoniram und Ann den Irrawaddy hinauffuhren, begegneten ihnen immer wieder Kriegsschiffe. Auch Price kam ihnen entgegen, noch bevor sie Ava erreichten, und teilte ihnen mit, dass alle Ausländer inzwischen vom Hof mit äußerster Skepsis betrachtet wurden. Als sie in Ava eintrafen, bestätigten sich die Berichte. Adoniram wurde sehr kühl empfangen und kaum einer seiner früheren, interessierten „Freunde“ empfing ihn. So blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich in ihr kleines Häuschen am Strand zurückzuziehen und eine vorläufige Arbeitsroutine aufzunehmen. Adoniram arbeitete weiter an kleinen Übersetzungsarbeiten und predigte ab und zu in Price‘s Haus, Ann gründete eine kleine Schule. Sie nahm u.a. zwei kleine Mädchen einer psychisch kranken Frau an, die fortan bei ihr lebten. Adoniram schrieb in dieser Ungewissheit nach Boston: „In allen Fällen vertrauen wir darauf, dass wir einige teure Freunde zu Hause haben, die uns in ihren Herzen vor den Thron der Gnade tragen und einen noch viel teureren und größeren Freund zur Rechten der Majestät im Himmel, den das Gefühl unserer Schwäche nicht kalt lässt und der uns in der Zeit der Schwierigkeiten gnädig zur Hilfe kommen wird und uns am Ende als Überwinder hervorgehen lässt.“ 6 Ausländer gab es in Ava kaum. Neben Judsons und Price fanden sich nur noch fünf weitere – ein Portugiese, ein Amerikaner, ein Grieche, ein Armenier – und der Engländer Henry Gouger. Gouger war ein junger Mann, der in Burma in kurzer Zeit ein beträchtliches Vermögen angehäuft hatte. Sein Problem war das burmesische Recht – man durfte so viel besitzen, wie man wollte – aber man durfte nichts außer Landes schaffen. So war Gouger durch seinen Besitz an Burma gebunden. Er war ein äußerst interessanter, abenteuerlustiger Lebemann. Adoniram und er schlossen schnell Freundschaft und Gouger saß oft abends bei den Judsons und unterhielt Ann und Adoniram mit seinen erlebten Kuriositäten. › Beginn der Tragödie Am Sonntag, dem 23. Mai 1824, platzte während des Gottesdienstes ein Bote in das Haus von Price. Krieg! Die Engländer waren mit einem Flottenverbund in das Irrawaddy-Delta eingedrungen und hatten Rangoon eingenommen.e) Allgemeine Beklemmung beschlich die Anwesenden. Eigentlich hatten die Missionare nichts zu befürchten. Sie waren Amerikaner, keine Engländer. Sorgen musste sich vor allem Gouger machen. Er wurde kurz darauf intensiv verhört und sein Besitz durchsucht. In seinen Büchern fanden sich die Namen von Judson und Price – sie hatten über Gouger Geld von der Missionsgesellschaft erhalten. Von den Burmesen konnte natürlich kaum verlangt werden, dass sie über Finanztransaktionen Kenntnis hatten.f) Sie schlussfolgerten, dass die Missionare von den Engländern bezahlte Spione sein mussten! In den Abendstunden des 8. Juni 1823 vernahmen die Judsons von draußen ungewöhnliche Laute. Die Nachbarschaft war in heller Aufregung. Bevor sie jedoch realisieren konnten, was vor sich ging, wurde die Tür aufgestoßen und ein Dutzend Burmesen drang in den kleinen Raum. Ein Beamter brüllte: „Wo ist der Lehrer?“ „Hier“, antwortete Adoniram. „Der König ruft dich!“, eine euphemistische Umschreibung für eine Verhaftung. Der harsche Befehl war kaum verklungen, als Adoniram von einem im Gesicht tätowierten Mann gepackt und eine feine Schnur um seine Arme geschlungen wurde. Diese „Fleckengesichter“ waren Schwerverbrecher, welche zur Verwaltung der Gefängnisse herangezogen wurden. Ihr Arbeitsmittel war bevorzugt die dünne Schnur: sie waren damit in der Lage, ihrem Opfer nicht nur das Blut abzuschnüren, sondern ganze Körperteile abzutrennen oder die Opfer am Kopf zu würgen und zu drosseln, bis ihnen das Blut aus Mund und Nase lief und sie daran erstickten. Adoniram wurde zu Boden geworfen und aus dem Haus geschliffen. Das Ganze ging so schnell, dass kaum Zeit zum Nachdenken blieb. Ann – die von diesem Zeitpunkt an unter Arrest standg) – schickte den bei ihnen lebenden Moung Ing hinter den Männern her, um über das Schicksal ihres Mannes Bescheid zu erlangen. Er kam spät zurück und berichtete in tiefer Bestürzung, dass Adoniram in das „Todes-Gefängnis“ gebracht worden war. › Das Todes-Gefängnis Im Gefängnis wurden Adoniram schwere Ketten angelegt, in denen er kaum gehen konnte: bei seinen ersten Versuchen fiel er sofort nieder. Der Gefängnisaufseher – ebenfalls ein „Fleckengesicht“ und auf der Brust mit der Aufschrift „Mörder“ tätowiert – grinste ihn höhnisch an und hieß ihn in seiner „Familie“ willkommen. Er ließ sich „Väterchen“h) nennen, das sich „liebevoll“ um seine „Kinder“ kümmern würde. Adoniram wurde in eine ca. 9x12 mi) große Holzbaracke geworfen, in der schon ca. 40 bis 50 Männer und einige Frauen lagenj). Dem fensterlosen Raum diente als Lichtquelle nur eine rauchende Ölfunzel auf einem kleinen Stativ in der Mitte der Zelle. Licht drang sonst nur durch die Wandritzen herein. Nachdem Adoniram sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, bemerkte er die anderen Ausländer in einer Ecke des Raumes. Price fehlte – er wurde kurz darauf durch einen kräftigen Schlag ins Gesicht mit einem schweren Knüppel zu den anderen gepfercht. Gesprochen wurde kaum. Die meisten Mitgefangenen waren nur noch Haut und Knochen, kaum bekleidet, denen Angst und Elend aus den Augen starrten. Es stank erbärmlich. Der Boden war bedeckt mit Unrat, verfaulten Essensresten und allerlei sonstigem Schmutz. Seit Jahren war nicht gereinigt worden, Toiletten gab es nicht, es wimmelte von Ungeziefer und Ratten. Dazu kam die Temperatur von knapp 40°C. Abends betrat „Vater“ mit einigen Gehilfen den Raum. Sie ließen eine lange Bambusstange von der Decke herab und schoben sie zwischen den Beinen der Gefangenen hindurch, so dass sie – nachdem die Stange mit einer Art Flaschenzug wieder hochgezogen wurde – an ihren Fußfesseln hingen. Die Schultern berührten dabei noch den Boden, der Rest des Körpers hing in der Luft, „nicht hoch genug, um das Leben zu gefährden, aber auch nicht tief genug, um Schmerzen zu vermeiden“7. Die Stange wurde erst morgens wieder heruntergelassen. Tagsüber durften die Gefangenen für fünf Minuten in den Innenhof – danach ging es wieder in die Zelle. Neben den körperlichen Qualen kam die Ungewissheit über die Zukunft. Sie waren sich sicher, dass sie getötet werden sollten, aber keiner wusste wann oder wie. Immer wieder hörten sie Schreie von Mitgefangenen, die auf grausamste Art und Weise gefoltert wurden – Henry Gouger erspähte durch die Ritzen der Wände Folterungen, die oft im Tod endeten und während der gelegentlichen „Freigänge“ wurden die Ausländer nicht selten Zeugen von brutalen Hinrichtungen. Wenn eine Hinrichtung anstand, ertönte um drei Uhr ein tiefer Gong – die Tür öffnete sich und ein „Fleckengesicht“ ging zielstrebig auf das Opfer zu. Es wurde nicht geredet, keine Anklage, keine Verteidigung, keine Fragen, keine Antworten – der Gefangene wurde herausgebracht und verschwand für immer. Niemand wusste im Vorfeld, wen es traf! › Ann Dem Abend der Verhaftung folgte auch für Ann eine furchtbare Nacht. Sie wurde von den außenstehenden Wachen bedroht, beschimpft und bedrängt. Geistesgegenwärtig vernichtete sie einen Großteil der Manuskripte und alles von dem sie meinte, es könne gegen sie verwendet werden. Silber, einige Wertgegenstände und die Manuskripte des NT vergrub sie im Garten. Am nächsten Morgen hatte sie ihre Fassung wieder erlangt und reichte den verblüfften Wachen Zigaretten und Kaffee als Geschenke – was nicht ohne Wirkung blieb. Die Beamten, die im Folgenden kamen um die Habe Judsons zu durchsuchen, wurden auf ähnliche Weise empfangen und verhielten sich ihr gegenüber respektvoll und freundlich. Sobald ihr Hausarrest aufgehoben wurde, eilte sie zum Gouverneur und versuchte mit allen Mitteln, eine Erleichterung für ihren Mann zu erreichen. Ihr Eifer und ihre Hartnäckigkeit sind schlicht bewundernswert. Immer wieder scheiterte sie, wurden Vergünstigungen plötzlich zurückgenommen, schon Gewährtes wieder verboten. Mal durfte sie zu Adoniram, dann wieder nicht. Oft konnte Moung Ing oder ein anderer Diener Adoniram besuchen – dann war es wieder verboten. Manchmal gestattete man ihr den Zutritt nur in den Abendstunden, so dass sie im Dunkeln durch die Stadt nach Hause gehen musste. Die 19 Monate dauernde Gefangenschaft war eine einzige, unvorstellbare Tortur, in die wir uns kaum hineindenken können.k) Zwischenzeitlich erreichte sie es, dass Adoniram im Innenhof eine Bambushütte bekam, in der er sich tagsüber aufhalten konnte. Adoniram und die anderen versuchten, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Adoniram war durch die Umstände oft gereizt. Gouger berichtet, dass Price im Schlaf oft seine Knie an die Brust zog und Adoniram dabei in den Rücken stieß – so dass dieser irgendwann aufschrie: „Bruder Price, Sie sind eine öffentliche Plage! Ich bestehe darauf, dass Sie schlafen wie andere vernünftige Leute auch!“8 Gouger – kein Christ – legte sich zwischen die beiden. Er war das ausgleichende Element in dieser Zeit und wirkte mit seiner Gelassenheit auch auf die anderen Gefangenen beruhigend. Judson, oft verzweifelnd, bemühte sich sehr um eine innere Ausgeglichenheit und rezitierte zu diesem Zweck oft die Mystikerin Madame Guyon – ein für uns sicher befremdlicher Zug, auf den im weiteren Verlauf seiner Geschichte noch einzugehen ist. Dann trat eine weitere Sorge in Adonirams Leben: Ann war schwanger! Am 26. Januar 1825 brachte sie ihr drittes Kind, Maria Elizabeth Butterworth Judson, zur Welt. Zwanzig Tage später durfte Judson es im Gefängnis in seine Arme schließen. Nach einigen Monaten wurden die Gefangenen plötzlich von ihrer inzwischen einigermaßen erträglichen Stätte im Innenhof zurück in die Zelle verlegt. Die Bambushütte wurde zerstört und auch der fünfminütige Spaziergang im Hof wurde gestrichen. Es war so weit – der Zeitpunkt ihrer Exekution stand bevor. Je näher die bekannte Todesstunde heranrückte, desto stiller wurden die Gefangenen. Adoniram sprach ein Gebet, worauf sich alle anderen anschlossen. Der Gong – ertönte nicht. Stattdessen wurde die Tür aufgerissen und die Gefangenen atmeten durch. Drei Uhr war offenbar schon vorbei, heute war ihre Stunde anscheinend doch nicht gekommen. Was war geschehen? Der König hatte dem Gouverneur mehrfach die Anweisung gegeben, alle ausländischen Gefangenen hinrichten zu lassen. Ein Befehl, den der Gouverneur um Anns willen nicht umgesetzt hatte! Um die Ausländer aber aus dem Blickfeld zu rücken hatte er angeordnet, die Häftlinge in die Zelle zu verlegen und nicht mehr herauszulassen. › Oung-pen-la Eines Tages jedoch wurde Ann – die inzwischen im Garten des Gouverneurs eine Hütte hergerichtet hatte, um möglichst nahe am Gefängnis zu sein – zu dem Gouverneur gerufen, der auffällig lang mit ihr über seine Uhr und andere Belanglosigkeiten reden wollte. In der Zwischenzeit wurde im Gefängnis die Zellentür geöffnet und die Ausländer herausgeführt. Nicht wissend, was geschehen sollte, rechneten sie mit dem chlimmsten, als sie – jeder von einem „Fleckengesicht“ an einem Strick geführt – auf den Exekutionsplatz zuhielten. Die grausamen Wärter führten sie jedoch weiter, aus der Stadt hinaus. Adoniram war von einem schweren Fieber stark geschwächt, außerdem waren alle Gefangenen barfuß. Nach wenigen Metern waren die Füße voller Blasen, in die der in der Sonne glühende Sand eindrang. Adonirams Füße waren schnell nur noch eine eischige, blutende Masse, jeder Schritt eine Folter. Ein bengalischer Diener von Gouger, der ihnen gefolgt war, zerriss seinen Turban und verband Adonirams und Gougers Füße. Als sie über eine Brücke gingen, dachte Adoniram kurz daran, sich hinunterzuwerfen – aber da er an einen Mitgefangenen gefesselt war, war ihm dies (glücklicherweise) nicht möglich. Am Abend machte die Gruppe Rast und sollte am nächsten Morgen weitergehen. Die Gefangenen waren dazu aber rein physisch nicht mehr in der Lage, was auch die „Fleckengesichter“ allmählich einsahen und einen Wagen organisierten, der die Überlebendenl) zu ihrem neuen Gefängnis bringen sollte: Oung-pen-la. Ann verließ den Gouverneur nach einer Weile sehr verwundert und traf draußen auf einen Diener, der ihr hastig berichtete, dass alle Gefangenen weggebracht worden waren – und niemand wisse wohin. Sie stellte den Gouverneur zur Rede, der ihr unter Tränen beichtete, sie eben deshalb aufgehalten zu haben. Ann rannte durch alle Straßen, fragte, suchte und forschte und konnte doch nichts herausfinden. Erst am Abend, als sie wieder zum Gouverneur kam, teilte ihr dieser mit, dass die Gefangenen nach Aramapoora gebracht werden sollten – wovon er selbst gerade erst erfahren hatte. Später traf Ann noch besagten Diener von Henry Gouger, der ihr konkretere Informationen geben konnte. Am nächsten Tag machte sie sich mit ihrer drei Monate alten Tochter, den beiden angenommenen Mädchen und dem Koch Moo-Chil auf die beschwerliche Reise nach Oung-pen-la. Dort angekommen quartierte sie sich bei einem Gefängniswärter ein und sorgte von dort aus für Adoniram. Die Haftbedingungen waren zwar erträglicher als in Ava, aber immer noch schwebte die Ungewissheit ihres zukünftigen Schicksals über ihnen. Als Ann nach einigen Wochen schwer krank wurde, gestatteten die Wärter Adoniram, tagsüber in das nahe gelegene Dorf zu gehen, um dort stillende Mütter zu finden, die der kleinen Maria eine Mahlzeit geben könnten. Ann schrieb später in einem Bericht über das Geschehen dieser Zeit: „Wenn ich nicht den Trost aus dem Glauben nd eine feste Überzeugung gehabt hätte, dass jede die- ser zusätzlichen Prüfungen von unendlicher Liebe und Barmherzigkeit angeordnet wurde – ich wäre unter den aufgehäuften Leiden zusammengebrochen.“9 m) Nach 17 Monaten wurde Adoniram plötzlich abgeholt und nach Ava und von dort weiter nach Maloon ins Hauptquartier der burmesischen Truppen gebracht. Er sollte bei den Friedensverhandlungen übersetzen. Sechs Wochen später wurde er zurück nach Ava geschickt, wo man nichts mit ihm anzufangen wusste und in einer schä- bigen Hütte unter Bewachung stellte. Der Gouverneur, inzwischen in der Hierarchie aufgestiegen, verbürgte sich persönlich für ihn, so dass Adoniram vorerst frei war. n) Er eilte, immer noch schwach , zu ihrem Haus. Die Tür stand weit offen. Er trat ein und sah eine kräftige, ihm unbekannte Frau, die ein kleines, schmutziges Baby in ihren Armen hielt. Erst auf den zweiten Blick erkannte er seine kleine Maria! Hastig betrat er das Schlafzimmer. Auf dem Bett lag lang ausgestreckt eine ausgezehrte Frauengestalt, kahl rasiert, blass, schlafend. Ann! Sie erwachte und lächelte Adoniram schwach an. Während er in Maloon war, hatte sie das Flecken eber bekommen, eine Krankheit, die normalerweise tödlich endete. Dr. Price, der nach seiner Entlassung sofort zu ihr eilte, gab ihr nur wenige Stunden. Sie war dem Tod so nahe, dass die Nachbarn sagten: „Sollte der König der Engel selbst zu ihr treten, er könnte sie nicht wieder zum Leben erwecken!“10 Aber der Fürst des Lebens konnte! Ann genas tatsächlich, und endlich – nach weiteren Verwicklungen und Wendungen – bestiegen sie am 21. Februar 1826 den Dampfer „Diana“, der sie in das englische Camp bringen sollte. Sie waren frei! Die Tragödie von Ava war beendet. Vorerst ...

Nachtext

a) Emily – die inzwischen sieben Jahre bei Judsons gelebt hatte – reiste von Bengal nach Madras und blieb dort. Ihre weitere Geschichte ist gänzlich unbekannt. b) Wayland hat ihr ein beachtenswertes Zeugnis ausgestellt – hier ein kurzer Auszug: „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine bemerkens- wertere Frau getroffen zu haben. Zu einem großen, klaren Intellekt, einer hohen Auffassungsgabe und intuitiver weiblicher Urteilsfähigkeit, gereift durch die ständige Notwendigkeit unabhängigen Handelns, fügte sie die heldenhafte Selbstlosigkeit hinzu, die ganz natürlich alles Ichbewusstsein in der Verfolgung eines großen Ziels verliert. [...] Wenn sie sich unter Freunden fand, die Interesse an der burmesischen Mission hatten, schmolz ihre Reserviertheit, ihre Augen ammten auf, jeder Gesichtszug wurde durch Enthusiasmus erleuchtet, und sie wurde überall als eine der faszinierendsten Frauen anerkannt.“ Wayland, S. 304 c) PricekammitseinerFrauundeinemKleinkindinRangoonan.SeineFraustarbimdarauffolgendenMaiundwurdeneben„LittleRoger“beigesetzt. Das Kind sandte Price zurück nach Kalkutta, wo es bei einer P egefamilie lebte. Price heiratete später eine Frau aus Siam – aber wohl eher aus einem P ichtgefühl, da er sie bei einer missglückten Operation des Augenlichts gänzlich beraubt hatte ... d) Die Entwicklung der Missionsarbeit während seines Aufenthaltes in Ava war unglücklich verlaufen. Zwar war Familie Hough inzwischen wieder nach Rangoon zurückgekehrt, aber Houghs Stärken lagen nicht in der Predigt und der Missionstätigkeit. Außerdem war erneut ein neuer Vize-König und Gouverneur eingesetzt worden, der die Christen offen unterdrückte und sich an ihnen zu bereichern versuchte. Einige Christen ohen und zogen an andere Orte, so dass Judson bei seiner Rückkehr nur eine sehr kleine Schar vorfand. e) Der Kriegsverlauf dieses ersten „anglo-birmanischen“ Krieges kann hier aus Platzgründen leider nicht vollständig dargestellt werden. Of ziell begann der Krieg schon am 5. Mai 1824. Zuerst lag die Kriegsfront an der Westküste bei Chittagong, bis die Engländer überraschend von Süden über den Irrawaddy in das Land eindrangen. Liest man nur die Schriften der Missionare, so erhält man den Eindruck, dass der Krieg schon von Anfang an zu Gunsten der Engländer entschieden war und es für sie ein Geringes war, die burmesische Armee zu schlagen (genauso wenig sollte der Eindruck entstehen, dass die Engländer ihrerseits dem Krieg gegenüber ausschließlich abwehrend eingestellt waren). Tatsächlich war der Krieg der längste und teuerste Krieg der Geschichte Britisch- Indiens. Die Engländer hatten am Ende, trotz deutlich überlegener Waffentechnik, einen Verlust von 15.000 Mann zu beklagen. Anfänglich hatten die Burmesen militärisch wichtige Erfolge vorzuweisen und es waren hauptsächlich taktische Fehlentscheidungen, die zur Niederlage führten. Die benötigten Mittel (ca. 18,5 bis 48 Milliarden Dollar (umgerechnet auf den Dollar-Stand 2006)) führten 1833 zu einer massiven ökonomischen Krise, von der sich Britisch-Indien nie mehr vollständig erholte. Die Verluste auf birmanischer Seite waren nichts desto trotz ungleich höher. Dem Land wurden im Vertrag von Yandabo – der maßgeblich von Adoniram Judson und Henry Gouger übersetzt wurde – hohe Reparationszahlungen aufgezwungen, die das Land für lange Zeit schwer bedrückten. Detaillierte Informationen lassen sich auf der englischen wikipedia-Seite unter dem Stichwort „Anglo-Burmese Wars“ nden. f)Die Missionare nutzten ihren reichen Freund sozusagen als Bank, in dem die Missionsgesellschaft ihm Gelder „überwies“ und Gouger diese den Missionaren in bar auszahlte. g)Der Beamte wollte sie auch verhaften, aber da er keinen ausdrücklichen derartigen Befehl hatte, gelang es Adoniram ihn zu überzeugen, er solle erst offizielle Anordnungen abwarten, worauf er sich damit begnügte, Wachen um das Haus zu stellen. h) Tatsächlich berichten die Missionare, dass der Aufseher so angeredet werden wollte. i) 30x40 Fuß j) Während der Gefangenschaft Judson kam es einmal vor, dass zusätzlich 300 Gefangene für eine Nacht in die Zelle gepfercht wurden. k) Aus Platzgründen kann hier auf viele Details und Entwicklungen nicht eingegangen werden. Der interessierte Leser sei auf die bald im CLV erscheinende ausführliche und spannende Biographie von Courtney Anderson verwiesen. l) Der Grieche, fortgeschrittenen Alters und übergewichtig, überlebte die Strapazen nicht und brach während des Marsches zusammen. m) 11 in Ava und 6 in Oung-pen-la n) Die sechs Wochen im Hauptquartier in Maloon waren kaum besser als die Gefangenschaft. Schlechtes Essen, eine stickige Hütte, unfreundliche Behandlung und Fieber, das ihn zweitweise arbeitsun- fähig machte und ins Delirium versetzte, markierten diese Zeit.

Quellenangaben

QUELLENANGABEN 1 Brief an Ann, Wayland, S. 3022 2 Gedicht für seine Tochter Maria Elizabeth Butterworth – gedichtet im Todes-Gefängnis von Ava, aufgeschrieben nach der Freilassung; Deutsch in Warburton, S. 161 3 Anderson, S. 273; Warburton S. 134 (zweiter Teil) 4 Dieses Buch ist – wie die meisten aus dieser Zeit – heute im Internet frei verfügbar und z.B. über Google Books lesbar 5 Warburton, S. 138 6 Brief an Rev. Baldwin, Judson S. 216; 7 Judson, S. 221 8 Warburton, S. 159 9 Wayland, S. 361 10 Warburton, S. 173 Strichzeichnungen S. 19 und 20 aus Judson, S. 218