Zeitschrift-Artikel: Wenn die Form den Inhalt dominiert … Ein Familienbesuch bei ICF

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Titel: Wenn die Form den Inhalt dominiert … Ein Familienbesuch bei ICF
Typ: Artikel
Autor: Hanniel Strebel
Autor (Anmerkung):

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Titel

Wenn die Form den Inhalt dominiert … Ein Familienbesuch bei ICF

Vortext

Text

Wir wollen unbedingt einmal in die ICF gehen!“ Mit neugierig-offenem Blick schaut mich mein zehnjähriger an. „Ich gehe nächsten Sonntag mit euch hin.“ Als Eltern wollen wir die Ersten sein, die ein neues Kapitel im Leben unserer fünf Söhne eröffnen. Mein Ältester schrieb für uns den Weg auf. Wir wählten den ersten Gottesdienst um 9:30 Uhr. „Unplugged.“ – „Was heißt das?“ Na ja, ohne Strom kommt dieser Gottesdienst nicht aus. Im Gegenteil: Hätte man das Kabel gezogen, hätten wir im Dunkeln gesessen. Das Schlagzeug spielt dezent, zwei akustische Gitarren und ein akustischer Bass, drei Sänger, ein zurückhaltend bespieltes E-Piano. Männer tragen Hipster-Frisuren, als Ganzrasierter befinde ich mich in der Minderheit. Ebenso fehlen mir die kurze Hose und das Tattoo über dem Knöchel und die Sonnenbrille. Das schwarz-reflektierende Stadtbike hätte ich pro­blemlos im urbanen Sihlcity-Komplex (Einkaufszentrum in Zürich) parken können. Ein kurz rasierter Endzwanziger fängt unsere Jungs vor der Rolltreppe ab: „Es gibt Games. Es wird lustig. Wir gucken zusammen einen Film.“ Lächelnd stehe ich daneben. Meine Jungs sollen sich selber entscheiden. Unschlüssig stehen sie vor der Rolltreppe. Einer meint: „Ich möchte sehen, wie der Saal aussieht.“ Meine Frau sucht noch die Toilette auf. Hinterher erklärt sie: „Hauptsache, es wird nicht ruhig. Selbst auf dem stillen Örtchen laufen Filme!“ Erschreckt schaut mich meine Frau an. Eine 24-Stunden-Powerfrau hätte sich gerade diese 30 ruhigen Sekunden gewünscht. Wir konsultieren schnell noch den Büchertisch. Die neuesten fontis-Bände liegen auf, auch Johannes Hartls Gebetsbuch. „Dann bitte in die letzte Reihe!“ Die Kinder haben sich entschlossen, mit uns in den Hauptgottesdienst zu gehen. Der Türsteher hält uns auf, mustert uns kurz und weist mich mit bestimmtem Ton an: „Dann bitte in die letzte Reihe!“ Wir versinken in den roten Kinoplüschsesseln. Das abgemagerte Mädchen im schicken Outfit, das mit uns im Bus hingefahren ist, haben wir aus den Augen verloren. Es ist dunkel. Mein Sechsjähriger fragt mich: „Wie kann ich aufschreiben, wenn alles dunkel ist?“ Das habe ich mich auch gefragt. Ich bin gezwungen die Notizen im Dunkeln anzufertigen. Auch mal eine Erfahrung … Hervorragende Visualisierung Vor mir stehen sechs schlanke, blonde Frauen auf und strecken die Hände in die Höhe. Ein sehr nettes Zürich-deutsches Lied wird gespielt. Echt guter, biblischer Inhalt. Man hätte problemlos einen kurzen biblischen Impuls zum Lied anhängen können. Stattdessen streckt der Worship-Leiter mit Baseballmütze beide Arme in die Luft und betet: „Ich bitte dich für neue Träume und für eine neue Leidenschaft.“ Ich wünsche mir aber die alten Träume. Diejenigen, die unsere Vorfahren im Glauben auch schon hatten und die unser Land der Reformation nachhaltig veränderten. „Sehen“ bleibt das entscheidende Stichwort. Die Visualisierung war über die gesamten 75 Minuten hervorragend … Meine Frau meinte hinterher: „Das Video von der radikalen Veränderung im Leben dieses jungen Mannes bleibt mir am meisten in Erinnerung.“ Wirklich krass, wie er durch Gottes Gnade Veränderung erfahren durfte. Mir kamen auch die Tränen. Ein junger Mann erlebt durch die Bekehrung seiner Eltern selber eine radikale Kehrtwende. Der Bass wummert in meinem Brustkasten. Das fühlt sich als Herz-Operierter etwas unangenehm an. Der Geschäftsführer berichtet anhand von Gebetskarten von Heilungen an Wirbelsäule, am Herzen und von Krebs. Leise fragt meine Frau: „Und was machen all diejenigen, die nicht geheilt werden?“ Ich denke: Es gibt eine breite Vordertür, also auch eine breite Hintertür. Ich kenne viele Gleichaltrige, für die der ICF eine Lebensphase war. Eine fromme, die jetzt vergangen ist. „Kirche ist ein Ort, wo wir füreinander beten und einander tragen. Gott weiß, wie dein Körper funktionieren muss.“ Etwa ein Dutzend Mal werden wir aufgefordert, einen Applaus zu geben. „Keine Angst, wir sprechen nicht jeden Sonntag über Zahlen.“ Das Geschäft läuft, die Zahlen stimmen. „Well done. Gebt euch einen Handshake!“ Nach einem weiteren Lied – dieses Mal in englischer Sprache – betritt der ICF-Gründer Bigger die Bühne. Es ist „Vision Sunday“. Mein Achtjähriger flüstert mir zu: „Hier musst du schon einige englische Ausdrücke kennen.“ Ich frage zurück: „Weshalb?“ – „Weil es cool ist!“ Ich nicke. Dann noch eine Frage: „Ist das jetzt die Predigt gewesen?“ Nein, da kommt wohl noch etwas. Die 60 Vollzeit-Angestellten und die zahlreichen Freiwilligen haben wirklich Vollgas gegeben. Es ist ungeheuer angenehm. „Wenn ich ein Mann bin, gehe ich immer in die ICF.“ Ich will wissen, weshalb. „Weil hier so angenehme Stühle sind.“ Auf dem Nachhauseweg fügen die anderen hinzu: „Toller Sound, super Filme.“ „Würdest du auch solche Scheinwerfer kaufen, wenn du eine Gemeinde gründen würdest?“ „Neue kommen, weil es keine Predigt gibt!“ Kurz flackert eine Folie mit Epheser 4,11–12 auf. Es geht um den fünffältigen Dienst (Apostel, Propheten, Hirten und Lehrer, Evangelisten). „Das wichtigste ist die Balance.“ Der gebräunte Redner mit schicken Jeans und roten glänzenden Turnschuhen führt anhand seiner fünf Finger vor, warum es alle fünf Dienste braucht. Dann wird aus allen fünf Diensten ein Clip gezeigt oder ein Interview geführt. Es sind viele neue, konkrete „Tools“ geplant. Zum Beispiel eine neue Online-Plattform mit „tiefen Teachings“. Viermal fällt der Satz – ich habe mitgezählt: „Neue kommen, weil es keine Predigt gibt.“ „Da kommt man noch einmal gut davon.“ Sie wollen genau das bieten, was wir brauchen. „Wir sind Könige und Königinnen. Du bist nicht bestimmt durch deine Umstände.“ Ja genau, die Siegertypen werden angesprochen. Du musst hart wollen, dann wirst du eine emotionale Veränderung erfahren. „Das Musical ist die beste Form von Evangelisation, denn es spricht emotional an.“ Genau dies muss uns abgestumpften Medienkonsumenten passieren. Der ultimative Stimulus wird gebraucht, die emotionale Spitze. „Wir wollen nicht wissen, wir wollen erleben und sehen.“ Danke, ich habe es schon oft genug gehört. Christsein ist Gefühls- und wenn es hochkommt noch Willenssache. Den Verstand lässt man doch besser zu Hause. So wie das Tagebuch auch. Man kann die Session nachher ja noch auf der Online-Plattform angucken. One Church, many Locations. Mehr Food wird es in den nächsten Monaten geben. Ein prophetisches Tool wird jeder Frau und jedem Mann aufzeigen, was Gott über ihre bzw. seine Situation denkt und wie sie ihren Einflussbereich ausweiten können. Bin ich bereit für gute Taten (eine Anspielung auf 2Tim 3,17)? Will ich mich durch Gottes Geist verändern lassen? Eventuell. Tönt gar nicht schlecht … Es fehlt mir die Hauptsache Was ist nun das erste Kriterium für einen Gottesdienst? Ich hoffe, ich habe es genügend herausgestellt: Da war tolle Performance. Da war tolles Engagement. Da war von allem etwas drin. Doch es fehlte mir das Hauptstück: Die sorgfältige, gut strukturierte und auf das Leben der Zuhörenden angewandte Auslegung eines Bibelabschnitts. Das ist keine Forderung eines denkenden Menschen. Gott hat es als Mittel gewählt, um alle Menschen anzusprechen. „Wie würdest du den Gottesdienst aufbauen?“ fragt einer meiner Söhne. Mein Vorschlag: Eine Lesung aus dem Alten und aus dem Neuen Testament und natürlich eine bibelauslegende Predigt. Jedes Element des Ablaufs wird genau und mit Bibelbezug erklärt. Danach Zeit, um über Sünde im eigenen Leben nachzudenken und Sünden zu bekennen. Dann das gemeinsame Glaubensbekenntnis, auch zwei Fragen aus dem Katechismus würden dazu gehören. We desperately need to hear God’s word. Nicht weil wir das Buch anbeten. Sondern weil der Schöpfer und Erlöser angekündigt hat, durch dieses Wort zu sprechen.  Ich bleibe bei meiner These: Die Form determiniert (leider) den Inhalt; es müsste umgekehrt sein.

Nachtext

Anmerkung: Der Besuch fand 2015 statt. Meine aktuelle Sorge besteht darin, dass durch die Dominanz der Form ungehindert veränderte Inhalte eingeführt werden können.

Quellenangaben