Zeitschrift-Artikel: Stärker als der Tod VON DER BEZWINGENDEN MACHT DER LIEBE

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Titel: Stärker als der Tod VON DER BEZWINGENDEN MACHT DER LIEBE
Typ: Artikel
Autor: Iwan Turgenjew
Autor (Anmerkung): (1818-1883)

online gelesen: 2234

Titel

Stärker als der Tod VON DER BEZWINGENDEN MACHT DER LIEBE

Vortext

Text

Auf der Heimkehr von der Jagd durchquerte ich eine Gartenallee. Mein Hund lief mir voraus. Plötzlich hemmte er seinen Lauf und begann zu schleichen, als wittere er vor sich ein Wild. Ich blickte die Allee hinunter und bemerkte einen jungen Vogel auf dem Weg. Ein gelbgerandeter Schnabel und grauer Flaum auf dem Köpfchen: offenbar ein Sperling. Er war aus dem Nest gefallen, denn ein heftiger Wind schüttelte die Birken der Allee. Das Vögelchen hockte unbeweglich, hilflos seine kaum hervorgesprossenen Flügel ausstreckend. Langsam näherte sich mein Hund, als plötzlich von einem nahen Baum ein ausgewachsener Sperling wie ein Stein herabstürzte, gerade vor seiner Schnauze zu Boden fiel und völlig zerzaust, verstört, mit verzweifeltem, kläglichem Gezeter mehrmals gegen den scharfgezahnten, geöffneten Rachen lossprang. Er warf sich über sein Junges, um es zu retten. Mit dem eigenen Leib wollte er es schützen... doch sein ganzer kleiner Körper bebte vor Schrecken, sein Stimmchen klang wild und heiser, Betäubung erfasste ihn. Er opferte sich selbst! Als welch riesengroßes Untier musste ihm der Hund erscheinen! Und dennoch hatte er nicht auf seinem hohen, sicheren Ast zu bleiben vermocht ... Eine Macht, stärker als sein Wille, riss ihn von dort oben herab. Mein Hund hielt inne, wich zurück ... Begriff auch er etwas von dieser aufopfernden Macht? Schnell pfiff ich meinen verblüfften Jagdgenossen zurück. Er ließ von den Vögeln ab. Wir gingen mit Ehrfurcht im Herzen weiter. Lächelt nicht darüber! Ich empfand Ehrfurcht vor diesem kleinen, heldenmütigen Vogel; vor der überwältigenden Kraft seiner Liebe. „Die Liebe“, dachte ich, „ist stärker als der Tod und die Schrecken des Todes. Sie allein – allein die Liebe – erhält und bewegt unser Leben.“

Nachtext

Quellenangaben

Aus: Unvergängliches Abendland – Ein Hausbuch europäischer Dichtung; CBV; 1952