Zeitschrift-Artikel: Der E-Faktor - Evangelikale unterwegs in unsichere Gewässer ...

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Titel: Der E-Faktor - Evangelikale unterwegs in unsichere Gewässer ...
Typ: Artikel
Autor: Wolfgang Bühne
Autor (Anmerkung):

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Titel

Der E-Faktor - Evangelikale unterwegs in unsichere Gewässer ...

Vortext

Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt,
treibt flott im Sog der Zeit.
Am Horizont ein Leuchtturm brennt,
doch der ist fremd und weit.

Die Nadel im Kompassgehäuse
weist längst nicht mehr nach Nord.
Das Logbuch fraßen die Mäuse.
Die Seekarte flog über Bord.

Sie ändern die Farben des Standers.
Sie ändern den Kurs ohne Scheu.
Sie machen alles anders ...
Ein anderer macht alles neu.

Text

Diese Zeilen, die bereits 1970 im Mecklenburger Sonntagsblatt zu lesen waren, kamen mir wieder in den Sinn, als ich das Cover dieses im Jahr 2005 erschienenen Buches betrachtete: Ein Schlepper mit der weithin erkennbaren Aufschrift „E“ für Evangelikale zieht den schwerfälligen Ozeanriesen „Christenheit“ hinter sich her in ein Fahrwasser oder einen Hafen, der als Ziel oder Identität nicht erkennbar ist. Es geht also in diesem Buch um den zukünftigen Weg der Evangelikalen.

Die Mannschaft an Bord
Am Steuerrad des Schleppers „E“ – um in diesem Bild zu bleiben – befinden sich „17 Denker, Entscheider, Gründer oder Praktiker aus der evangelikalen Szene“ (S. 8), die eine Zukunftsdebatte darüber anstoßen wollen, welche innovativen Wege aufgezeigt werden können, um der evangelikalen Bewegung „zu neuer gemeinsamer Stoßkraft und Attraktivität in Kirche und Gesellschaft“ (S. 9) zu verhelfen.
Unter diesen 17 Männern befinden sich u.a. Roland Werner, Peter Aschoff, Heinzpeter Hempelmann, Jürgen Mette, H. Christian Rust, Peter Wenz, Ingolf Ellßel, Peter Strauch, Andreas Malessa und Rudolf Westerheide – Persönlichkeiten, die als Führer innerhalb der Pfingstbewegung, der Charismatischen Bewegung, der Evangelischen Allianz, der Freien Gemeinden, der Baptisten und der Gemeinschaftsbewegung Rang und Namen haben.
Bei aller Verschiedenheit in ihrer theologischen Ausrichtung sind sie sich darin einig: „Das Unkraut der Abgrenzung und des Streits muss mit den Wurzeln ausgerottet werden“ (so Astrid Eichler, S. 167), damit eine „geistliche Star Alliance“ entstehen kann, „die die vielen unterschiedlichen evangelikalen Fluggesellschaften locker koordiniert und auf der Basis einer gemeinsamen geistlichen DNA einen gemeinsamen Flugplan entwickelt, bei dem jede fromme Airline Identität und Profil behält und man die gesteckten Ziele dennoch erfolgreicher ... erreicht“ (so U. Eggers, S. 244).
Helmut Matthies, der Leiter von „idea“, den man eigentlich nicht in dieser Gesellschaft vermutet, ist auch mit von der Partie. Wobei man sich fragt, ob er vielleicht ein „blinder Passagier“ ist oder sich auf das Schiff verlaufen hat, denn in seinem Artikel „Evangelikale in der Gesellschaft“ liest man Sätze, die im Vergleich zu vielen anderen Beiträgen in diesem Buch schrill klingen: „Nichts hat der Christenheit mehr geschadet als Kompromisse in zentralen Glaubensfragen.“ (S. 74)
Auch eine Frau ist dabei: Pfarrerin Astrid Eichler aus dem Kreis „Charismatischer Leiter“, die nach eigenen Worten dabei ist „Mitglied einer katholischen Gemeinschaft zu werden, die eine ökumenische Berufung lebt.“ (S. 167)
„Kapitäne“ an Bord sind Ulrich Eggers und Markus Spieker, die als Herausgeber dieses Buches fungieren, wobei Ulrich Eggers die Initiative ergriffen hat und dann in Berlin, „in einem trendigen Café Unter den Linden“ den Grundstein für dieses Buch gelegt hat, mit dem „eine Zukunftsdebatte“ (S. 9) angestoßen werden soll.
Natürlich kann man in einem kurzen Artikel nicht auf alle Ansichten, Argumente und Vorschläge in diesem Buch eingehen. Daher nur einige Zitate, die mir wichtig scheinen und in groben Zügen darüber Aufschluss geben, was unter dem „E-Faktor“ zu verstehen ist und wohin möglicherweise die Reise gehen wird.
Selbstverständlich hat auch jeder der Autoren manches Richtige und Wichtige gesagt und man könnte auch berechtigterweise beanstanden, dass die folgenden Zitate nicht im Zusammenhang zitiert wurden. Dennoch habe ich mich bemüht, sie nicht Sinn entstellt zu zitieren.

Nachdenkenswertes
Markus Spieker, dessen Artikel in „idea“ oder anderswo immer anregend zu lesen sind, weil der Mann „querdenkt“, provoziert und mit wenigen gezielten Sätzen zur Sache kommt, macht auch in diesem Buch einige Aussagen und Beobachtungen, die bedacht werden sollten:
„Wenn die Welt uns applaudiert, ist das ein Grund zur Freude, aber auch ein Anlass zum Alarmiertsein.“ (S. 12)
„Identität gibt es nicht ohne Abgrenzung.“
(S. 21)
„Auch bei uns muss man zweierlei konstatieren: einen Mangel an apologetischer Kompetenz und an ganzheitlichem Bibelwissen.“ (S. 23)
Er endet seinen Beitrag mit den beherzigenswerten Worten:
„Ich bitte darum, dass wir mit uns selbst hart ins Gericht gehen. Damit unsere Mitmenschen nicht dahin kommen.“ (S. 26)
Dazu kann man nur „Amen!“ sagen.

Fragwürdiges
Heinzpeter Hempelmann: „Wir müssen uns ganz anders als bisher bemühen, Akademiker und Intellektuelle bei uns zu beheimaten. Es hat ja seine Gründe, dass sie in evangelikalen und charismatischen Kreisen vielfach unterrepräsentiert sind.“ (S. 101)
Hempelmann, der durch seine „Hermeneutik der Demut“ teilweise heftige Auseinandersetzungen ausgelöst hat, beobachtet richtig, dass in manchen Gemeinden eine „emotional ausgerichtete ´Anbetungs-Spiritualität´ anzutreffen ist“, die einer Glaubenshaltung argwöhnisch gegen- übersteht, welche intellektuelles Hinterfragen befürwortet. Das liegt aber meiner Meinung nach nicht an der Tatsache, dass in diesen Gemeinden zu wenige Akademiker sind, denn erstaunlicher Weise findet man gerade in charismatischen Kreisen relativ viele Akademiker, bei denen man den Eindruck hat, dass sie dort für eine Zeit ihren Verstand abschalten und ihren Emotionen Luft machen.
Die Jünger allerdings, die unser Herr zu Aposteln wählte, waren weder Akademiker noch Intellektuelle, wurden aber in der Nachfolge Jesu gebildet. Die Worte des Akademikers Paulus in 1Kor 1,26-31 sollten wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen.
Doch es ist eine schmerzliche Erkenntnis, dass ein geschätzter und begabter Bruder der Gemeinschaftsbewegung wie Jürgen Mette sich für „Vernetzung“ und „pragmatische Vorgehensweisen“ stark macht und in einem „sich gegenseitig auferbauenden und kreativen Dialog mit den evangelischen Landeskirchen und zunehmend auch in einer theologischen Diskussion mit der römisch-katholischen Kirche“ (S. 112) eine positive Entwicklung sehen kann.
Nachahmenswert ist es allerdings, wenn er für eine „geheiligte Kommunikation“ und „schriftgemäße Korrektur“ eintritt und schreibt: „Ich urteile nicht mehr öffentlich, bevor ich nicht das ehrliche und intensive Gespräch mit den Geschwistern in Christus gesucht habe.“ (S. 114)
Aber sein Traum bedeutet für mich ein Albtraum: „Wir werden von der Gottesfurcht und dem Bewusstsein für die Heiligkeit Gottes katholischer Glaubensgeschwister lernen, obwohl uns zentrale Fragen in Amt und Lehre immer noch trennen. Römisch-katholische Gemeinden werden mit lutherischen Gemeinden und Freikirchen gemeinsam evangelisieren, weil sie Menschen in die Nachfolge und den Dienst Jesu rufen wollen.“ (S. 115) Das gilt für ihn selbst dann, wenn in diesem Prozess „Männer und Frauen aus den Brüdergemeinden den verfassten Kirchen zeigen, wie man Gemeinden allein mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zu neuem Wachstum führen kann.“ (S. 116)

Bedenkliches
Dass ein extremer Charismatiker wie Peter Wenz, der Pastor der „Bibl. Glaubens-Gemeinde“ Stuttgart, und Ingolf Ellßel, Präses des „Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden“ in diesem Buch zu Wort kommen und ihre Erfahrungen mit „Gottes Heimsuchungen“ in Form von Sprachenreden, Heilungen usw. mitteilen, ist nicht zuletzt auf die Anstrengungen U. Eggers zurückzuführen, der es verstanden hat, u.a. diese Repräsentanten der Pfingst- und Charismatischen Bewegung in die Crew von „E-Faktor“ einzugliedern.
Ingolf Ellßel: „Die Taufe im Heiligen Geist ist ein Kraftangebot Jesu Christi, welches Bestandteil geistlicher Gemeindefundamente sein sollte.“ (S. 192) Solche Aussagen ist man von Pfingstlern gewohnt. Neu und ungewöhnlich ist dagegen folgende Bemerkung zur Ausbreitung des Reiches Gottes in unserer Zeit: „Die Sendung geschieht durch Geld. Geld an sich bewirkt nichts im Reich Gottes, aber wenn die richtige Initiative gesponsert wird, gibt es Hoffnung für die Ausbreitung des Reiches Gottes.“ (S. 193)
Dazu ist nur anzumerken, dass bei der Aussendung und Ausrüstung der Jünger Jesu ausgerechnet eines ausdrücklich verboten war: Geldbeutel und Geld (Mk 6,8)! Fast peinlich, wenn man Pfingstler daran erinnern muss, dass Paulus und Barnabas „vom Heiligen Geist“ ausgesandt wurden (Apg 13, 4).
Christian A. Schwarz, der mit seinen Untersuchungen und Publikationen – ähnlich wie sein Vater Fritz Schwarz - „zwischen allen Stühlen“ sitzt, sieht die Schwachstelle der Evangelikalen in einem anderen Zusammenhang:
„Die evangelikalen Gefahren sind nicht Synkretismus und Relativismus, sondern Fundamentalismus, Dogmatismus und Legalismus“
. (S. 53)

Erschütterndes
Dass der Fernsehmoderator und Autor Andreas Malessa das Ettikett „bibeltreu“ als „unpräzises Totschlagwort“ bezeichnet, kann man vielleicht noch nachvollziehen - ebenso seine Probleme mit den verschiedenen Zahlenangaben gleicher Ereignisse in der Bibel (S. 197). Dass aber der Hase tatsächlich ein Wiederkäuer ist, hat man schon vor Jahrzehnten nachgewiesen und sollte sich inzwischen herumgesprochen haben.
Erschütternd ist allerdings, wie A. Malessa die „dunklen Seiten Jahwes“ beschreibt und deutliche Zweifel äußert, ob der Gott des A.T. wirklich der Vater Jesu Christi ist, der „Mose entgegenkam, um ihn zu töten“, der nicht intervenierte als „Jeftah dem Herrn schlachtete, was ihm als Erstes aus seinem Haus entgegenkam“, der nur „auf Grund einer Wette (!) zwischen Gott und Satan zusah“, wie Hiob „grässlich gequält“ wurde und auf dessen „ausdrückliche Anordnung“ alle Menschen und Tiere Jerichos getötet wurden usw. (vgl. S. 197-199).
Auf den Seiten 200-202 werden von ihm dann die Thesen von der „Verbal-Inspiration“ und der „völligen Irrtumslosigkeit“ der Bibel lächerlich gemacht: „Ein sich bis heute gerne als ´bibeltreu´ bezeichnender Flügel versucht seither mit atemberaubender Denk-Akrobatik, archäologischen Schein-Sensationsfunden und sprachhistorischen Spitzfindigkeiten alle schwierigen Textvarianten der Bibel zu harmonisieren und – wenn schon nicht ´vernünftig´, so doch ´geistlich´-schlüssig und einleuchtend zu machen.“
Dass die Welt in sechs Tagen á 24 Stunden geschaffen wurde und der Tod erst nach dem Sündenfall in die Welt kam, klingt für ihn nach „Denkverbot“. Bibellesen mit E-Faktor heißt für Malessa: „die ganze Bibel kritisch von hinten her zu lesen, nach erfahrener Begegnung mit dem Auferstandenen, durch eine ´christologische Brille´ sozusagen.“ (S. 202)
Wie ein solcher Artikel in diesem Buch Platz finden kann, das auf der Rückseite als „Das Zukunftsbuch der Evangelikalen“ bezeichnet wird, ist schwer zu verstehen. Mit Sicherheit werden die meisten Mitautoren des Buches das Bibelverständnis von A. Malessa und seine bissige Kritik an den „Fundamentalisten“ nicht teilen. Dennoch toleriert man seine Haltung und hat – wie es scheint - kein Problem mit ihm Seite an Seite in einer Reihe von „17 Denkern, Entscheidern, Gründern oder Praktikern aus der evangelikalen Szene“ (S. 8) zu stehen, die „innovative Wege“ für die Zukunft der Evangelikalen aufzeigen.
Der Texter der Eingangs zitierten Zeilen hat Recht: Auch der Kurs der Evangelikalen wird inzwischen ohne Scheu geändert. Anstelle der verlässlichen „Seekarte“ des Wortes Gottes und eines funktionierenden „Kompasses“ durch den Gehorsam diesem Wort gegenüber, orientiert man sich an der subjektiven Wahrnehmung und Interpretation der Worte Gottes und der Windrichtung des Zeitgeistes.
Wenn in der Steuerzentrale des Schleppers „E“ nicht eine grundsätzliche Neubesinnung und radikale Kurskorrektur vollzogen wird, dann werden die Evangelikalen wahrscheinlich entweder irgendwann auf Grund laufen, oder aber orientierungs- und wirkungslos auf dem uferlosen Meer des postmodernen Zeitgeistes dahindümpeln. ■

Nachtext

„Anerkannt von der Welt besteht für die Christen die Versuchung, das Anstößige am Evangelium zu verschweigen oder umzudeuten, um dem Hass der Welt zu entgehen ... Man setzt die Hoffnung auf Anpassung einer gottlosen Welt an das Evangelium. Dies ist aber nur durch Macht und Einfluss zu erreichen – doch dabei wird man christlich übertünchte Welt.“ (W. Scheffbuch)

Quellenangaben