Es gibt Gnadenstunden im Leben einzelner Menschen und es gibt Gnadenstunden für Städte, Länder und Kontinente. Als der Herr Jesus kurz vor Seiner Kreuzigung Jerusalem vom Ölberg aus sah, klagte Er weinend über diese Stadt: "Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient..."(Luk. 19,42). Jerusalem hatte an diesem besonderen Tag seine Gnadenstunde verpaßt. Der Zöllner Zachäus dagegen hatte - wenige Verse vorher in diesem Kapitel - die Chance seines Lebens ergriffen und den Herrn mit Freuden in sein Haus aufgenommen. Deutschland erfuhr die Heimsuchung Gottes besonders im 16., 18. und 19. Jahrhundert. England und Amerika ebenso vor 150 und 250 Jahren. Zur Zeit scheint es, als hätten die Länder des Ostblocks - und darunter besonders die UDSSR - ihre Gnadenstunde. Was vor fünf Jahren keiner für möglich gehalten hätte, steht als Tatsache vor unseren Augen. Nicht nur die Grenzen haben sich geöffnet, sondern es zeigt sich deutlich eine geöffnete Tür für das Evangelium. Wie lange diese Offenheit anhält, wissen wir nicht. Die momentane Situation in der ehemaligen DDR zeigt, wie schnell sich Herzen verhärten können und wie schnell eine große Offenheit für das Evangelium massiver Resignation, Gleichgültigkeit und Ablehnung weichen kann, weil wieder einmal der "Betrug des Reichtums und die Begierde nach den übrigen Dingen" (Mark. 4,19) die Herzen verhärtet haben.
Die erste Bibelschule in der UDSSR
In der zweiten April-Hälfte hatte ich die Möglichkeit, 14 Tage lang im Gebiet Kaukasus und in der Ukraine Besuche zu machen und über die Eindrücke und Erlebnisse dort habe ich nur staunen können. In den ersten Tagen war ich in Beloretschensk (Kaukasus), wo im Herbst letzten Jahres die erste Bibelschule des Landes von dem deutsch- amerikanischen Missionswerk "Logos" eröffnet wurde. Etwa 45 Schüler im Alter von ca. 20 - 40 Jahren werden hier dreimal sieben Wochen vorwiegend von Brüdern aus dem Westen unterrichtet, die jeweils für ein oder zwei Wochen zur Bibelschule kommen. 14 Tage vor mir waren u.a. Jean Gibson und Alois Wagner dort und hatten einen gesegneten Dienst getan. Die Schüler zeigten großes Interesse und Engagement. Außer heim Untericht waren wir fast jeden Nachmittag und Abend mit einigen Schülern zusammen, um Fragen auszutauschen und zu beantworten. Es ist eine große Freude, dieses Interesse an Gottes Wort und Werk mitzuerleben. Eine Anzahl dieser Brüder, die aus den verschiedensten Republiken der UDSSR kommen, arbeiten bereits evangelistisch unter Gefangenen und einige haben den Wunsch, eine Rehabilitationsarbeit unter Strafentlassenen, Alkoholikern und Drogensüchtigen zu beginnen.
Eine unvorstellbare Offenheit für das Evangelium
Viele staatliche Schulen wünschen z.B. die Mitarbeit von Christen im Schuluntericht, um die Botschaft der Bibel kennenzulernen. In den Tagen, wo ich in Beloretschensk war, fuhr Andre Rempel, der Leiter der Bibelschule, mit dem (noch ungläubigen) Schuldirektor der dortigen Schule nach Moskau, um die Genehmigung für Religionsuntericht oder eine Sonntagsschule zu bekommen. Vielerorts kommt die Regierung auf die Christen zu und bittet um Mitarbeit und Hilfe in den Krankenhäusern, Behindertenheimen usw., weil ihnen motivierte Mitarbeiter und vor allem eine christi iche Ethik fehlen. Was man in Deutschland wohl kaum erlebt, ist z.Zt. in Rußland ganz normal: Auf dein Weg zur Kantine gingen wir an Gewächshäusern vorbei. Eine der dort arbeitenden Frauen, die in der Mittagspause auf einem Schemel vor ihrem Gewächshaus saß, rief mir etwas auf russisch zu, wovon ich nur "Biblia" verstand. Ich hatte den Eindruck, als wollte sie etwas aus der Bibel erfahren, konnte ihr aber leider keine Antwort geben, da ich die russische Sprache nicht beherrsche. Auf dem Rückweg sah ich, daß bereits zwei Bibelschüler bei ihr saßen und ihr etwas aus der Bibel vorlasen. Einige Tage später im Hauptbahnhof von Kiew: In diesem riesigen Bahnhof, wo oberhalb der großen Treppe eine mächtige Lenin - Figur mit ausgestrecktem Arm den Weg zum Ausgang weist, stand unterhalb der Statue eine junge, modern gekleidete Frau mit ihren Koffern und ließ sich in dem Gewühl der Menschen nicht abhalten, ihre Kinderbibel zu lesen! In der Innenstadt von Kiew, nur wenige Meter von der Demo der sibirischen Kohlearbeiter entfernt, stand ein Mann, der abwechselnd Schiefertafeln hochhielt, auf denen Bibelverse wie z.B. "Wer Christi Geist nicht hat, ist nicht sein!" usw. standen. Er predigte nicht, hatte auch offensichtlich keine große Begabung dazu, aber immer wieder kamen Menschen zu ihm, denen er bereitwillig Fragen beantwortete. Straßenevangelisationen usw. gehören inzwischen zum Straßenbild vieler Städte, wo es christliche Gemeinden gibt und die Christen genießen z.Zt. große Symphatien bei der Bevölkerung. Von irgendwelchen Behinderungen oder Feindseligkeiten ist nicht die Spur zu erkennen.
Ein großes Arbeitsfeld unter Strafentlassenen und Süchtigen
Ein besonderes Erlebnis war für mich ein Besuch in Tuapse, einem kleinen Vorort einer Hafenstadt am Schwarzen Meer. Unvergeßlich die abenteuerliche Fahrt mit meinem Fahrer Alexej und dem Übersetzer Wolodja durch die unbeschreiblich schönen kaukasischen Berge. Unvergeßlich die Straßenverhältnisse, die jeder Beschreibung spotten. Unvergeßlich auch die bitter-süß-klebrige Erkenntnis auf der Fahrt, was ein zu Bruch gegangenes 2kg Glas mit flüssigem Honig in einer Reisetasche alles anrichten kann (für eine halbe Stunde bin ich dann mit Wolodja in einen Fluß gestiegen und habe mich unter die Geldwäscher begehen, um u.a. aus dem in der Reisetasche befindlichen buchstäblichen "Schmiergeld" wieder handelsübliche Rubel zu machen!). Aber das Schönste war dann am Abend der Besuch bei Oleg und seinen Mitarbeitern, die an diesem Ort eine Art "Gefährdetenhilfe" aufbauen. Oleg selbst war vor seiner Bekehrung ein Schwerverbrecher mit 12jähriger Knasterfahrung, dazu noch drogensüchtig und TBC krank. Nach seiner Bekehrung hat er mit seiner Frau und weiteren ehemaligen Gefangenen diese evangelistisehe Arbeit angefangen. Inzwischen haben sie vier Häuser, in denen sie sehr bescheiden auf engstem Raum mit den zu betreuenden Leuten leben. Wir saßen bis nach Mitternacht zusammen, um unsere Erfahrungen auszutauschen. Die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse in der UDSSR und die düsteren Zukunftsaussichten sorgen für wachsende Kriminalität und steigenden Alkohol- und Drogenkonsum. Hier liegt ein großes Aufgabengebiet vor den Füßen unserer Geschwister, die natürlich nur unter viel schwierigeren äußeren Bedingungen, was Finanzen und Verpflegung betrifft, ihren Dienst tun können.
Schattenseiten Das aber muß auch gesagt werden: Man erlebt unter den Christen auch Ansichten und Praktiken, die unendlich traurig machen. Viele Gemeinden sind nicht in der Lage, die Neubekehrten zu integrieren. Dazu ein Beispiel: Dort in Tuapse gingen wir am nächsten Tag in die örtliche "registrierte" Gemeinde, zu der sich Oleg und seine Mitarbeiter halten. Ich hatte dort eine Botschaft zu halten und im Anschluß daran wurden wir und die weiteren Gäste von dem etwa 30jährigen Gemeindeleiter gebeten, den Raum zu verlassen. In unserer Abwesenheit wurde dann ein älteres Ehepaar (Mitarbeiter in der Gefangenenarbeit) von dem Gemeindeleiter und seinen Anhängern ausgeschlossen. Grund: Dieses Ehepaar hätte die Auffassung und Praxis, daß man sich auch außerhalb des Gemeinderaumes bekehren könne! Man muß sich das einmal vorstellen: Ein etwa sechzig Jahre alter Bruder, der fast vier Jahre in Sibirien um des Glaubens willen "gesessen" hat, wird von einem jungen Gemeindeleiter ausgeschlossen, weil er biblische Evangelisationsmethoden praktiziert! Leider ist das kein Einzelfall. Es gibt viele Brüder, die überzeugt sind, daß man sich nur in der Gemeinde, in Gegenwart der versammelten Geschwister, bekehren kann. Und wenn Menschen auf der Straße oder bei privaten Gesprächen zum Glauben gekommen sind, werden sie - wie im Fall Tuapse - nicht getauft und nicht in die Gemeinde aufgenommen. Zur Zeit bekehren sich in der UDSSR sehr viele Menschen zu Jesus Christus, aber nur relativ wenige von ihnen finden Zugang zu einer Gemeinde. Das ist natürlich von Ort zu Ort verschieden und von dem geistlichen Zustand der jeweiligen Gemeinde abhängig, aber allgemein gesehen sind die Gemeinden für die jetzige Herausforderung kaum vorbereitet. Bibelstudium, biblisch strukturierte Gemeinden und ein bibelorientiertes Denken und Leben ist leider vielerorts Mangelware. Dazu kommt der meiner Überzeugung nach negative Einfluß westlicher Charismatiker und Neoevangelikaler, die oftmals durch materielle Hilfen Einfluß ausüben und deren Literatur und Praktiken teilweise kritiklos übernommen werden und eben nicht dazu führen, daß unsere Geschwister dort Überzeugungen aus Gottes Wort gewinnen. Wir sollten dafür beten, daß Gott unbestechliche, geistliche Führer unter den Brüdern erweckt, die fähig sind, andere zu unterweisen und Liebe zu Gottes Wort zu wecken. Ein weiteres Problem, das mich sehr deprimiert hat, ist die Ausreise-Euphorie vieler russischer Geschwister. Gott öffnet in Seiner Gnade die Türen für das Evangelium in diesem großen Land, aber viele Christen benutzen die Türen, um in den Westen auszureisen. Als Gründe werden angegeben: Die Kinder sollen es einmal besser haben...Man möchte nicht mehr länger Schlange stehen, um etwas einzukaufen...Man möchte mehr Zeit haben fürs Bibelstudium usw. Leider sind diese Geschwister fast taub für Gegenargumente. Oft habe ich an das erschütternde Kapitel Jeremia 42 denken müssen, das eine ähnliche Situation beschreibt und mit den Worten endet: "...ihr habt euch um den Preis eurer Seelen geirrt."
Zum Einsatz bereit
Bevor ich von Krasnodar nach Kiew flog, folgte ich noch einer Einladung nach Noworossisk am Schwarzen Meer. Nach einem Vortrag in der großen autonomen Gemeinde dort stellte ich fest, daß eine Gruppe junger Geschwister dieser Gemeinde bereits gemeinsam die Bibelkurse "Training im Christentum" durcharbeiten. Abends kamen noch einige junge Geschwister in die Wohnung meines Gastgehers, um Fragen zu stellen. Nachdem ich ihre Fragen beantwortet hatte, wollte ich etwas von ihren Lebenszielen erfahren. Ich staunte nicht schlecht, als die drei anwesenden jungen Ehemänner erzählten, daß sie sich seit einigen Monaten jeden Abend mit ihren Frauen zum gemeinsamen Gebet treffen, weil sie den Eindruck haben, daß der Herr sie etwa 10.000 km entfernt in ein Gebiet nahe der Mongolei senden möchte, um dort unter einem Volksstamm, der bisher noch nicht vom Evangelium erreicht worden ist, zu evangelisieren. Diese Ehepaare haben keine Bibelschule besucht, beherrschen auch nicht die Sprache dieses Volkes, sind aber aus Liebe zum Herrn und zu den Menschen bereit, in einer völlig anderen Kultur zu leben und zu arbeiten, um einige für Christus zu gewinnen!
Erfreuliches in der Ukraine
Zum Abschluß meiner Reise konnte ich noch einige Tage Besuche in der Ukraine machen. Dort haben wir inzwischen viele Freunde bekommen und ich durfte erleben, wie das Werk des Herrn dort eine gesegnete Entwicklung genommen hat. In der Nähe von Kiew hat Bruder Franz Schumeiko mit seiner Frau, die Ärztin ist, das Missionswerk "Bethesda" gegründet, um das Evangelium in Verbindung mit medizinischer Hilfe, einem Kleiderlager für Arme und sonstiger sozialer Hilfe zu verbreiten. Dort entsteht auch ein Literaturlager, von wo aus die westliche UDSSR mit guter evangelistischer und weiterführender Literatur versorgt werden soll. Eine große Freude war für mich ein Besuch mit Franz Schumeiko hei dem Missionswerk "Licht des Evangeliums" in Rowno. Vor zwei Jahren war ich "zufällig" bei der Gründungsversammlung dieses Werkes anwesend. Eine Handvoll junger Brüder, die sich jahrelang im Gebet für diese Aufgabe vorbereitet hatten, traten damals mit ihrem Plan an die Öffentlichkeit und heute, zwei Jahre später, sind bereits 40 Evangelisten in allen Gegenden der UDSSR unterwegs, die in Zusammenarbeit mit "Licht des Evangeliums" arbeiten. In ihrem Missionshaus in Rowno wird fleißig gearbeitet. Einige Schwestern machen Übersetzungs- und Satzarbeiten, um Traktate, Broschüren und eine Monatsschrift für Gläubige herauszugeben. Andere beantworten Briefe, die täglich in großer Menge eintreffen, oder versenden Kleinschriften, Bücher usw. Diese Geschwister dort haben nicht nur als erstes Druckwerk (auf einem Schablonendrucker!) die Lebensgeschichte Georg Müllers gedruckt, sondern haben sich auch dessen Glaubensprinzipien zu eigen gemacht. Als ich einen der Brüder nach ihren Arbeitsgrundlagen fragte, nannte er mir folgende:
1. Wir möchten Menschen zu Christus und in die Gemeinde führen. 2. Alle Mitarbeiter sollen ein Vorbild in praktischer Hingabe und Heiligkeit sein. 3. Die Evangelisationsarbeit soll gründlich getan werden, oberflächliche Massenveranstaltungen sollen vermieden werden. 4. Das Missionswerk soll keinerlei Geschäfte machen, um die Arbeit zu finanzieren. Die Arbeit soll im Vertrauen auf den Herrn, ohne Spendenaufrufe, getan werden. 5. Es wird grundsätzlich weder mit Charismatikern, noch mit Neoevangelikalen zusammengearbeitet.
Ab Sommer diesen Jahres soll dort auch eine Art Bibelschule durchgeführt werden, wo junge Männer 11 Monate in Gottes Wort unterwiesen werden. Über diese Grundsätze kann man sich nur freuen und hoffen, daß die Brüder dem eingeschlagenen Kurs treu bleiben und damit wirklich zu einem Licht auch unter den Christen in der UDSSR werden. Bitte betet für diese Brüder, daß sie vor Kompromissen und negativen westlichen Einflüssen bewahrt bleiben. Abschließend möchte ich allen Geschwistern einen herzlichen Dank aussprechen, die mitgeholfen haben, Bücher in russischer Sprache herauszugeben und in den Osten zu transportieren. Diese Bücher sind den Geschwistern dort eine große Hilfe
- in der Evangelisationsarbeit (W.Busch: Jesus unser Schicksal; W. Gitt: Wenn Tiere reden könnten); - in der Nacharbeit (J. Gibson: Training im Christentum, 3 Bände; W. MacDonald: Christus liebt die Gemeinde) - und in der Auseinandersetzung mit falschen Lehren (W. Bühne: Spiel mit dem Feuer).
Diese Bücher finden eine derart gute Abnahme, daß sie trotz hoher Auflagen innerhalb weniger Wochen fast alle vergriffen sind. Wir sind dankbar, daß die Nachauflagen vorbereitet werden können, bzw. zum Teil schon im Druck sind und möchten mit Gottes Hilfe in diesem Jahr vier weitere Bücher in russischer Sprache herausgeben. Die große Offenheit in diesem Land für das Evangelium, aber auch der geistliche Zustand vieler Gemeinden sind für uns eine große Herausforderung, aber auch eine sehr eindrückliche Mahnung an die Worte unseres Herrn:
"Die Ernte zwar ist groß, der Arbeiter aber sind wenige: Bittet nun den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter aussende in seine Ernte." Luk. 10,2
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