50 Jahre ist es etwa her, als Watchman Nee am 21. Juni 1956 in Shanghai in einem kurzen, fünfstündigen Prozess von der kommunistischen Führung zu 15 Jahren Gefängnis „zur Umschulung durch Arbeit“ verurteilt wurde. Bei der Urteilsverkündigung wurde zudem noch verkündet, dass er von seiner eigenen Gemeinde exkommuniziert worden sei.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Watchman Nee bereits vier Jahre Untersuchungshaft hinter sich, denn bereits 1952 fand eine öffentliche Anklage vor etwa 2.500 Personen statt, indem er der Spionage, der Sabotage, der Bestechung und der Konter-Revolution beschuldigt wurde.
Schließlich – um schlichte, gottesfürchtige Gläubige zu überzeugen – griff man zu besonders üblen Lügen und Verleumdungen: W. Nee wurde angeklagt, er sei ein häufiger Gast in Bordellen gewesen und hätte nach eigenem „Geständnis“ über hundert Frauen verführt. Für diese Behauptungen konnten sie keinerlei Beweise vorlegen. Da W. Nee zu diesen Anklagen schwieg – er durfte ohnehin nur mit „ja“ oder „nein“ antworten – war das Urteil schnell gefällt.
Watchman Nee hatte die Möglichkeit, vor diesem Prozess nach Hongkong oder ins Ausland zu fliehen. Einige Freunde hatten ihm dringend dazu geraten. Aber seine Antwort lautete: „Ich mache mir keine Sorge um mein Leben. Wenn das Haus einstürzt, so habe ich Kinder darin und muss es stützen, wenn nötig mit meinem Kopf.“ (1)
Zwanzig verlorene Jahre?
Über die Gefängniszeit ist nicht viel bekannt. Nach fünf Jahren Haft wurde es seiner Frau erstmals erlaubt, ihn für eine halbe Stunde unter Aufsicht zu besuchen. Einmal im Monat konnte er einen unter strenger Zensur stehenden Brief empfangen und einen absenden. Der Besitz einer Bibel war nicht erlaubt und so war W. Nee auf sein erstaunliches Gedächtnis angewiesen.
Seine Zelle war drei mal eineinhalb Meter groß und als einzige Einrichtung befand sich in diesem Raum eine Holzpritsche zum Schlafen.
Ein Gefangener, der 1958 entlassen wurde, berichtete, dass aus Watchmans Zelle früh am Morgen, bevor um fünf Uhr die Lautsprecher dröhnten, geistliche Lieder zu hören waren, die er in den Jahren vor der Haft selbst gedichtet oder aus dem Englischen übersetzt hatte.
Kurz nach Beginn der Kulturrevolution waren die 15 Jahre Haft um und viele Freunde in aller Welt beteten für seine Entlassung. Aber inzwischen hatte sich das politische Klima weiter verschärft und Nee´s Haftzeit wurde um weitere 5 Jahre verlängert.
Verborgene Segenswege
Im Jahr 1958 erschien sein erstes Buch „Das normale Christenleben“ im Ausland, wovon Watchman Nee mit großer Wahrscheinlichkeit nie etwas erfahren hat. Dieses Buch und auch die Berichte über seine Haft machten seinen Namen in aller Welt bekannt und so wurde viel für ihn gebetet und nach und nach wurden etliche seiner chinesischen Schriften in andere Sprachen übersetzt und zum großen Segen vieler Leser weit verbreitet.
1967 wurde bekannt, dass die Regierung bereit war, Watchman Nee und seine Frau gegen ein hohes Lösegeld ins Ausland ausreisen zu lassen. Das Geld kam sehr schnell zusammen, weil W. Nee in Ostasien viele Freunde hatte. Doch wenige Monate später nahm die Regierung das Angebot zurück und es gibt Gründe anzunehmen, dass W. Nee selbst das Angebot abgelehnt hat, weil er darin nicht Gottes Weg für sich sah.
1971 starb seine Frau und am 1. Juni 1972, wenige Wochen nach seiner Entlassung, starb auch Watchman Nee in seinem neunundsechzigsten Lebensjahr. Die näheren Umstände sind nicht bekannt und wir wissen nicht einmal, ob ein Christ oder irgendein Mensch ihm in den letzten Stunden seines Lebens beigestanden hat.
Wahrscheinlich ist er einsam heimgegangen, ohne zu ahnen, welch reiche Frucht seine zwanzigjährige Haft und sein Leben gebracht haben.
Zur Zeit seiner Verhaftung gab es etwa 480 Gemeinden, die durch seinen Dienst entstanden waren und die man „Little Flock“ (kleine Herde) nannte, nach der Bezeichnung Jesu in Lk 12,32 und dem gleichnamigen Liederbuch, das W. Nee herausgegeben hatte und aus dem in den Gemeinden gesungen wurde.
Wachstum unter Druck
Doch wie entwickelten sich diese Gemeinden unter dem Kommunismus?
Das war meine Frage, als ich vor etwa drei Jahren das erste Mal China besuchte. Leider waren darüber kaum genaue Informationen zu bekommen. Uns wurde nur mitgeteilt, dass die „Little-Flock“-Bewegung heute einen großen Teil der Untergrundkirche ausmacht, aber es schien sehr schwierig zu sein, diese Gemeinden persönlich kennen zu lernen.
Nach vielen vergeblichen Anläufen war es im März dieses Jahres endlich möglich, in der Stadt Wenzhou eine dieser Versammlungen zu besuchen und anschließend ein Gespräch mit den Ältesten zu haben. Dabei erfuhren wir, dass diese Bewegung – ähnlich wie die Baptisten in den GUS-Staaten – in eine offizielle, genehmigte und registrierte Gemeinde und in eine nichtregistrierte Untergrundkirche gespalten ist, die allerdings durchaus Kontakte miteinander pflegen und sich in der Art der Zusammenkünfte und in den geistlichen Grundsätzen kaum unterscheiden.
In beiden Gemeinde-Strömungen werden z.B. die bis heute von der Regierung streng verbotenen Bücher Wachtman Nees sehr geschätzt und ebenso tragen die Schwestern jeweils die für diese Gemeinden typische Kopfbedeckung: eine schwarze, gehäkelte Mütze. Auch die Art der Gottesdienste scheint ähnlich zu sein – einen solchen Gottesdienst erlebten wir nun zum ersten Mal mit und zwar in einer „registrierten“ Gemeinde.
Zu Besuch bei „Little Flock“
Zuerst staunten wir nicht schlecht über das große, alte, von weitem erkennbare Gebäude, das sicher in vergangenen Zeiten Platz für 800 bis 1.000 Personen bot. Wir erfuhren, dass man sich hier jeden Sonntag dreimal zum Abendmahl und zur anschließenden Predigt trifft: Morgens für die Frühaufsteher, also die alten Geschwister, Mittags für die Langschläfer (meist die jüngeren Leute) und abends für diejenigen, die am Sonntag arbeiten müssen.
Wir kamen um die Mittagszeit und nahmen also an der „Langschläfer-Gruppe“ teil, zu der etwa 200 bis 250 Geschwister erschienen waren. Sie saßen nach Geschlechtern getrennt in zwei Blöcken, wobei der linke Block der Frauen die einheitliche schwarze Mütze trug. Es hatte an diesem Tag einen plötzlichen Wetterumschwung gegeben und das Thermometer im Raum zeigte nur 13 Grad an, doch mein Freund Siegfried Haase und ich waren in sommerlicher Kleidung erschienen. Man saß auf harten Bänken und wir waren gespannt über den Verlauf dieser Abendmahlfeier, die länger dauerte, als uns bei dieser Kälte lieb war, zumal wir kein Wort verstanden.
Was für uns eine völlig neue Erfahrung war: Es wurde zunächst kein Lied gesungen, sondern Reihe für Reihe, mit nur wenigen Ausnahmen, stand einer nach dem anderen auf und sprach laut ein kurzes Gebet. Das dauerte etwa 45 Minuten und in dieser Zeit wurden etwa 200 Dank-Gebete gesprochen, während wir frierend auf der harten Bank hin und her rutschten und auf unsere Uhren schauten.
Nachdem alle gebetet hatten, wurden zwei Lieder gesungen, für Brot und Wein gedankt, das dann durch die Reihen gereicht wurde. Inzwischen waren 60 Minuten vergangen und da unsere Leidensbereitschaft nicht sehr groß war, ersehnten wir das Ende der Feier, um unsere kalten Glieder bewegen zu können - mussten aber noch eine Zeit warten, denn jetzt begann die Zeit der Anbetung, wo wiederum Reihe für Reihe, einer nach dem anderen, ein kurzes Gebet sprach. Nach 90 Minuten war dieser Teil des Gottesdienstes beendet, aber wir mussten weitere 45 Minuten ausharren, denn ohne Pause ging es zur Predigt über, die uns glücklicherweise übersetzt wurde und die erstaunlich deutlich und herausfordernd war.
Hundertfältige Frucht
Im Anschluss daran hatten wir die Möglichkeit, uns etwa eine Stunde mit zwei von den Ältesten zu unterhalten, die uns auf unsere vielen Fragen bereitwillig Antwort gaben. So erfuhren wir, dass man in China keine genaue Vorstellung davon hat, wie viele dieser „Little-Flock“-Gemeinden existieren. Allerdings sagte man uns, dass allein in dieser einen Stadt Wenzhou 300 solcher Gemeinden existieren! Wenn man sich das vorstellt: Im Jahr 1950, also vor der politischen Wende, gab es etwa 500 „Little Flock“- Gemeinden in ganz China und im Jahr 2006 allein in einer Stadt 300 dieser Gemeinden. Das heißt, diese Bewegung hat sich unter dem politischen Druck mindestens einhundert Mal vervielfacht! Wie hat die Saat, die in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. ausgesät wurde, außergewöhnlich reiche und reife Frucht gebracht!
Wir erfuhren auch, dass diese Gemeinde eine eigene Bibelschule unterhält, in welcher 50 junge Geschwister unterrichtet werden und wir waren sehr ermutigt zu sehen und zu hören, dass besonders die jungen Geschwister dieser Gemeinde mit großem Eifer das Wort Gottes studieren und das geistliche Leben auch in die Umgebung tragen.
Müde, ziemlich unterkühlt, aber sehr dankbar und ermutigt durch die Eindrücke dieses Tages kamen wir abends wieder in unserem Quartier an.
Wir sind überzeugt, dass jener Missionar recht hat, der sagte:
“Watchman Nee war von dem Herrn dazu bestimmt, die Wahrheiten des Evangeliums in den ´Blutstrom´ des chinesischen Volkes einzuimpfen. Seine Worte hafteten wie Kletten. Seine Bücher und Traktate tauchten überall auf. Und wenn jemand ein paar der einflussreichsten christlichen Autoren nennen sollte, gab es keine Möglichkeit, ihn auszulassen.“ (2)
Watchman Nee selbst war es, der das inhaltsschwere, aber von ihm selbst gelebte Wort prägte:
»Die Hand an den Pflug legen und die Tränen abwischen – das ist Christentum!«
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