Zeitschrift-Artikel: Hat Hesekiel über Russland geweissagt?

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Titel: Hat Hesekiel über Russland geweissagt?
Typ: Artikel
Autor: Henk P. Medema
Autor (Anmerkung):

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Titel

Hat Hesekiel über Russland geweissagt?

Vortext

Übersetzung M. Lauth

Text

Ist in den alttestamentlichen Prophezeiungen ein Hinweis auf Rußland zu finden? Das wäre natürlich außergewöhnlich interessant. Über "Rosch", womit Rußland gemeint sein soll, schreibt z.B. W. Kelly in seinem bekannten Kommentar über Hesekiel.


Der Leser, der anschließend in seiner Bibel das Wort "Rosch" zu finden versucht, kann enttäuscht werden. Die NBG' spricht über "Gog... grootvorst van Mesech en Tubal", die St. Vert.2 von "hoofdvorst". Die engli­schen Übersetzungen KJV3 und NIV4 haben "chief prince", und schlägt man die deutschen Übersetzungen auf, dann findet man bei Luther "oberster Fürst" und bei Schlachter "Hauptfürst". Aber Beharrlichkeit führt zum Ziel! Das zu Rate ziehen einiger weiterer Überset­zungen liefert bei der [rev.1 Elberfelder den Ausdruck "Fürst von Rosch" und bei der ASV5 "prince of Rosh".
Welche Übersetzung ist nun richtig? Und wenn wir dann "Fürst von Rosch" lesen müßten, ist damit dann wirklich Rußland gemeint?

Großfürst oder Fürst von Rosch?

Nicht allein die modernen Übersetzungen, sondern auch die alten Übersetzungen waren alle uneinig, was die Wiedergabe des hebräischen Textes betrifft. Die Septuaginta6 (LXX), Symmachus7 und Theodotion8 übersetzen "Fürst von Rosch", während die Vulgata9, die Targumw, Aquila" und die Peschitta'2 für die Wiedergabe "Großffirst" gewählt haben, also das Hehr. "rosch" als "Haupt" aufgefaßt haben. Es ist dabei die Anmerkung wert, daß die LXX nur ungefähr drei Jahrhunderte nach der Prophezeiung von Hesekiel zustande gekommen ist.
Was ist nun die richtige Übersetzung? Es gibt (wie manche Ausleger dargelegt haben) Schriftstellen, wo wir ähnliche Ausdrücke mit "rosch" finden, und wo dies "Haupt-" oder "Ober-" bedeutet (NBG "Oberprie­ster" in 2.Kön 25,18; "Hoherpriester" in 1.Chr 27,5; Esra 7,5). So soll man in Hes 38,2 ebenso "großer Fürst", "Hauptfürst", "Großfürst" übersetzen können. Das Problem damit ist jedoch, daß nicht "Fürst" sondern "rosch" der Hauptbegriff ist, jedenfalls wenn wir der Lesart des uns von den Masoreten überlieferten hehr. Textes folgen. Nun ist es wahr, daß nach den meisten Historikern der Name Rußland (Rossija) erst im frühen Mittelalter auftaucht. Ebenso ist es jedoch wahr, daß kaum andere Völker in der Zeit Hesekiels gezeigt werden können, deren Benennung "Rosch" ähnelt. Wenn hier also schon der Name eines Volkes gemeint ist, dann ist es ein äußerst geheimnisvoller Hinweis. Sprachkundlich hat diese Übersetzung aber ein so starkes Zeugnis, daß wir nicht ohne weiteres daran vorbei gehen können. Wir werden also gut daran tun, einerseits nicht zu undurchdacht einen Hinweis auf Rußland in den Text hineinzulesen, andererseits aber auch nicht eine Übersetzung von "Rosch" als Ortsan­deutung aus dem einfachen Grund abweisen, weil solche Spekulationen daraus entstanden sind.

Gog, Magog

Wir lesen in Hes 38,2 nach dem masoretischen Text wörtlich: "Gog vom Land des Magog", und in Hes 39,6 wird aufs neue Magog genannt. Wer sind Gog und Magog: Zwei Personen? Oder zwei Länder? Und was ist der Zusammenhang mit Offb 20,8 , wo "Gog und Magog" wieder genannt werden?
Gog finden wir sonst im masoretischen Text des hebräischen AT nirgends wieder, wohl aber in anderen alten Versionen, z.B. in der griechischen Übersetzung, der Septuaginta (LXX). In 4.Mose 24,7 LXX steht "sein (Israels) Königreich wird erhaben sein über Gog" (MT: Agag); ebenso auch im samaritischen Pentateuch. In Amos 7,1 LXX steht "eine Heuschrecke ist der König Gog". Eine wichtige Handschrift der LXX (Codex Vaticanus) liest in 5.Mose 3,1.13; 4,47 "Gog" statt "Og". Diese Hinweise deuten darauf, daß der Name bekannt war. Selbst wenn man annehmen muß, daß in all diesen Fällen "Gog" nicht die ursprüngliche Lesart ist, dann ist es doch eigentlich undenkbar, daß ein Abschreiber einen Namen eingetragen haben soll, der ihm unbekannt wäre. In den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung muß in Israel also bekannt gewe­sen sein, wer Gog war.
Aber können wir jetzt noch dahinterkommen? Man hat an verschiedene Fürsten in der Zeit um die Gefan­genschaft gedacht, z.B. an Gugu = Gyges, König von Lydia, oder an Gagi, der in den Chroniken von Assurbanipal vorkommt. Auf diesem Wege bleibt es jedoch Vermutung. Die jüdische Tradition bringt uns wohl etwas weiter. Nach Josephus, Altertümer 1, 123 (1, 6, 1) ist mit Magog das Volk der Skythen gemeint. Nach verschiedenen Stellen im Talmud'' hat Psalm 2 Bezug auf Gog; wenn das richtig ist, hilft es uns auch Hes 38,17 zu erklären, wo ja doch steht, daß bereits in einer Anzahl prophetischer Vorhersagen über Gog gesprochen wurde. Eine andere Stelle in der rabbini­schen Literatur (Midr." Tanchuma) stellt Gog und Magog, mit allen versammelten Völkern des Erdbodens gleich, weil der Zahlenwert von Gog und Magog zusammen 70 beträgt, nach 1.Mose 10 die Gesamtheit der Völker in der (alten) Welt. Vielleicht hilft uns dies bei der Betrachtung der Auslegung von Oftb 20,8 , wo nach vielen Auslegern "Gog und Magog" ein Sammel­name der aufständischen Völker ist. Nach dem palästi­nensischen Talmud ist Magog das Land der Goten (jMeg7lb); nach dem babylonischen Talmud ist damit Kandia gemeint. Das Problem ist dann aber wieder, daß wir nicht wissen was Kandia ist; man hat vermutet, daß es Kreta sein soll, aber das ist geraten.


Mesech und Tubal


Wir setzen unsere Nachforschungen fort und untersu­chen, welche anderen Namen uns im Anfang von Hes 38 weiterhelfen können. Die in Vers 5 genannten Perser sind nicht schwer zu lokalisieren. Die Äthiopier (hebr. Kusch) und Put sind nach Hes 30,4.5 Völker des Niltals. Sehr phantasiereich hat man wohl spekuliert, daß mit Gomer die Germanen gemeint sein sollen, verbunden mit dem Haus von Togarma ("Beth­Togarma"[NBG] das ja doch "im äußersten Norden" gesucht werden muß), aber dies ist mehr dem Klang nach, als daß dafür wirkliche Gründe anzuführen wären. Die meisten Forscher halten gegenwärtig die bei Homer und Herodot genannten Kimmeräer für Gomer.
Mehr Anhaltspunkte haben wir vielleicht bei Mesech und Tubal. In 1.Mose 10,2 treffen wir ebenfalls wieder auf diese Namen. Einige Forscher meinten, die Auflö­sung des Rätsels von Rosch dort gefunden zu haben, indem sie das dort genannte Tiras mit Rosch identifi­zierten, aber dieses Wort endet mit dem hebr. Buchsta­ben Samech anstelle von Schin, und ist auch durch die Masoreten anders vokalisiert. Siehe für Mesech und Tubal auch noch weiter 1.Chr 1,5.17; Hes 27,13; 32,26; Ps 120,5.
Viele denken zur Zeit an Muschku und Tabalu, Volksstämme in Klein-Asien südöstlich des Schwarzen Meeres. Andere Lokalisierungen wurden vorgeschla­gen, aber sie stimmen doch alle insoweit überein, daß sie Mesech und Tubal nördlich von Israel auf der Strecke zum südlichen Kaukasus suchen. Das ist auch in Übereinstimmung mit Hes 38, wo gesagt wird, daß Gog und Magog "vom äußersten Norden her" kommen werden (Vers 15).
Eine interessante, aber höchst spekulative Verbin­dung ist durch einige gezogen worden, die Mesech mit Moskau identifizieren wollen, und nach denen Tuhal eine Bezeichnung für Tobolsk sein soll; die beiden Namen umfassen so den europäischen und asiatischen Teil Rußlands. Dies ist aber mehr eine Ähnlichkeit der Laute, als daß historische oder sprachkundliche Gründe dafür angeführt werden können. Außerdem wird dann vergessen, daß Mesech und Tuhal in den anderen angeführten Stellen, wo nicht prophetisch in die Zu­kunft verwiesen wird, auch eine Bedeutung haben müssen.

Abermals: was oder wer ist Rosch?

Aus Hes 38,6.15; 39,2 ergibt sich, daß wir die genannten Völker in bezug auf Israel im äußersten Norden suchen müssen, und das stimmt mit dem überein, was anderswo hinsichtlich Mesech und Tuhal zu finden ist. Es scheint, daß auch unter den Historikern noch eine ziemliche Diskussion über die Herkunft des Namens Russija im Gange ist. Der russische Historiker
G. Vernadsky nennt verschiedene geographische Namen, (u.a. die Benennung "Ros" für den Fluß Wolga) die zu Beginn unserer Zeitrechnung oder sogar davor genannt werden, und die vielleicht auf Völker mit verwandten Namen hindeuten. Sehr interessant ist auch, daß die byzantinische Kirche Hes 38 auf die Invasion der Hunnen in das oströmische Reich (5. Jahrhundert n.Chr.) und auf die spätere Invasion der Russen in dasselbe Gebiet (9. Jahrhundert) angewandt hat. Ganz abgesehen von der Auslegung zeigt dies, daß in diesen dicht an Süd-Rußland grenzenden Gebieten, das Be­wußtsein einer Verbindung zwischen dem Ausdruck Rosch und den dort lebenden Völkern, oder sogar konkret den Russen, existierte.

Schlußfolgerung

Wir besprechen hier nicht die genaue Auslegung von Hes 38. Im Rahmen dieses Artikels folgern wir allein, daß es durchaus nicht undenkbar ist, in diesem Feind aus dem äußersten Norden die Großmachtzu sehen, die wir gegenwärtig als Sowjetunion kennen, oder eine große politische Macht, die vielleicht in der nahen Zukunft (nach einem Bürgerkrieg in der UDSSR?) in diesem Gebiet entstehen könnte. Die Verbindung Mesech = Moskau und Tuhal = Tobolsk scheint jedoch ungenügend begründet zu sein. Auch hei der Interpre­tation der biblischen Prophezeiungen gehört sich einer­seits ein ehrerbietiger Respekt vor dem Text der Schrift, wie er uns vorliegt, und andererseits ein sorgfältiges auf der Hut sein vor unbegründeten Speku­lationen.

 

Nachtext

Quellenangaben

1 NBG = Ausgabe der Niederländischen Bibelgesell­schaft
2 St.Vert. = Staten Vertaling (Niederländische Bibe­lausgabe)
3 KJV = King James Version
4 NIV = New International Version
5 ASV = American Standard Version
6 Septuaginta (LXX) = griechische Übersetzung des AT aus dem 3. Jahrhundert v.Chr.
7 griechische Übersetzung des AT durch Symmachus um 170 n.Chr.
8 eine revidierte griechische Übersetzung durch Theo­dotion Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr.
9 Vulgata = lateinische Übersetzung des AT durch den Gelehrten Hieronymus
10 aramäische Übersetzung des AT
11 griechische Übersetzung des AT durch Aquila um 130 n.Chr.
12 Peschitta = syrische Übersetzung des AT
13 Talmud = mündlich überliefertes Gesetz, neben der Bibel das wichtigste jüdische Gesetzbuch
14 Midrasch = Texterklärung und Auslegung (entstan­den zwischen 100 v.Chr und 300 n.Chr.)
(Aus der holt. Zeitschrift BODE, Jahrgang 134, Nr. 4)