Zeitschrift-Artikel: Der wahre Reichtum

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Titel: Der wahre Reichtum
Typ: Artikel
Autor: Gerrit Alberts
Autor (Anmerkung):

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Titel

Der wahre Reichtum

Vortext

Zum 100. Todestag von William Kelly

Text

Von Gott gelehrt

Ein französischer Autor beschrieb ihn als „gelehrt, tatkräftig, ein logischer Kopf, ein umfassender
Philosoph“.(1) C. H. Spurgeon nannte ihn „einen hervorragenden Theologen, ... einen vorzüglichen Prediger ..., einen Mann, für das Weltall geboren, der seinen Geist durch den Darbysmus beschränken ließ.“(2) Seine Bibliothek umfasste 15.000 Bände, hatte ein Gewicht von 15 Tonnen, darunter die großen Handschriften der Bibel und eine ausgedehnte wissenschaftliche Literatur. Über eine von ihm in der Zeit von 1856 bis 1906 herausgegebene Zeitschrift wurde gesagt: „The Bible Treasury ist zweifellos die ausgezeichnetste Bibelstudienzeitschrift, die jemals erschienen ist.“(3) Ein Erzdekan der anglikanischen Kirche, Denison, betrachtete diese Zeitschrift als „das Einzige, was noch länger wert ist, gelesen zu werden“. Als jemand einmal zu ihm sagte, er könne „mühelos ein Vermögen machen“, antwortete er mit der Frage: „Für welche Welt?“ Noch deutlicher war seine Reaktion, als jemand ihm großzügig anbot, durch seinen Einfluss „etwas für ihn zu tun“. Er sagte: „Was könnten Sie mehr für mich tun, als der Herr Jesus schon getan hat?“(4)

Die Rede ist von William Kelly, dessen Todestag sich am 27.03.2006 zum 100. Mal jährte.

William Kelly hatte eine der größten Lehrbegabungen der Brüderbewegung im 19. Jahrhundert,
wahrscheinlich zusammen mit John Nelson Darby die größte.

 

Bekehrung und früher Dienst

Kelly wurde im Mai 1821 als Sohn eines Gutsbesitzers aus Ulster in Millisle in der Grafschaft Down geboren. Er studierte wie Darby am Trinitiy College in Dublin und erhielt die höchsten Auszeichnungen in den klassischen Sprachen. Er wurde anglikanischer Geistlicher und kam kurz
nach seiner Abschlussprüfung zur Bekehrung, und zwar durch Offenbarung 20,12a:

„Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden aufgetan; und ein anderes Buch ward aufgetan, welches das des Lebens ist.“

Trotz der Bekehrung fehlte ihm die Gewissheit des Heils und das Bewusstsein der christlichen
Befreiung. Er ließ sich als Hauslehrer auf der Insel Sark nieder, wo eine gläubige Dame ihm durch 1Joh 5,9-10 zum großen Segen wurde:

„Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer; denn dieses ist das Zeugnis Gottes, welches er gezeugt hat über seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst.“

Beide Bibelworte, durch die Gott besonders zu ihm gesprochen hat, sind aus den Schriften des
Apostels Johannes. Interessant ist, dass er eine besondere Gabe von Gott empfing, die Schriften
von Johannes auszulegen. Sein berühmtester Kommentar ist wahrscheinlich "Lectures on the
Book of the Revelation
s" (Vorträge über die Offenbarung), ein außerordentlich tiefgehendes und gelehrtes Werk. Viele Christen bezeugen, durch die Lektüre von seiner "Exposition of the Epistles of John" (deutsch: Was von Anfang war, Heijkoop-Verlag) reich gesegnet worden zu sein.

Kurz nach den genannten geistlichen Erfahrungen trat er 1841 aus der Kirche aus und begann, sich mit drei Schwestern zur Feier des Abendmahls zu treffen, bevor er jemand aus der „Brüderbewegung“ kennen gelernt hatte. Ein Schlüssel zum biblischen Gemeindeverständnis war für ihn die Entdeckung, dass der Acker in dem Gleichnis von Mt 13, 24ff nicht ein Bild von der Gemeinde, sondern vom Königreich der Himmel in seiner jetzigen, vorläufigen Form ist, in der
Böses und Gutes nebeneinander bestehen.

Lange Zeit wohnte Kelly auf der Insel Guernsey, wo er seine erste Frau kennen lernte, eine Miss
Montgomery. Die letzte Hälfte seines Lebens wohnte er in Blackheath (London). Seine zweite
Frau war die Tochter von Pfarrer Henry Gibbs aus Hereford. Sie war ebenso wie er eine begabte
Sprachgelehrte, die ihrem Mann bei seiner Arbeit eine große Hilfe war. Als sie 1884 starb, hatte sie die Psalmen bis zur Hälfte übersetzt.
Kelly vollendete das Werk und gab es als persönliche Erinnerung an seine geliebte Frau heraus.


Sein Wirken in der »Brüderbewegung«

Im Sommer 1845 begegnete Kelly zum ersten Mal Darby in einem Laden in Plymouth. Nach einer
großen Erweckung erlebte die Versammlung in Plymouth zu der Zeit eine Phase heftiger
Auseinandersetzungen in christologischen und Gemeindefragen. Kelly entwickelte eine große
Wertschätzung für Darby und seine Schriften.
Er betrachtete Darby als unübertroffen in der Entfaltung lange verborgener Wahrheiten der Heiligen Schrift und sagte regelmäßig bis zuletzt: „Lies Darby!“.

Der Schreibstil und die schriftliche Ausdrucksweise von Darby sind ziemlich ungehobelt und schwer verständlich. Er benutzte verschachtelte Sätze und umständliche Formulierungen. Selten erkennt man ein didaktisches Bemühen, die Ausführungen zu veranschaulichen und leserfreundlich zu gestalten. Kelly hingegen zeichnet sich durch einen gut nachvollziehbaren Schreibstil aus. Seine Schriften sind in einem klaren und sorgfältigen Englisch geschrieben, das scharfsinnig und tiefgehend ist, aber zugleich im Stil so einfach, dass dieser die Leser unmittelbar anspricht.
Viele seiner Bücher sind Niederschriften von Vorträgen, die in Stenografie aufgezeichnet wurden und aufgrund ihrer vorzüglichen Ausdrucksweise kaum verändert werden mussten, wenn sie in gedruckter Form erschienen. Kelly schrieb über Darby: „Er ist zeitweilig hier und dort großartig – was den Stil betrifft – häufig allerdings unklar; und so hoch über dem durchschnittlichen Leser, dass er nur mit Mühe verstanden wird. Man kann deshalb nicht viel über seinen Stil sagen. Wie er zu mir sagte: Kelly, du schreibst; ich denke lediglich auf Papier. Ich bin ein Bergmann und bringe das köstliche Erz zu Tage, das andere bearbeiten. Er war auf ungekünstelte Weise originell, aber hatte eine ziemliche Geringschätzung für literarisches Polieren.“(5)

Ein besonderer Verdienst Kelly‘s ist, die weit verbreiteten und verstreuten Schriften Darbys gesammelt, ihnen eine gewisse Struktur gegeben und in 34 Bänden veröffentlicht zu haben.
(The Coll ected Writings of J. n. Darby). Diese Aufgabe erforderte mehrjährige, mühevolle Arbeiten und Nachforschungen. Kelly betrachtete die Synopsis (deutsch: Betrachtungen über das
Wort Gottes, Neustadt/Weinstraße, 1981) als das größte literarische Werk Darbys. Er übersetzte
dieses (in der deutschen Ausgabe) 5-bändige Werk aus dem Französischen ins Englische, mit dem Ergebnis, dass die Übersetzung besser war als das Original.

Trotz seiner Wertschätzung für Darby folgte er ihm nicht in jeder Hinsicht. Darby z. B. befürwortete
die Taufe der Babys von gläubigen Eltern. Kelly hingegen vertrat die Gläubigentaufe.
Leider sind sie auch gemeindlich am Ende des Lebens von Darby in unterschiedlichen Gruppierungen gelandet. Die Geschichte ihrer Trennung ist unendlich traurig und für Außenstehende, die mit dem Denken dieses Zweiges der Brüderbewegung nicht vertraut sind, nicht nachzuvollziehen. Im Wesentlichen ging es um folgendes: In Rhyde, einem Ort auf der Insel Wright, befand sich eine Versammlung in einem beklagenswerten moralischen Zustand.
Zwei Gruppen von Geschwistern spalteten sich von dieser Versammlung ab, allerdings ohne Absprache mit den umliegenden Versammlungen.
Dr. Cronin, ein Pionier der Brüderbewegung, feierte mit einem dieser abgespaltenen Gruppen das Abendmahl. Die Gemeinde in Park Street (London), in der Darby war, verlangte den Ausschluss von Cronin und schließlich auch der Gemeinde in Kennington, zu der Cronin gehörte. Kelly war zwar mit dem Verhalten von Cronin nicht einverstanden, war jedoch gegen den Ausschluss. Die Sache führte zu einer Kette komplizierter Verwicklungen mit dem Ergebnis, dass schließlich ein weltweiter Riss durch diese Gruppierung von Brüdergemeinden ging.

Trotz dieser deprimierenden Vorgänge, unter denen kaum jemand mehr gelitten hat als Kelly, hat er bis an sein Lebensende mit großer Wertschätzung von Darby gesprochen. Er schrieb am 23.01.1901: „Ich habe J. N. D. niemals anders betrachtet als einen großen und guten Mann; und diese Bezeichnungen gehen selten zusammen. Das heißt nicht, dass so jemand keine schwachen Seiten haben kann, die durch Größe um so mehr zum Ausdruck kommen.“(6)


Bescheiden und tiefgründig

Obwohl Kelly einerseits ein Stubengelehrter war, hielt er sich andererseits gerne unter Menschen
auf. Sein Freund H. W. Pontis schreibt: „Er hatte ein gewinnendes Wesen, eine liebenswürdige Art, eine feine Höflichkeit und einen reinen Humor. ... Als Redner zeichnete er sich besonders aus, da er eine ungezwungene und doch beeindruckende Art hatte, in der Öffentlichkeit zu reden.
Er stellte nicht seine Gelehrsamkeit zur Schau, gab aber dennoch gediegene Unterweisung.“ 
Er war nicht nur ein Lehrer, sondern auch die Verbreitung des Evangeliums in Wort und Schrift war ihm ein Herzensanliegen. Darby erklärte mehrmals, dass er wünsche, das Evangelium so
verkündigen zu können wie Kelly.


Die richtige Blickrichtung

Bei der Beerdigung Kellys am 31.03.1906 wurde daran erinnert, welche Realitäten er besonders im Blick hatte. Vor seinem Heimgang hatte er bemerkt: „Das Kreuz ist eine Wirklichkeit, der
Hass der Welt ist eine Wirklichkeit, und, geliebte Brüder, die Liebe Gottes ist eine Wirklichkeit!“

Gebe Gott, dass seine Sicht für die Größe und Liebe des Herrn Jesus und sein Respekt und seine
Kenntnis bezüglich des Wortes Gottes noch lange weiter wirken.


Besondere Bedeutung

Worin liegt die besondere kirchengeschichtliche Bedeutung von Kelly oder – um mit Apg 13,36 zu reden – auf welche Weise „hat er seiner Generation durch den Willen Gottes gedient“?
William Kelly war – wie nur wenige in der Kirchengeschichte - ein „kundiger Schriftgelehrter“
und hatte wie Esra „sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz des Herrn zu erforschen und zu tun und in Israel Satzung und Recht zu lehren“ (Esr 7,6.10). Als er im Alter von 24 Jahren Geschwister aus der Brüderbewegung kennen lernte, war der Frühling dieser Erweckung bereits vorbei und es gab erbitterte Auseinandersetzungen und Spaltungen. Darby war 21 Jahre älter als er. Kelly zählte nicht zu den Pionieren der „Brüderbewegung“, sondern eher zur zweiten Generation. In seinem Dienst gibt es einige Parallelen zu dem des Apostels Johannes, für dessen Schriften er ein besonderes Verständnis von Gott geschenkt bekommen hat. Johannes wurde berufen, als er die Netze ordnete oder ausbesserte, im Gegensatz zu Petrus, der berufen wurde, als er die Netze auswarf. In dem Dienst der beiden Apostel zeigt sich dann, dass es mehr die Aufgabe von Petrus war, die Netze im Reich Gottes auszuwerfen, zu evangelisieren, viele zum Glauben an den Herrn Jesus zu führen.
Der Dienst des Johannes, jedenfalls in seinen neutestamentlichen Schriften, war eher, die
Schäden zu reparieren, gegen Irrlehren vorzugehen, die Familie Gottes in einer Zeit der Anfechtung zu ordnen und zu schützen. Kelly war weniger der Mann, der die große Aufbruchstimmung in den ersten Jahrzehnten der „Brüderbewegung“ miterlebte und prägte, sondern eher derjenige, der das große geistliche Erbe, das Gott dieser Bewegung anvertraute, ordnete, erläuterte und verteidigte. Dies tat er durch die Zeitschriften, die er heraus gab (The Prospect und The Bibl e Treasury), durch seine umfangreichen eigenen Schriften und Vorträge, aber auch, indem er die Schriften Darbys ordnete und herausgab.

Kelly wurde von Gott in eine Zeit heftiger gemeindlicher Auseinandersetzungen hineingestellt.
In der „Brüderbewegung“ gab es die Ideale der Einheit aller Kinder Gottes und der Absonderung
vom Bösen. Viele Auseinandersetzungen haben sich daran entzündet, wie eine ausgewogene
Haltung zwischen diesen beiden Polen gefunden werden konnte. William Kelly scheint in diesem Ringen eine gewisse Balance gefunden zu haben. Jedenfalls ist er vor den Extremen, die sich zu seinen Lebzeiten in der „Brüderbewegung“ entwickelten, bewahrt geblieben. Bei all den negativen
Erfahrungen, die er in den gemeindlichen Auseinandersetzungen gemacht hat, ist er anscheinend
vor Verbitterung bewahrt geblieben und hat seine Hochachtung vor den Personen und den biblischen Wahrheiten, die Gott dieser Bewegung geschenkt hat, nicht verloren. Auch darin kann er uns heute noch ein Vorbild sein.

Nachtext

Quellenangaben

1 H. W. Pontis: William Kelly, Bibelgelehrter und Lehrer, http://soundwords.de/artikeldr.asp id=1575
2 C. H. Spurgeon, Commenting and Commentaries, passim, zitiert in Ouweneel, Het Verhaal van de „Broeders“, Bd. I,
Winschoten, 1977, S. 109
3 Ouweneel, Het Verhaal van de „Broeders“, Bd. I, Winschoten, 1977, S. 123
4 Remmers, A.: Gedenket eurer Führer – Lebensbilder einiger treuer Männer Gottes, Schwelm, 1983, S. 80
5 Kelly-Kollektion, Brief vom 22. 02. 1901, zitiert in Ouweneel, van de „Broeders“, Bd. I, Winschoten, 1977, S. 123
6 zitiert in Ouweneel, van de „Broeders“, Bd. I, Winschoten, 1977, S. 177